Nachbarn als Wilde?

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Es wäre ein erhebliches Mißverständnis, wollte man Toleranz mit dem wechselseitigen Respekt gleichberechtigter Partner, d. h. mit Gerechtig­keit oder dem kontraktualistischen Prinzip der Fundierung des Staates im Gesellschaftsvertrag parallelisieren. Das hätte nämlich zur Voraussetzung, die Fremdheit gleichsam wie die Haupterfahrung und Grundgegebenheit in alles soziale Leben einzubauen. Eine solche Annahme mag heuristisch förderlich sein, um das methodische Erfordernis des Handlungsverste­hens zu schärfen. Sie verhindert aber geradezu die Institutionalisierung, die im Namen gesellschaftlicher Ordnung und sozialer Verläßlichkeit ver­langt werden muß.

"Haupterfahrung" und "einbauen". Man kann darüber diskutieren, ab Fremdheit die (eine ?) Haupterfahrung sein kann. Dass sie in eine Theorie des sozialen Lebens einzubauen ist, scheint doch sehr plausibel. Und der Ansatz beim freundlichen Entgegenkommen (Tugend) scheint ausgesprochen eng.

Die neuere Entwicklung der holistischen Semantik (Quine, Davidson), ebenso wie die auf Fremdverstehen eingerichtete Methodologie einer ra­dikal hermeneutischen Soziologie (Winch) arbeiten bevorzugt mit der Fiktion eines ethnologischen Feldforschers, der einer völlig fremden Sprache gegenübersteht und sich nun der Anstrengung einer ursprünglichen Über­setzung ausgesetzt sieht. Die ungewöhnliche Stellung eines hinzutretenden Neulings in einer Lebenswelt, die ihm kraft ihrer institutionalisierten Geschlossenheit fremd vorkommen muß, charakterisiert die Ursituation des ersten Eindringens in den Gesamtzusammenhang einer Sprache, und damit einer Lebenswelt. Die Situation erzwingt eine Reflexion darauf, daß der Forscher in seiner Heimat ein für selbstverständlich genommenes Sy­stem von Regeln und Gewißheiten hinter sich gelassen hat. Der Verlust impliziert einen Zuwachs an Klarheit über die eigene Lage.

Die Pointe Davidsons ist nicht die Reflexion auf eigene Voraussetzungen, sondern der Hinweis, dass die Flexibilität solcher Voraussetzungen nötig ist, um Fremdes zu verstehen. Und dieses Fremde kann jederzeit innerhalb der eigenen Sprache auftreten.

Dieses ethnologische Spiel an den Bruchzonen der Zivilisation läßt sich nicht sinnvoll auf die heutige politische Landkarte übertragen, wo Tole­ranz gefordert ist. Fremde Sprachen kann man lernen, und in der »Wildnis« kann man sich sukzessive zurechtfinden. Im übrigen dürfte es auf dem ganzen Globus keine im eigentlichen Sinne »weißen Flecken« mehr geben, wo die wissenschaftlich-technische Zivilisation des Westens nicht Eingang gefunden hat. In der Lage gibt es, streng genommen, gar nichts zu tolerieren. Höchstens wird man annehmen, daß jener Ethnologe als neugierig hinzutretender Fremder von der Gesellschaft, der er nicht angehört, geduldet werden muß. Wechselseitigkeit wäre da eine unpassende Kategorie.

Bubner übersieht, dass das Quine-Davidson-Motiv von Tarski abzuleiten ist. Es geht um das Verhältnis von Objekt- und Metasprache, sowie um die Klärung der Frage, worin unser eigenes Sprachverstehen besteht. Die Theorie dieses Sprachverstehens (nicht seine Praxis) ist angewiesen auf die Konstruktion des Nichts-Verstehens. Anders kann man Verstehen gar nicht eingrenzen. Wittgenstein: Verstehen ist das Korrelat einer Erklärung und das heißt, einer Erläuterung nach einer Frage. Insofern ist Unverständnis aus dem Zentrum der Verstehensdebatte nicht wegzudenken.

Michael Walzer schreibt über Einwanderungsgesellschaften wie Ame­rika. "Die Bürger sind als Individuen dazu aufgefordert, einander als In­dividuen zu tolerieren." Dies kann schwerlich die Beschreibung der Re­lation sein, die amerikanische Bürger als solche zueinander aufbauen und möglichst konstant erhalten, auch wenn sie aus fernen Gegenden irgendwann einmal eingewandert sind. Die Prägungen, die an die Herkunft erinnern und Differenzen zum amerikanischen Bürgerstatus fixieren, müs­sen natürlich auf dem Boden des Gelobten Landes in die zweite Linie zurücktreten. Folklore, Sentimentalität, Gruppengefühle der Minoritä­ten, Gesänge, Speisen und Feste – jawohl. Aber doch nicht die Toleranz des WASP (White AngloSaxon Protestant) gegenüber dem Schwarzen und umgekehrt, die Toleranz des Indianers gegenüber dem Ostjuden und umgekehrt, die Toleranz der Hispanics gegenüber den Asian Americans und umgekehrt. Die Auflösung einer funktionierenden Massengesellschaft in eine unübersehbare Reihe wechselseitiger Duldungsakte stellt die Dinge auf den Kopf.

Vielmehr sind alle miteinander durch elementare Eingliederungsvor­schriften auf die bindende Verfassung verpflichtet und mit der National­hymne als Symbol der Einheit vertraut. Sie alle nehmen am amerikani­schen Traum eines neuen Lebens teil, stehen gemeinsam Glück und Un­glück durch, streben zum Aufstieg in den Mittelstand und ziehen, wenn nötig, auch in den Krieg, den Amerika meist im Namen der eigenen Demokratiewerte führt. Toleranz ist kein neues Wort für wechselseitigen Respekt als Bürger und für politisch konstitutive Anerkennung der Gleichheit. Zwar mag der Grad an Differenzierung durch die allmähliche Auflösung der Kohäsion der Großfamilien zugunsten eines Ideals indivi­dueller Selbstverwirklichung gestiegen sein, so daß an die Stelle mitge­brachter kultureller Überlieferungen neue Koalitionen und Loyalitäten im Milieu des kulturellen »Überbaus« treten (neue Sekten, Feminismus, Gay Rights Movement etc.).

Aber das alles – so wichtig und belehrend dessen Beobachtung sein mag – verändert die Legitimitätsbasis nicht derart, daß wir darin übereinkommen, einander fremd zu sein und bleiben zu wollen, wie wir anfäng­lich im Modell des Gesellschaftsvertrags darin übereingekommen waren, uns zusammenzufinden und kraft dessen eine politische Einheit zu schaf­fen. Das Beharren auf Differenz und das Lob der Alterität verlängert im Geiste der ethnologischen Forscherfigur, die oben erwähnt wurde, den Naturzustand in die Gesellschaftsbildung hinein. Wir fallen künstlich zurück auf Stufen, die wir überwunden glaubten. Das Bekannte verfrem­det sich, der Nachbar wird zum Wilden, die Urstiftung einer kulturellen und politischen Synthese steht ständig neu zur Disposition.

Problematisch bei Bubner ist weniger der Umstand, dass er ein Gedankenexperiment wörtlich nimmt und die Aussage Davidsons durch den Hinweis auf die globalisierte Gesellschaft entkräften will. Unrichtig ist vielmehr, Davidson zu unterstellen, dass er einer symmetrische Fremdheit das Wort redet. Davidson besteht im Gegenteil auf der eigenen Sprache. Und er überlegt sich, welchen Bedingungen das eigene Sprachverständnis unterliegt, um Sprachverständnis sein zu können.




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