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Horizontsverschmelzung, Kontrollanspruch

Zur Einführung in das Denken klassischer Philosophen sind einige Annäherungsformen gebräuchlich. Geeignete Texte werden dem Verständnis der zeitgenössischen Leserinnen (m/w) nahegebracht. Oder dieses Verständnis dient umgekehrt als Ausgangspunkt zur Erschließung der Texte. In dieser hermeneutischen Doppelbewegung soll sich der Auffassungshorizont der Gegenwart an der Überlieferung messen und sie ihrerseits aktualisieren. Anders als ein solcher dialogartiger Ansatz verfährt die systematische Rekonstruktion. Sie ist bestrebt, aus den vorgegebenen Texten den sachlichen Gehalt zu extrahieren. Ihre philosophische Leitvorstellung ist nicht die Horizontverschmelzung, sondern Erkenntniszuwachs durch kritische Diskussion.

Die beiden Zugangsweisen vertragen einander schlecht. Hermeneutikerinnen (m/w) werfen den Analytikern (m/w) Eklektizismus und Borniertheit vor, im Gegenzug wird erwidert, dass sich die verständnisvolle Anverwandlung an entlegene Denkwelten von der Verpflichtung dispensiert, die Wahrheit ihrer Behauptungen nach für uns gültigen Standards zu prüfen. Philosophie würde zum Tourismus durch exotische Territorien. In der Praxis mischen sich die Strategien. Gemeinsam ist ihnen der Vermittlungsanspruch. Sie inszenieren eine Bewegung zwischen fremd und vertraut, vergangen und gegenwärtig. Die (unterschiedlich konzipierte) Dynamik der Interpretation verwickelt beide Seiten in eine produktive Überlappung.


Pädagogische Gesten

Die hier bereitgestellten Beiträge vermeiden zwei verbreitete Effekte einführender Erläuterungen. Erstens wird keine Einschulung in eine spezifische Diktion angeboten. Hegel zu lesen ist eine Kunst und sicher eine unerlässliche Voraussetzung zur Darstellung seines philosophischen Programms. Daraus folgt allerdings nicht, dass sie in Hegelianismen formuliert ist. Detaillierte Textarbeit wird nur im Hintergrund der Themenblöcke sichtbar werden. In den Modulen selber ist sie ausgeblendet. Zweitens - darin liegt die Abgrenzung gegen "logische Rekonstruktionen" - ist nicht beabsichtigt, irritierende und prima vista unverständliche Passagen zu übergehen. Ihr Stachel soll weder durch übertriebene Verständnisbereitschaft kompensiert, noch durch selbstgerechte Ausschließungsverfahren beseitigt werden.

Was folgt für die Beiträge? Es fehlt die hegelsche Sprache, dennoch stellen sie sich der Aufgabe, Hegels philosophische Vorgangsweise am Beginn der "Phänomenologie des Geistes" motivlich unverkürzt darzustellen. Pädagogische Annäherungen an klassische Philosophen sind eine Doppelconferance. Einerseits stellt eine Expertin ein kompliziertes Werk für Lernende fasslich dar, andererseits bedarf sie dazu eines Zugangs zu dessen voller philosophischer Komplexität.

Diese vermittelnde Funktion ist auch eine Art Doppelzüngigkeit. Die Verständlichkeit der Exposition verlangt Abstriche in der Sache, die ihrerseits der eigentliche Zweck der Übung ist. Da es im philosophischen Kontext nicht darum geht, in ein Sprachkorsett zu schlüpfen, sondern Gedanken frei weiter entwickeln zu können, bleibt das Verhältnis unaufgelöst. Zur Einführung wird ein vereinfachtes Bild geboten, das sich sukzessive zu einer sachlich adäquaten Darstellung erweitern soll. Die Lernenden sind mit einer zweifachen Geste konfrontiert: was ihnen angeboten wird, ist (noch) nicht das erwünschte Ziel, jedoch die Lehrerin steht dafür ein, dass es erreichbar sein wird.


Ein Gegenzug

Vermutlich ist das ein unentbehrlicher Zug pädagogischer Prozesse. Er inspiriert aber auch zu einem Gegenzug. Wäre es möglich, von Seiten der Lehrenden die Karten gleich zu Beginn auf den Tisch zu legen, also auf das spannungsreiche Oszillieren zwischen Annäherung und Expertise zu verzichten? Das würde die vertraute Lerndynamik durchkreuzen und das pädagogische Szenario verschieben. Die Studentinnen hätten mit einem Schlag alles in der Hand, nur könnten sie damit nicht umgehen. Pädagogik wäre Beratung, nicht Mystagogie. Der jeweilige status quo der Allgemeinbildung - keine Fachsprache - wäre der Ausgangspunkt und Endpunkt. Wie schwierig und unvorhersehbar die Aneignung des "Stoffgebietes" sein mag, sie eröffnet unter dieser Voraussetzung keine neue Dimension.

