Gegenkulturen. Davidsons Thesen angewandt auf Toleranz

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Die aktuellste Verwendung des Toleranzbegriffes ist das US- amerikanische ,,zero tolerance``-Prinzip. Die Polizei schreitet beim geringsten Anlaß ein. Diese Entwicklung wirft ein schiefes Licht auf das Ideal des verständnisvollen Umgangs mit Andersartigkeit und Grenzverletzung, wie es im Repertoire der aufgeklärten Bildungselite vorzufinden ist. Die für den Polizeieinsatz vorgebrachte Begründung besagt, daß halbherzige Maßnahmen Verwirrung stiften und letztlich sogar den Gewaltpegel steigern. Wie dem auch sei, eines ist sicher richtig: Toleranz ist eine Kompromißform, ein Zwischending aus Überzeugung und dem Verzicht auf Überzeugung. Franz Wimmers Einleitung in einer IWK-Publikation zum Thema spiegelt die milde Schizophrenie der betreffenden Einstellung.


      Abstrakt genommen müßten Menschen, die unterschiedliche Religionen vertreten, einander notwendig tolerieren, weil
      keiner von ihnen etwas anderes als die innere Überzeugung für die Richtigkeit seiner Glaubenswahl anführen kann ...
      Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache, Ethnie oder Tradition ist für den einzelnen theoretisch natürlich genau­
      sowenig ein Argument, andere zu verachten oder deren Anders­sein nicht zu tolerieren.  (-- Franz Wimmer: Toleranz --
      Eine überholte Forderung? Eine Einleitung. In Toleranz -- Minderheiten -- Dialog. Mitteilungen des Instituts für Wis­senschaft 
      und Kunst 53/4 (1998). S. 2--)


Schön ist zu sehen, wo der Hebel angelegt wird. Gesetzt, Herkunft und Überzeugung jeder Person seien prinzipiell relativierbar. Dann fehlt die theoretische Basis des Hegemonieanspruches; Toleranz ist die plausible Konsequenz. Aber diese Voraussetzung ist fragwürdig. Der gewünschte Effekt wird teuer bezahlt. Wenn alles gleich gut ist, fehlt überall ein Schwerpunkt.


Darum fährt Franz Wimmer fort:


      Doch geraten wir hier in ein Dilemma: das Eigene, mit dem wir uns identifizieren, können wir nicht leichthin 
      rela­tivieren. Doch kann, um der leidigen Alternative der Intol­eranz zu entgehen, der Dialog gesucht und wo immer möglich
      praktiziert werden. (-- a.a.O.--)


Diese Zeilen geben die Halbherzigkeit wieder, mit der sich die Mehrzahl der europäischen Intellektuellen in Wahrheitsfragen eingerichtet hat. Sicher, jede Stellungnahme kommt aus einer ganz spezifischen Position. Das ist schon darum wichtig, weil die Sprecherinnen nicht in der Masse untergehen wollen. Doch andererseits herrscht Toleranz: jede soll sagen können, was sie denkt und keiner kann dem anderen das Recht auf seine Sache absprechen. Leben und leben lassen, ein durchaus angenehmer Zustand. Nur leider: das gilt nur bei gutem Wetter. Das Leben ist auch ein Verdrängungswettkampf und die Personen, die sich nicht an ihre Hausmacht halten, sind oft die Dummen. Die Kritik des Toleranzgestus geht noch tiefer. Die eben heraufbeschworene Dummheit erweist sich, bei näherer Prüfung, in vielen Fällen als die überlegene Einstellung. Offenheit und Lernfähigkeit übertrumpfen Dogmatismus. Und darin kann man erst recht ein Gegenargument gegen die Fürsprecher der Toleranz machen. Nur wenn es mir nicht an den Kragen geht, eröffnet sich die Freiheit, vom Andersartigen zu profitieren. Toleranz ist ein Erfolgsrezept für Besserverdienende, denen eine normverbürgte Leitkultur eher als Hindernis erscheint. Soweit eine grobe, polemisch pointierte Glosse zum Toleranzbegriff. Der Rest des Vortrags untersucht, ob eine prägnante Denkfigur, die Donald Davidson in die Philosophie eingeführt hat, in dieser Kontroverse weiterhilft.


