Fremdheit des Fremden

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In Lob und Förderung der Differenz steckt die geheime Gefahr das Differente zum Primären, zu erheben. Differenz läßt sich normalerweise nur bestimmen in Absetzung gegen das Gängige und Kommune. Wird die Priorität umgekehrt und gilt das Interesse nicht länger dem Üblichen, son­dern dem Unüblichen, muß das Übliche in irgendeiner Hinsicht benach­teiligt werden. So bauen sich unwirkliche Konkurrenzen auf. Denn nicht aus eigener Kraft hatte das Letztere sich gegen das Erstere gestellt, son­dern nur dank der Übertragung eines entscheidenden Quantums an Auf­merksamkeit, das vom Üblichen abgezogen wurde.

Korrekt ist, dass Differenz sich in Abhebung gegen einen Standard definiert und dass es einen dialektioschen "Purzelbaum" gibt, in dem die Differenz - als Standard genommen - entweder ihren Sinn verliert, oder zur Unregierbarkeit degeneriert. Aber "geheime Gefahr"? Wovor ängstigt sich Rüdiger Bubner?

Kymlicka denkt sogar an die Möglichkeit, durch Autonomisierung des Unüblichen eine politische Gegenmacht zu etablieren. Zwei »Natio­nen« entstehen in einer, und der Rückfall in den Zustand latenter Bürgerkriege erscheint am Horizont. Unter dem Appell zu Toleranz wird ein Verzicht auf Herrschaft des Üblichen, der homogenisierten Majorität ins Auge gefaßt, der eine künstliche Entmachtung erzeugt. Dies alles sind zunächst Interpretationsfragen, deren Ergebnisse sich als Formen politischer Selbstauffassung befestigen. In einem wohlgemeinten und weitver­breiteten Aufkleber spiegelt sich diese unerwartete Seite der Dialektik. »Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall«, so heißt es. Unterderhand wandelt sich der Ausländerstatus zu einem Kriterium des Humanen schlechthin. Denn die Definitionsvorgabe dessen, was Ausländer heißt, erscheint als vernachlässigungsfähig. Jeder versteht den Witz.

Aber als Scherz sind die Wanderungsbewegungen der Gegenwart un­terbewertet. Ausländer gibt es nämlich nur, wenn andere dort zu Hause sind, wo der Ausländer auftritt. Seinerseits besitzt jeder Ausländer ebenfalls ein Zuhause, das er aus mancherlei Gründen zeitweilig oder auf Dau­er verlassen hat. Da jeder irgendwo anders zu Hause ist und deshalb dort, wo er »fremd« ist, auffällt, wird Ausländersein nicht zum allgemeinen Merkmal aller Menschen. Nur die durch technischen Fortschritt unge­heuer erleichterte und massenhaft wahrgenommene Mobilität erzeugt den Eindruck, daß keiner mehr irgendwo wirklich hingehöre. Flüchtlinge flüchten aus Not, Touristen können sich Fernreisen leisten. Beide sind da, wo sie jeweils sind — als Flüchtling oder als Tourist — nicht zu Hause.

Nochmals: korrekt ist der Hinweis auf die Unentbehrlichkeit der "Heimat" für den Begriff der Ausländerin. (Die Alternative wäre "staatenlos". Aber die Überzeugungskraft des Aufklebers liegt weniger in der Dekonstruktion des Begriffspaars Einheimische/Fremde, sondern eher darin, darauf hinzuweisen, dass die jeweiligen Ausprägungen einer entscheidenden Qualität ("Heimat") numerisch immer in der Unterlegenheit sind.

Fremdsein ist jedoch keine fließende Bestimmung, deren sachlicher Kern durch Quantität, Technik, Fortschritt und anderes sich abschleifen liesse. Wenn die Bestimmung des Fremden einen greifbaren Sinn behalten soll, dann bietet die Majorität der Einheimischen oder anders gesagt die Dominanz des Üblichen bzw. das Ungleichgewicht von Autochthonen gegenüber den Hinzutretenden die eigentliche Basis. Man kann das bestreiten, indem man Grenzziehung überhaupt verdammt und nationale Zuschreibung verabschiedet, um eine brüderliche Menschengemeinschaft auf dem Globus herbeizubeschwören. Man sollte sich aber hüten, politi­sche Wunschprojektionen durch semantische Ungenauigkeiten zu erschleichen, etwa nach dem Schema, daß alle Menschen gleich sind und deshalb auch Anspruch auf den Ausländerstatus erheben dürfen.

Es gibt gute Argumente für das Aufrechterhalten der Spannung zum Fremden. Bei A. Galleotti ist ein schwacher Punkt, dass Toleranz gegenüber dem Schleier angebracht erscheint, damit sich die Differenz verschleift. Eine ganz andere Sache ist die Behauptung, die Dominanz des Üblichen sei die "eigentliche Basis".

Wer das Fremde schützen, ehren und bewahren will, muß auf der Fremdheit des Fremden beharren. Wer den Fremden zu meinem Bruder macht und mich unterschiedslos ihm beigesellt, verfällt wieder auf das alte Modell der Anerkennung von Gleichen, die einander wechselseitig Differenzlosigkeit, egalitären Status und das Ausklammern von Privilegi­en zugestehen. Gleichheit mitsamt den rechtlich relevanten Konsequen­zen hat seit Erfindung des Gesellschaftsvertrags als Legitimationsbasis allseitig und unterschiedslos zu gelten. Unterschiede ihrerseits sind uni­versal verbreitet und werden sich in der Realität überall, wo man nachforscht, vorfinden. Die rechtliche oder politische Konzession von schutz­würdigen und respektgebietenden Ungleichheiten läßt sich indes nur durchsetzen aufgrund und dank des Übergewichts derer, die sich als gleich verstehen, und nicht ebenso nachdrücklich Ungleichheit prätendieren wie der fragliche Sonderfall. Wollten wir alle als Sonderfälle Berücksichtigung finden, sähen wir uns wie die berühmten Narren in der Renaissancemeta­pher des Narrenschiffs unvermutet in ein und demselben Boot.





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