"Natur – Umwelt – Ethik"

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Christoph Reichel über einen Text von Hans Lenk und Matthias Maring



In ihrem Buch Natur – Umwelt – Ethik beschäftigen sich Lenk und Maring mit der ökologischen Problematik und der damit verbundenen Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur und gegenüber nachfolgenden Generationen. Dabei spielen moralisch-ethische Werte eine entscheidende Rolle und in der Untersuchung dieser Werte hat die Philosophie etwas beizutragen. Darüberhinaus bietet die Philosophie Methoden, um Begrifflichkeiten in Bezug auf Natur- und Umweltschutz zu klären, aber auch Methoden, die eine Analyse von komplexen Wirkungszusammenhängen ermöglichen.

Dieses Essay bezieht sich auf Kapitel 1 und 7 von Natur – Umwelt – Ethik. In diesen Kapiteln spielen die Fragen nach dem Was und Warum in Hinblick auf Umweltschutz kaum eine Rolle. Ich möchte mich daher im Folgenden erstens der Frage nach der Relevanz der Philosophie für ökologische Problemstellungen widmen. Insofern wir der Philosophie diese Relevanz zugestehen, möchte ich mich zweitens damit auseinandersetzen, wie Philosophie, insbesondere die Systemtheorie, vernetzte Wirkungsstrukturen fassen kann. Die beiden Fragestellungen dieses Essays lauten also: a) Inwiefern hat die Philosophie etwas zur Umweltproblematik zu sagen? b) Wie lassen sich komplexe Wirkungszusammenhänge fassen?


Inwiefern hat die Philosophie etwas zur Umweltproblematik zu sagen?

Für Lenk und Maring ist klar, dass die Philosophie zu aktuellen Fragestellungen unserer Zeit, somit auch zur ökologischen Problematik, etwas beizutragen hat. Doch nur, wenn die Philosophie aus ihrer (selbstgewählten) Isolation heraustritt, sich auch praktischen Problemen zuwendet und sich ihrer „erkenntnisrelevanten, kulturellen, intellektuellen und politischen Funktionen“ besinnt. (Lenk, Maring 2003, 2) Wenn die Philosophie diesen Schritt wagt, warten auf sie sechs neue Herausforderungen und Aufgaben. So könnte erstens der Philosophie so etwas wie eine Integrationsfunktion zukommen; d. h. sie könnte die Rolle des Vermittlers zwischen den verschiedenen Disziplinen übernehmen und so die Perspektive des Allgemeinen bzw. der Allgemeinheit stärken. Zweitens verstehen die Autoren die Philosophen als Fachleute für eine „argumentative Behandlung des Normativen“; dies allerdings nicht im Sinne einer absoluten Moralphilosophie. (Lenk, Maring 2003, 3) Drittens könnte die Philosophie eine Erziehungsfunktion in Hinblick auf logische und sachliche Argumentation erfüllen. Viertens sollte sich die Philosophie wieder erlauben, Utopien zu entwerfen und dieses Feld nicht nur den vermeintlich empirischen Wissenschaften überlassen. Fünftens sollte sich die Philosophie wieder der „Diagnose des Zeitgeistes der Gegenwart“ zuwenden und sechstens öffentliche „Probleme im Bereich der Philosophie und von seiten der Philosophie“ thematisieren. (Lenk, Maring 2003, 4) Man sieht, dass diese sechs Herausforderungen über den Bereich der Umweltethik hinausgehen, diesen aber beinhalten. Gleiches gilt für Lenks und Marings zehn Thesen zu einer praxisnahen Philosophie. Auch wenn heute der Begriff „philosophisch“ in den Sozial- und Ökowissenschaften vermieden wird, so transportieren diese doch philosophische Themen und Fragestellungen. Da Umweltschutz immer mit Normen und Werten zu tun hat, kommt der Philosophie bei „der Untersuchung von Wertsystemen und bei der Konstruktion einer global orientierten Moral“ eine wichtige Aufgabe zu, allerdings ohne ein absolutes, auf Letztbegründungen beruhendes, Moralsystem liefern zu können oder zu müssen. (Lenk, Maring 2003, 11) Gerade im Bereich der Werte und Normen, von den spezialisierten Fachwissenschaften oft vernachlässigt bzw. nicht hinreichend artikuliert, sehen Lenk und Maring Aufgaben für philosophisches Denken. Da dieses von je her der Vernunft und der Kritik verpflichtet ist, könnte diesem Denken, insofern es sich an Realbedingungen orientiert, in wissenschaftlichen, politischen und ökologischen Debatten eine regulative Funktion zukommen. Nun ist eine auf Realbedingungen ausgerichtete Philosophie meines Erachtens eine pragmatische, praxisorientierte Philosophie, wie Lenk und Maring diese fordern. Eine solche muss sich in Bezug auf soziale und öffentliche Probleme engagieren; dies schließt die „durch die Wissenschaften und durch soziotechnische sowie ökonomische und ökologische Umstände gegebenen Probleme“ mit ein. (Lenk, Maring 2003, 18) Die vielen Dimensionen der Umweltproblematik (z. B. biologische, soziale, ökonomische, ethische) erfordern interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Wissenschaftstheorie bietet die Möglichkeit, gerade in der interdisziplinären Zusammenarbeit, Verbindungen zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, Lebenspraxis und philosophischen Problemen herzustellen bzw. zu analysieren. Allerdings vermissen Lenk und Maring „Ansätze zur Wissenschaftstheorie der Umweltwissenschaften, der Systemwissenschaften, der Planungsdisziplinen, einschließlich der seriösen Zukunftsforschung.“ (Lenk, Maring 2003, 18)