Eine Satzprobe

Am Anfang stand Tarskis Illustration des Kriteriums zur Abschätzung der Korrektheit seiner Wahrheitsdefinition. Die Definition muß so beschaffen sein, daß sie Sätze der Form ,, ,Schnee ist weiß` genau dann, wenn Schnee weiß ist`` generiert. Solche Formulierungen erfassen -- so Tarski -- die Intuition, die unserem Wahrheitsverständnis zugrunde liegt. Donald Davidson hat sich der damit vorgegebenen Struktur bedient, um, in Abkehr von Quines Verdikt, Bedeutungen zu rehabilitieren. Ganz kurz gesagt: Es handelt sich um Konstrukte, die Sprecherinnen einsetzen, um den internen Kohärenzzusammenhang fremdartiger artikulierter Zeichenproduzenten systematisch zu erfassen. "Ein akustisches Ereignis des Typus ,,[sne:]`` bedeutet, was wir Schnee nennen, wenn es in den zu untersuchenden Sätzen mehr oder weniger demselben logischen Muster folgt, wie in unseren Übersetzungen. Diese einflußreiche These ist nicht der Gegenstand der folgenden Ausführungen. Stattdessen werde ich an Davidson geschulte Konsequenzen aus einem Übungssatz ziehen, der dazu dienen kann, das Verhältnis von Wahrheit, Interkulturalität und Toleranz zu verdeutlichen. Vorweg noch eine Warnung. Quines ,,radical translation`` und Davidsons ,,radical interpretation`` sind Gedankenexperimente, die Interpretationen vor konstruktionsgemäß unverständliche Zeichenfolgen stellen. Nur so lassen sich die unentbehrlichen Bestandteile des Fremdverstehens herausarbeiten. Davidsons Resultate behalten ihre Gültigkeit auch wenn sich herausstellt, daß alle Beispiele, die seine Thesen plausibel machen, aus Sprachzusammenhängen stammen, in denen bereits Verstehen herrscht. Im Folgenden wird gezielt ein ökumenisch brisanter Satz formuliert, der die Last der Toleranzdebatte tragen kann. Er wird Regeln unterworfen, die Davidson für die ,,radical translation`` aufgestellt hat. Die Idee ist, daß elementare Einsichten in die Methodologie der Bedeutungszuschreibung ein Korrektiv für das schlampige Wohlbefinden sind, in dem die genannten europäischen Intellektuellen gerne verweilen.

Die folgende Aussage klingt wie ein nutzloser Leerlauf:


Der Zweck des Trauergottesdienstes für die Opfer des Seilbahnunglücks von Kaprun ist die Feier eines Trauergottesdienstes.[1]


Die strukturelle Ähnlichkeit mit dem Tarski-Satz, der ebenfalls dem Tautologieverdacht unterliegt, besteht darin, daß ein Sprachsegment, in diesem Fall ,,Trauergottesdienst``, durch die Verwendung eines gleichlautenden Ausdrucks erklärt wird. Was soll das helfen? Wer das Wort kennt, erfährt nichts Neues und wer es nicht kennt, bleibt im Dunkel. Das ist ein ganz verkehrter Einwand. Der Satz exemplifiziert zentrale Aspekte des Umgangs mit Lebensordnungen, Fremdheit und Relativismus. Um seine Funktionsweise herauszupräparieren, sind allerdings zunächst zwei unzureichende Interpretationen abzuwehren.

  1. Die eine Deutung liest den Satz als eine Selbstbestätigung im Sinn von "Wir sind wir!". Der Gottesdienst wird gefeiert, weil in dieser Situation ein Gottesdienst zu feiern ist. Das sagt etwa der Pressereferent des Erzbischöflichen Ordinariats. Die Praxis spricht für sich. Ein solcher Umgang mit Gepflogenheiten ist nicht verkehrt, allerdings auch nicht unproblematisch. Die Verdoppelung zeigt es schon: der einfache Satz genügt nicht.
  2. Die Hierarchie im Satz, die Erläuterungsabsicht, deutet auf eine zweite Lesart. Diese Version stellt man sich am Besten so vor, daß das erste Vorkommen von ,,Trauergottesdienst`` -- wie Tarskis Satz der Objektsprache -- unter Anführungszeichen steht. Jemand fragt danach, welchen Zweck die angekündigte Veranstaltung erfüllen soll. Die Antwort: den Zweck eines Trauergottesdienstes. Hier wird damit gespielt, daß ein zitierter Ausdruck alles Mögliche bedeuten kann.

