Handout - Elisabeth Nemeth (13.11.)

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ÜBERSICHT: 1. „Der philosophieren lernen will, darf alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objekte seines philosophischen Talents.“ (Immanuel Kant 1724-1804) 2. Die Geschichte der Philosophie ist ein Steinbruch, der zur Klärung heutiger philosophischer Fragen verwendet werden soll. (Ernst Tugendhat, geb. 1930) 3. Die Einführung in die Philosophie einer vergangenen Epoche soll „das Erkennen fruchtbarer, weil mehrdeutiger Situationen“ lehren. (Kurt Flasch, geb. 1930)

TEXTAUSSCHNITTE:

Immanuel KANT: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Akademie-Ausg. Bd.IX, S.21-25 Der gesamte Text von Kants Logik ist im Internet abrufbar unter http://www.textlog.de/kant-logik-philosophie.html

Aus der Einleitung: III. Begriff von der Philosophie überhaupt

Es ist zuweilen schwer, das, was unter einer Wissenschaft verstanden wird, zu erklären. Aber die Wissenschaft gewinnt an Präzision durch Festsetzung ihres bestimmten Begriffs, und es werden so manche Fehler aus gewissen Gründen vermieden, die sich sonst einschleichen, wenn man die Wissenschaft noch nicht von den mit ihr verwandten Wissenschaften unterscheiden kann.

Ehe wir indessen eine Definition von Philosophie zu geben versuchen, müssen wir zuvor den Charakter der verschiedenen Erkenntnisse selbst untersuchen, und, da philosophische Erkenntnisse zu den Vernunfterkenntnissen gehören, insbesondre erklären, was unter diesen letztern zu verstehen sei.

Vernunfterkenntnisse werden den historischen Erkenntnissen entgegen gesetzt. Jene sind Erkenntnisse aus Prinzipien (ex principiis); diese Erkenntnisse aus Daten (ex datis). — Eine Erkenntnis kann aber aus der Vernunft entstanden und demohngeachtet historisch sein; wie wenn z. B. ein bloßer Literator die Produkte fremder Vernunft lernt: so ist sein Erkenntnis von dergleichen Vernunftprodukten bloß historisch.

Man kann nämlich Erkenntnisse unterscheiden

1) nach ihrem objektiven Ursprunge, d. i. nach den Quellen, woraus eine Erkenntnis allein möglich ist. In dieser Rücksicht sind alle Erkenntnisse entweder rational oder empirisch;

2) nach ihrem subjektiven Ursprunge, d. i. nach der Art, wie eine Erkenntnis von den Menschen kann erworben werden. Aus diesem letztern Gesichtspunkte betrachtet sind die Erkenntnisse entweder rational oder historisch, sie mögen an sich entstanden sein, wie sie wollen. Es kann also objektiv etwas ein Vernunfterkenntnis sein, was subjektiv doch nur historisch ist.

Bei einigen rationalen Erkenntnissen ist es schädlich, sie bloß historisch zu wissen, bei andern hingegen ist dieses gleichgültig. So weiß z. B. der Schiffer die Regeln der Schifffahrt historisch aus seinen Tabellen; und das ist für ihn genug. Wenn aber der Rechtsgelehrte die Rechtsgelehrsamkeit bloß historisch weiß: so ist er zum echten Richter und noch mehr zum Gesetzgeber völlig verdorben.

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft (B 864f.) Daher hat der, welcher ein System der Philosophie, z.B. das Wolfische, eigentlich gelernt hat, ob er gleich alle Grundsätze, Erklärungen und Beweise, zusamt der Einteilung des gesamten Lehrgebäudes, im Kopfe hätte, und alles an den Fingern abzählen könnte, doch keine andere als vollständige historische Erkenntnis der Wolfischen Philosophie; er weiß und urteilt nur so viel, als ihm gegeben war. Streitet ihm eine Definition, so weiß er nicht, wo er eine andere hernehmen soll. Er bildete sich nach fremder Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d.i. das Erkenntnis sprang ihm nicht aus Vernunft, und, ob es gleich, objektiv, allerdings ein Vernunfterkenntnis war, so ist es doch, subjektiv, bloß historisch. Er hat gut gefasst und behalten, d.i. gelernt, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen. Vernunfterkenntnisse, die es objektiv sind, (d.i. anfangs nur aus der eigenen Vernunft des Menschen entspringen können,) dürfen nur dann allein auch subjektiv diesen Namen führen, wenn sie aus allgemeinen Quellen der Vernunft, woraus auch die Kritik, ja selbst die Verwerfung des Gelernten entspringen kann, d.i. aus Prinzipien geschöpft werden.

Aus dem angegebenen Unterschiede zwischen objektiv und subjektiv rationalen Erkenntnissen erhellt nun auch, daß man Philosophie in gewissem Betracht lernen könne, ohne philosophieren zu können. Der also eigentlich Philosoph werden will, muß sich üben, von seiner Vernunft einen freien und keinen bloß nachahmenden, und, so zu sagen, mechanischen Gebrauch zu machen.



Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, d. i. einen absoluten Wert. Und wirklich ist sie es auch, die allein nur innern Wert hat, und allen andern Erkenntnissen erst einen Wert gibt.

Man fragt doch immer am Ende, wozu dient das Philosophieren und der Endzweck desselben — die Philosophie selbst als Wissenschaft nach dem Schulbegriffe betrachtet?

In dieser scholastischen Bedeutung des Worts geht Philosophie nur auf Geschicklichkeit; in Beziehung auf den Weltbegriff dagegen auf die Nützlichkeit. In der erstem Rücksicht ist sie also eine Lehre der Geschicklichkeit; in der letztern eine Lehre der Weisheit….

Der Vernunftkünstler, oder, wie Sokrates ihn nennt, der Philodox, strebt bloß nach spekulativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er gibt Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken. Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt.

Zur Philosophie nach dem Schulbegriffe gehören zwei Stücke: Erstlich ein zureichender Vorrat von Vernunfterkenntnissen; — fürs andre: ein systematischer Zusammenhang dieser Erkenntnisse, oder eine Verbindung derselben in der Idee eines Ganzen. …

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft (B 868) Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert; mithin bestimme ich die Absicht einer Wissenschaft nach Schulbegriffen, wenn sie nur als eine von den Geschicklichkeiten zu gewissen beliebigen Zwecken angesehen wird.

Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unsrer Vernunft nennen, so fern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht. …

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) as kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?



Ernst TUGENDHAT: „Anhang über Historisches und Unhistorisches“, in: Egozentrizität und Mystik, München 2000 (S.163-170), S.165:

Diese Unterscheidung zweier Arten sich auf Historisches zu beziehen, gründet in einer grammatischen Unterscheidung. Eine Person A, also z.B. ein früherer Philosoph, hat das und das gesagt oder geschrieben. Nennen wir es p. B, der Historiker oder heutige Philosoph, hat nun zwei Möglichkeiten, sich darauf zu beziehen. Er kann berichten, was A gesagt hat, und dazu gehört auch dessen eigene Begründung von p. B kann aber auch selbst fragen, ob p begründet ist. Die erste Möglichkeit ist, was ist die Perspektive der 3.Person nenne: ‚3.Person’, weil B dann über die Meinungen und Begründungen von A spricht. Die andere Möglichkeit ist, was ich die Perspektive der 1. Person nenne: ‚1.Person’, weil es für B dann nicht sosehr darum geht, was A gesagt hat und warum er (A) es für begründet hält, sondern er selbst (B) möchte wissen, ob es wahr ist. Das setzt natürlich voraus, dass B sich auf dieselbe Sache (denselben propositionalen Gehalt) beziehen kann wie A, also in dieser Hinsicht eine Ort- und Zeitlosigkeit. Es handelt sich um eine Gabelung, die grundsätzlich zu der Art gehört, wie ein Mensch das aufnehmen kann, was ein anderer sagt. Entweder er ist nur an dem Faktum interessiert, dass der andere p gesagt hat, oder, in der anderen Perspektive, ist es nebensächlich, dass es dieser andere war, und es kommt für ihn auf p an und ob p begründet ist. Eine Begründung gehört, wenn wir es z.B. mit einem philosophischen Text zu tun haben, gewöhnlich auch schon zu diesem selbst, und die Differenz der beiden Perspektiven wird in diesem Fall noch deutlicher. Betrachtet B den Text aus der Perspektive der 3.Person, wird er die Begründung von A, da sie ja ein Teil des Textes ist, mit aufnehmen, aber er fragt sich, ob die Begründung triftig ist. In 3.Person ist B an A interessiert und an p nur, insofern es von A gesagt wurde, also in indirekter Rede; in 1.Person ist er nicht an A interessiert, sondern an p. S.166: … Ein Philosoph ist nicht jemand, der in einer bestimmten Überlieferung steht, sondern der bestimmte Sachfragen stellt. Den früheren Philosophen wendet er sich nur in dem Maße zu, in dem er glaubt, dass er bei ihnen etwas über diese Sachen lernen kann, und d.h., er verhält sich zu ihnen aus der Perspektive der 1.Person. Das heißt nicht nur, dass er ,was er bei einem Philosophen findet, auf seine Triftigkeit befragen wird, sondern dass er sich nur auf diejenigen Gedanken dieses Philosophen einlassen wird, die ihm wichtig erscheinen. Häufig muss man in Personalunion Philosoph und Historiker sein, weil man weiß, dass wenn man den Gedanken des Philosophen nicht in seinen Zusammenhängen nachgeht, einem Wichtiges entgehen kann, aber was man sich so in der Perspektive der 3.Person erarbeitet, ist nur die Grundlage.




Kurt Flasch: Wozu erforschen wir die Philosophie des Mittelalters? In: W.Vossenkuhl / R.Schönberger (Hg): Die gegenwart Ockhams, Weinheim 1990, S.393-409 Kurt Flasch. Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987


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