Das klingt verrückt. Es ist schwer einzusehen, wozu diese Subversion des etablierten Duktus gut sein soll. Fremdsprachen lernt man ausgehend von simplen Voraussetzungen; die Gesetze der Zellforschung muss man sich sukzessive aneignen. Innerhalb der Philosophie hat dieser Wahnsinn allerdings Methode. Zu ihren seit Platon unterstellten Voraussetzungen gehört, dass die Allgemeinbildung genügt, um in der Sache mitreden zu können. Ihre Themen betreffen - nach diesem Selbstverständnis - alle Menschen, abgesehen davon, ob sie über eine reglementierte Terminologie oder standardisierte Argumentationspraxis verfügen. Darum hielt Sokrates sich am Marktplatz auf und legte sich mit den Sophisten an.

Der Sinn von Wahrheit, Freiheit, Schönheit wird nicht wie eine Fremdsprache gelernt. In diesem Kontext ist das unmittelbare Auftreten des zu diskutierenden Fachthemas denkbar. Explikationen des Wahrheitsbegriffes betreffen nicht primär Eigenschaften, die nur für Fachleute zugänglich sind. Sie sind Beratungen zum Umgang mit einem gedanklichen Konstrukt, das jede kennt. Wenn sie erfolgreich sind, lassen sie sich wieder allgemeinverständlich formulieren.


Chez Wittgenstein

Eine einprägsame Fassung dieser Überlegung gibt Wittgenstein.

Jeder Satz den ich schreibe meint also immer schon das Ganze und es sind quasi nur Ansichten eines Gegenstandes unter verschiedenen Winkeln betrachtet.

Ich könnte sagen: Wenn der Ort zu dem ich gelangen will nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf dahin zu gelangen. Denn dort wo ich wirklich hin muß, dort muß ich eigentlich schon sein. (WA 3, 112. Ms 109, S.207)

Diese Ansicht ist umstandslos verständlich und dennoch erklärungsbedürftig. Solche Konstellationen finden sich in der Philosophie nicht selten. Sie lassen einen unorthodoxen Umgang mit Erziehungsprozessen akzeptabel erscheinen. Die Paradoxie, in welche Wittgenstein die Vorstellung vom linearen Erkenntnisfortschritt verwickelt, ist eine Folge seiner Verweigerung von Pädagogik. Für die Schulphilosophie ergibt das eine unbequeme Situation. Sie spezialisiert sich auf Vermittlungsabgebote hinsichtlich eines Themas, das gar nicht fremd sein soll.

Chez Hegel

Noch nachdrücklicher als Wittgenstein geht Hegel mit diesem Motiv um.

Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist, und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. (WW 3, 24 stw)

So gesehen kann das Ganze als ein Endprodukt erscheinen. "Das Absolute" ist nach dem Durchlaufen aller bedingten Denkfiguren erreicht. Doch das ist eine irreführende Darstellung. Wollten wir uns dem Absoluten kunstvoll annähern, "so würde es wohl, wenn es nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten." (WW 3, 69 stw) Der Bezugsrahmen, in dem philosophische Entwicklung angesiedelt ist, faltet das Ende in den Anfang zurück. Die maßgebliche Erkenntnis ist schon vorhanden. Sie ist kein auffindbares Ding, sondern ein Gedankengang und der ist selber schon die Lösung. Ohne die Stadt Rom gibt es keine Rom-Reise. Dies einmal vorausgesetzt, ist jede Romreise in gewissem Sinn bereits in Rom.

schon bei

Aus diesen Zusammenhängen kann ein permanenter pädagogischer Aufschub abgeleitet werden. "Das Wahre" wird immer erst im nächsten (und übernächsten) Schritt sichtbar. Oder die Sache zeigt sich umgekehrt. Das erstrebte Ziel ist immer schon zugänglich, der Unterschied liegt nur im Betrachtungswinkel. Eine solche Einstellung zu Hegel muss die Idiosynkrasien seiner Systembildung ausser Kraft setzen und darauf achten, worin seine Problemauffassung sich mit der Wahrheit aus Sicht der Leserinnen trifft. "Das Absolute ist schon bei uns" besagt: es ist auch schon bei ihnen. Sie können einen Zugang verfehlen, aber im Prinzip sind sie unterwegs auch schon zu Hause.

Die Einstellung hat einen frivolen Zug. Man könnte sich auf sie berufen, um sachfremde Willkürlichkeiten durchzubringen. Die Kehrseite davon ist ein befreiendes Moment. Wer in der Philosophie einen Erkenntnisstand ausbuchstabiert, partizipiert am Ganzen. Vielleicht gibt dieses Alltagsbeispiel einen Geschmack davon: Ab dem Augenblick des Eintretens in den Vertrag gilt der gesamte Versicherungsschutz.



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