Wenn Sprachausschnitte einmal isoliert und in Anführungszeichen gesetzt sind, haben sie die Selbstverständlichkeit verloren, Bedeutungen mitzuteilen. Selbst ,,Trauergottesdienst``, das Wort, das wir verwenden, um die betreffende Praxis zu bezeichnen, ist in der beschriebenen Position bedeutungslos und könnte im Prinzip auch als Fernsehspiel übersetzt werden. Gemäß der 2. Deutung insistiert der Übungssatz darauf, ein ,,Trauergottesdienst`` sei kein Fernsehspiel.

Das schließt, im Gegensatz zur ersten Interpretation, das Zugeständnis ein, daß die Veranstaltung so mißverstanden werden könnte. Es gibt keine Garantie dafür, daß ,,Trauergottesdienst`` nicht Pressekonferenz oder alpenländisches Bankett bedeutet. Diese Sichtweise ist in akademischen Kreisen populär. Die Selbstverständlichkeit des Herkömmlichen wird distanziert, um für alternative Deutungen Platz zu schaffen. Ein ehrenwertes Motiv ist die Kritik am unreflektierten Verhalten, das den Deutungsanspruch unwillkürlich monopolisiert. In diesem Licht betrachtet lautet die indirekte Mitteilung des Satzes eigentlich ,,Ein Trauergottesdienst ist kein Trauergottesdienst``. Oder, wenn Sie es weniger paradox wollen: die Verwendung des selben Wortes verbürgt kein Einverständnis. Wozu sollen diese Verrenkungen gut sein? Sie führen schnurgerade in die Mitte des Toleranzproblems.

Die evangelische Superintendentin hört ,,Trauergottesdienst`` und denkt an Trauergottesdienst, nämlich die Feier, die in ihrer Kirche üblich ist. Dasselbe tut der Erzbischof und plötzlich wird die scheinbare Tautologie zum Auslöser eines Konflikts. Jede Partei versteht unter dem Wort ihren Trauergottesdienst. Die Formulierung des Übungssatzes erweist sich an dieser Stelle als erster Schritt zum gesellschaftlichen Disput. Indem sie ein Verhältnis zwischen der Nennung und dem Gebrauch eines Sprachausdrucks statuiert, eröffnet sie den Rahmen, in dem es ein umstrittener Ausdruck sein kann. Das Zitat einer Selbstverständlichkeit ist schon ein wenig von der gelebten Selbstverständlichkeit entfernt. So erlaubt unser Beispiel, sprachanalytisch eine Auseinandersetzung zu modellieren, die sich zwischen Katholiken und Protestanten entwickelt. Es geht um ,,Trauergottesdienst``, zweimal wird dasselbe Wort verwendet. Würde eine Partei von ,,Gedenkstunde`` sprechen, entstünde kein Problem. Und: dieser Terminus wird auf unterschiedliche, ja einander ausschließende, praktische Kontexte einbezogen. Die Konsequenzen sind bekannt. Sowohl sprachanalytisch, als auch kirchenpolitisch legt sich das Toleranzprinzip nahe. Man sollte nicht um Worte streiten, sondern einfach die Terminologie entsprechend ändern. Dann herrscht friedliche Koexistenz. Demgegenüber ist das Beharren auf der ersten Lesart Zeichen einer starren, dogmatischen Geisteshaltung; eine Rückkehr in die Mentalität der Religionskriege.

Nach diesem Muster wird die Auseinandersetzung zwischen liberalen und konservativen Kräften in der Gesellschaft in der Regel wahrgenommen. Das Schlagwort lautet ,,Unnachgiebigkeit oder Dialogbereitschaft``. Es steht außer Zweifel, daß der moderne Staat auf zahllosen Kompromissen beruht, die sich durch die gezielte Entschärfung potenziell destruktiver Konflikte zwischen Interessensgruppen auszeichnen; also z.B. durch einen ökumenischen Gottesdienst. So gesehen sind die Fronten deutlich: der Erzbischof ist beklagenswert intolerant. Dieses Urteil geht der Sache nicht auf den Grund. Es hängt sich an den Marktwert von Termini wie ,,Flexibilität``, ,,Modernität``, ,,Individualität`` und verfehlt entscheidende Gesichtspunkte der Gegenseite. Auf die Gefahr hin, revisionistisch zu erscheinen, soll im Folgenden die Position des Erzbischofs möglichst stark gemacht werden. Erinnern Sie sich, das Beispiel ist der Alltagspolitik entnommen, wird aber mit dem methodologischen Elan der ,,radical interpretation`` diskutiert. Das heißt, ein Konflikt, der konsensuell lösbar wäre, wird so verschärft, als könnten die Kontrahenten sich überhaupt nicht verstehen. Das Ergebnis ist entsprechend forciert -- und doch auch nicht. Toleranz ist einfach, wenn es nicht um die Wurst geht. Sie muß am Ernstfall, am Verständnisabbruch gemessen werden. Der Übungssatz enthält das dazu nötige Instrumentarium.

  1. Das Beispiel bezieht sich auf eine faktische Kontroverse: http://religionv1.orf.at/projekt02/news/0212/ne021230_eder_fr.htm

Unterstellung

Die Doppelverwendung von ,,Trauergottesdienst`` enthält eine methodologische Pointe, die über die genannte Ermöglichung von Dissens hinausgeht. Um weiter zu kommen, muß man die Phrase sorgfältig auseinandernehmen. Die gedankliche Spannung entfaltet sich erst, wenn der Satz als eine Verschachtelung objekt- und metasprachlicher Operationen begriffen wird. Unter dieser Perspektive kondensiert sich in ihm eine Abfolge distinkter Schritte.


  • er sagt etwas über ein erläuterungsbedürftiges Wort
  • er bedient sich dabei der Hilfe von verständlichen Worten einer (Meta-)Sprache
  • dabei ergibt sich, daß die Antwort auch das Wort enthält, nach dessen Bedeutung gefragt war

Warum Trauergottesdienst? -- Weil ein Trauergottesdienst angebracht ist. Alles hängt daran, zu verstehen, in welchem Sinn dieses Verfahren nicht zirkulär ist. Nur so ist der Spiegelfechterei zwischen den Fürsprechern der Toleranz und den Verfechterinnen der Prinzipientreue zu entkommen. Der Zirkel besteht nicht, denn die Worte liegen auf zwei verschiedenen Sprachebenen. Das eine Mal handelt es sich um einen aufgegriffenen Terminus, das andere Mal um den Gebrauch eines Ausdrucks. Zuerst die separierte Zeichengestalt, dann die Erklärung. Die Rafinesse des Satzes läßt sich so explizieren. Als Zweck des ,,XYZ`` wird eine bestehende Praxis, die Institution, die wir mit Trauergottesdienst bezeichnen, angegeben. Das Vorgehen ist so wenig zirkulär, wie die Mitteilung ,, ,funeral service` heißt Trauergottesdienst``. Eine Wortform, respektive ein mit ihr gekoppelter Zweck, wird ins Verhältnis zu einer sprachlich artikulierten Lebensform gesetzt.

Natürlich drängt sich der Einwand auf, daß es sich dabei, wenn schon nicht um plumpe Wiederholung, so doch um eine hochtrabende Fassung der erstgenannten, sozusagen ethnozentrischen Lesart des Übungssatzes handelt. Im Endeffekt wird doch auch in dieser Analyse das Verständnis eines -- kurzfristig als fremd erscheinenden -- Ausdrucks mit dem bereits vorausgesetzten Verständnis dieses Ausdrucks kurzgeschlossen. Was ist damit gewonnen, daß die fraglose Selbstherrlichkeit um diese Variante der reflektierten Selbstherrlichkeit ergänzt wird? Antwort: Das macht einen Riesenunterschied. Es ist genau die Teilung in Objekt- und Metasprache, die einerseits die Unhintergehbarkeit der Sprachpraxis (also der Basis der Selbstherrlichkeit), und andererseits deren ständig zu gewärtigende Störung aufdeckt. Das Mittelglied zwischen Sätzen mit einfachem Geltungsanspruch und Sätzen, in denen gleichklingende Worte auf unvereinbare Weise verwendet werden, sind jene Sätze, in denen die Erwartung, ein Wort hätte eine bestimmte Bedeutung, sich tatsächlich erfüllt.


Provokation

Der Übungssatz dient zur Stützung einer anspruchsvollen hermeneutischen These. Sie besagt, daß es ohne Sprachpraxis, also ohne das vorausgesetzte Einvernehmen einer real existierenden Sozietät, nichts zu verstehen gibt. Der einzige Weg, mit der Lautfolge ,,Trauergottesdienst`` Sinn zu verbinden, liegt darin, sie für Sprecherinnen (m/w) auf der Basis ihrer Sprachkompetenz vernünftig abschätzbar zu machen. Um die allzu aktuellen Konnotationen auszublenden, hier ein modifiziertes Beispiel, das eher an die ,,radical translation`` erinnert. Was heißt die Buchstabenkette ,,PCMCIA``? Natürlich ist es pädagogisch absurd, zu antworten: ,, ,PCMCIA` bedeutet PCMCIA``. Aber in dieser Zumutung steckt eine unentbehrliche Einsicht. Alles, was wir vorbringen können, um einer Person, die nicht mit einem solchen Acronym vertraut ist, die Sache zu erklären, kommt auf irgendeine Weise darauf hinaus, ihr nahezubringen, wie wir den Terminus gebrauchen. Der Witz des Satzes liegt darin, daß das erste Vorkommen von ,,PCMCIA`` quasi leer im Raum steht, während das zweite Verständnis einfordert.

Plausibler ist eine Erläuterung der Form ,, ,PCMCIA` steht für Personal Computer Memory Card Interface Association.`` Sie erweist den Ausdruck als Abkürzung für einen Bestandteil der Computerperipherie. Das klingt bedeutend besser, aber wir sind, genau betrachtet, kaum weiter als mit der vorhergehenden Formel. Wer sagt uns denn, daß ,,PCMCIA`` nicht für ,,People Can't Memorize Computer Industry Acronyms`` steht? Abstrakt gesprochen läßt sich alles Mögliche zur Deutung vorbringen. ,, ,PCMCIA` heißt PCMCIA`` ist bloß besonders ungeschickt. Die Funktionsweise des zweiten Vorkommens gleicht der Funktion der anderen Paraphrasen. Bedeutung wird mit Hilfe eines passenden Kontexts festgelegt. Um dem Beispiel seine paradoxen Flair zu nehmen, muß man sich nur vorstellen, daß westeuropäischen Computerexpertinnen eine entsprechende kyrillische Inschrift erklärt wird.

Mit dieser Wendung scheinen wir uns allerdings weit vom Dogmatismus entfernt zu haben, dessen teilweise Rehabilitation angekündigt war. Die Bedeutung des Acronyms ändert sich je nach den Umständen. Damit wird der Wortgläubigkeit gerade der Boden entzogen. Relativistischer geht es doch gar nicht! Ja, und genau das erzwingt den Umschlag zugunsten einer Art von Bedeutungsintegralismus. Zwei Punkte sind festzuhalten. Erstens kommt keine Deutung zustand, wenn Sprecherinnen beliebige Assoziationen mit Buchstaben verbinden. Interpretationen sind Stellungnahmen. Und zweitens trügt der Anschein, als könnten es irgendwelche Stellungnahmen sein. Diesen Effekt sollte die zweite, alternative Auflösung der Buchstabenkette im eben erwähnten Beispiel erzielen. Aber es handelt sich nicht um eine Relativierung im landläufigen Sinn. Entweder es herrscht echte Unklarheit über die Bedeutung, dann sind die Konstruktionen gleichberechtigt und konkurrieren um die empirische Adäquatheit. Oder die erste Deutung ist etabliert, dann ist die zweite offenbar von ihr abhängig und keine primäre Option. Voraussetzungslose Interpretation beruht auf zwei Pfeilern, einerseits der Konkurrenz ernst gemeinter Deutungsansätze, andererseits der Sprachkompetenz, die hinter ihnen steht. Dann gibt es noch den Variantenreichtum abgeleiteter Hypothesen. Nirgends ist Platz für eine Sinnzuschreibung, die, sollte sie gelingen, einfach dadurch relativierbar ist, daß es andere gibt. Die Investition kann fehl am Platz sein; der Rückschluß, dann wäre es keine Investition gewesen, ist nicht erlaubt. Daraus ergibt sich, daß Irrtum oder Kurzsichtigkeit im Umgang mit verstehbaren Äußerungen die intentio recta in Bedeutungsfragen nicht überflüssig machen können. Um es sicherheitshalber nochmal zu unterstreichen: Die These sagt nicht, es gäbe unerschütterliche Bedeutungen. Sie sagt, daß es ohne die unangetastete Wirksamkeit zentraler Bestandteile unseres Sprachgebrauches überhaupt nicht zu Interpretationen kommen kann. Sie erkennt dem Erzbischof nicht das Recht zu, sein Verständnis von ,,Trauergottesdienst`` außer Streit zu stellen, verlangt allerdings, daß dieser Streit, wenn nötig, als letzte Instanz anerkannt wird. Als Auseinandersetzung um ein Wort, in der es um alles gehen kann.

Toleranz

Eine pragmatische Begründung für Toleranz betont, daß kein Wort, und auch keine Argumentationskette, so wichtig sein kann (oder sein sollte), daß ,,alles`` davon abhängt. Das ist ein respektabler Standpunkt: Nix is fix, es kommt letztlich darauf an, im Spiel der historisch wechselnden Kräfte und Gegenkräfte zu überleben. Ohne diese Position zu diskutieren, ist dennoch eines klar. In ihrem Rahmen ist Toleranz, wie alle anderen Begriffe und Einstellungen, ein Orientierungspunkt nur in persönlichem Ermessen. Niemand kann sich gegenüber Kontrahenten, die nicht zur eigenen Klientele gehören, auf sie berufen. Das heißt zugleich, daß die Befürworter eines exponierten Toleranzbegriffes die Last des sogenannten Dogmatismus nicht bloß einer polemisch distanzierten Gegenseite zuschieben können. Das meines Erachtens stärkste Motiv, zur Kritik des diesbezüglichen Pragmatismus wurde schon zu Beginn genannt. Es ist der Hinweis, daß man sich das abgehoben prinzipienfreie Verhalten erst einmal leisten können muß. Zweifellos handelt es sich um einen erstrebenswerten Luxus, doch seine Grenze findet er, wo die Verteidigung der Toleranz Mühe kostet. Das ist nun der überraschende Moment, an dem der Erzbischof den Verfechterinnen der Liberalität -- gegen den Augenschein -- näher steht, als die postmodernen Zeitgenossen. Wenn zum Sinn dieses Wortes die Koexistenz einander ausschließender Denk- und Argumentationszusammenhänge gehört, dann ist die Position, der gemäß sich alles Reden immer irgendwie mit den Umständen arrangiert, schwerlich ein Ansprechpartner. In einem derartigen Weltbild fehlt der Ort, den nach klassischer Auffassung die Toleranz besetzt. Umgekehrt gilt dann: Ihr hervorgehobener Begriff impliziert echte, unlösbare Konflikte, also Inflexibilität. Das soll kein dialektischer Exkurs werden, sondern der Hinweis auf eine Eigenart der Sinnproduktion. Sie ist in Umständen verankert, die nicht nach Belieben disponibel sind. Auch Toleranz ist zu Zeiten, wenn überhaupt normativ, ein unbedingter Begriff.


Rückübersetzt in die Begrifflichkeit des sprachanalytischen Ansatzes lauten diese inhaltlichen Aussagen so: Isolierte Zeichenketten können keinen kommunikativ einlösbaren Gehalt an sich binden. Wenn man ihre Deutung freigibt, können sie zu ganz unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Allerdings reduziert sich die Gemeinsamkeit dieser Verwendungsweisen dann auf den Wortklang -- und damit verschwindet die inhaltliche Überschneidung der Interpretationsvarianten. Sie stehen zueinander in keinem Verhältnis, daß der Rede wert ist. Die Gruppendynamik deckt sich an keiner Stelle mit der mathematischen Gruppentheorie. Dann fehlt der Raum für Konsens ebenso wie für Dissens und es wird schwierig, Toleranz von Indifferenz zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang läßt sich auch ein Kriterium für den anspruchsvollen Toleranzbegriff angeben. Sie geht darüber hinaus, daß Worte frei zur Verfügung stehen. Das Ideal besteht darin, daß Andersdenkende mit bestimmten Worten, die in der eigenen Denkökonomie eine wichtige Rolle spielen, abweichend umgehen dürfen. Das heißt: Nicht ignorant, sondern gezielt gegensätzlich. Dabei fallen die Verwendungsweisen nicht restlos auseinander, sondern sie überlappen sich -- nur so entsteht der Streit über die Weiterverwendung gegebener Termini. Angesichts der unerläßlichen Anfangsinvestition, welche die Zugehörigkeit zu einem linguistischen Verband erfordert, kann ein solcher Dissens an den Kern des Selbstverständnisses gehen.

Für solche Krisen empfiehlt das Manual der Konfliktforschung verbale Abrüstung. Wer wollte widersprechen? Hinzuzufügen ist jedoch, daß sie zu weit gehen kann, nämlich bis an einen Punkt, an dem die umstrittenen Worte nurmehr Klanghülsen sind. Mit der Auseinandersetzung verschwindet dann zugleich eine Möglichkeit des Selbst-Seins. ,,Radical interpretation`` hebt hervor, daß es im Ernstall gegenüber Unbekanntem gar keine andere Chance gibt, als sich auf mitgebrachte Voraussetzungen zu verlassen. Die Rolle des Fremden in der Konstitution des Eigenen läßt sich mit zwei Bemerkungen über alternative Interpretationen umreissen. Den vorgetragenen Überlegungen könnte nämlich entgegnet werden, die Radikalität der hermeneutischen Anstrengung sei eine wirklichkeitsfremde Fiktion. Was in der Welt auftaucht, ist immer schon auf vielfältige Weise verstanden. Doch diese Relativierung verwischt einen Umstand, der prinzipiell für alles Verstehen gilt. Es ist unmöglich, das ist die erste Bemerkung, Alternativen an den Beginn des Sprachverstehens zu setzen. Sprecherinnen sind zeitweise mit verschiedenen, auch äquivalenten, Deutungen von Zeichenketten konfrontiert. Das soll nicht bestritten werden. Die These bezieht sich auf den systematischen Ort, an dem Optionen zur Verfügung stehen. Um etwas anders verstehen zu können, muß man es zuvor verstehen. Das ist kein Argument gegen Bedeutungswechsel, sondern die Einsicht, daß etablierte Umstände und Alternativen einander wechselseitig bedingen. Ohne festen Halt für die Füße kann ein Kasten nicht verschoben werden.

Daß der Fixpunkt sich auf den zweiten Blick vielleicht als eine unter mehreren Möglichkeiten erweist, spricht nicht gegen diese These. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf dieses Szenario. Es ist unerfindlich, was Alternativen anderes sein können, als Alternativen zu etwas. So, wie es keinen Sinn macht, die Abfolge der natürlichen Zahlen so umzukrempeln, daß die Sechs vor der Drei zu stehen kommt, bedarf das Konzept der Alternative eine vorliegende Position. In der Bezugsgruppe, die Vorträge über Toleranz besucht, gehört die Sympathie der kreativen Abweichung von der Norm. Die folgende Erinnerung bestreitet das nicht, sondern will -- ganz im Gegenteil -- dieselbe Einstellung stärken, wenn auch mit einem umstrittenen Motiv. Die Hälfte der Beweglichkeit ist die Standfestigkeit, ohne die es sich nicht um Bewegung, sondern um erratische Positionsänderungen handelt. Noch ein Blick zurück zum Erzbischof. Er hat, nach Presseberichten, auf die Kritik an seiner praktizierten Glaubensüberzeugung geantwortet, daß ihn niemand davon abbringen könne, der katholischen Messe die höchste Bedeutung zuzuschreiben. Die hier vertretene Empfehlung lautet, den Habitus belustigter oder polemischer Liberalität zu vermeiden. Die Kompromißlosigkeit des kirchlichen Würdenträgers indiziert eine Fehlanpassung im säkularen Staat, der für Unvereinbarkeiten dieser Art Neutralität vorschreibt. Doch erstens handelt der Bischof nicht in diesem spezifischen Sinn als Staatsbürger, und zweitens sollte man, gerade auch als Andersdenkender, seine fixe Idee respektieren. Letztlich kommt die Courage, für unerwünschte Überzeugungen einzustehen, wenn sie sich an einige unverzichtbare Spielregeln hält, der Toleranz zu Gute.




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