Von der Zusammenarbeit unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen profitiert auch die Philosophie selbst, denn ohne Anregungen durch die Einzelwissenschaften können die Philosophierenden zu aktuellen Problemen keine Stellung nehmen. Dabei ist „fachwissenschaftliches Mitverständnis“ eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit, doch ist das Fehlen von spezifischen Fachkompetenzen kein Schaden, denn dieser Mangel ermöglicht es den Philosophierenden vielmehr, in „intellektuelle[r] Narrenfreiheit“ neue Probleme unvoreingenommen anzugehen. (Lenk, Maring 2003, 13f.) Philosophen, die „Spezialisten für das Allgemeine“, können eben nicht „Spezialisten für alles sein.“ (Lenk, Maring 2003, 19) Deshalb ist eine „sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie und auch innerhalb der Philosophie selbst“ gefragt. (ebd.)

Die Philosophie im Allgemeinen ist nicht nur eine Schule klaren Denkens und korrekten Argumentierens, sondern bietet in ihren unterschiedlichen Richtungen Ansätze, die Umweltproblematik zu fassen und entsprechende Handlungsstrategien zu entwerfen. Für Lenk und Maring haben Ethik, Wissenschaftstheorie und Systemtheorie sowie Sprachphilosophie und Metaphysik einiges zu aktuellen - somit auch zu ökologischen - Fragestellungen beizutragen. Obwohl die Zeit absoluter philosophischer Wahrheitsansprüche vorbei ist, hat philosophisches Denken nicht ausgedient, denn „[e]ingewoben in die geistige Tradition des Abendlandes, können, wollen, dürfen wir nicht das denkende Spiel der Freiheit, das Philosophieren, aufgeben, wenn wir nicht Freiheit und Selbstsein verlieren oder gefährden wollen.“ (Lenk, Maring 2003, 23)


b) Wie lassen sich komplexe Wirkungszusammenhänge fassen?

Wenn wir mit einem Unglück, z. B. mit einem Verkehrsunfall, konfrontiert sind, stellen wir meistens die Frage nach dem Schuldigen oder dem Verantwortlichen. Insofern sich die Zahl der am Unglück Beteiligten in Grenzen hält, kann diese Frage, zumindest im Prinzip, eindeutig beantwortet werden. Vielleicht so: Hr. M. hat mit seinem Auto das Auto von Hrn. N. gerammt. Wie aber können wir Vorgänge verstehen, die viele Ursachen haben und diese Ursachen einerseits miteinander in Wechselwirkung stehen und andererseits durch ihre Wirkungen rückbezüglich beeinflusst werden? In dieser vernetzten und rekursiven Bezüglichkeit müssen wir uns zurechtfinden, wenn unser Denken die komplexen Strukturen der Biossphäre der Erde, inklusive der Soziosphäre der Menschen, erfassen soll.

In der Analyse der Umweltproblematik stößt lineares Kausaldenken an seine Grenzen. Zwar denken Lenk und Maring nicht daran, die Methode kausalen Analysierens aufzugeben, doch bedarf sie einer Ergänzung durch systemerklärende Ansätze. Die Systemtheorie bietet solche ergänzenden Ansätze, ohne jedoch die ultimative Methode liefern zu können, zumal die unterschiedlichen Systemmodelle selten inhaltliche Aussagekraft haben. Die Modelle der Systemtheorie „sind theoretische Voraussetzungen, Regelkonstruktionen, Kalküle, Mittel der Erfassung, Beschreibung, Darstellung und Strukturierung von Zusammenhängen.“ (Lenk, Maring 2003, 160f.) Darüberhinaus kommt auch die Systemtheorie nicht umhin, Vereinfachungen im Verstehen von komplexen Zusammenhängen vorzunehmen.

Wie eine solche Vereinfachung aussehen kann, zeigen die Autoren anhand eines Beispiels, bei dem weniger der ökologische Aspekt im Vordergrund steht als vielmehr die Verflechtung von mehreren verantwortlichen Handlungsebenen. 1994 ertranken beim Untergang der Fähre „Estonia“ hunderte Menschen. Das Schiff kenterte und sank, weil zuvor eine Bugklappe abgerissen war und daraufhin Wasser in das Autodeck, welches nicht korrekt verschlossen war, strömte. Da der Notruf vermutlich zu spät gefunkt wurde, konnte nur ein Bruchteil der Passagiere gerettet werden. Die Analyse dieses Unglücks ist zu detailiert, um sie hier vollständig wiedergeben zu können. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass zu laxe gesetzliche Sicherheitsbestimmungen und der fehlende Wille der Reederei mehr als unbedingt gefordert in die Sicherheit zu investieren sowie individuelle Fehler der Besatzung zum Untergang der Estonia geführt haben. Das für Lenk und Maring entscheidende Ergebnis der Untersuchungen ist, dass es „trotz individueller Fehler und Versäumnisse keinen Alleinverantwortlichen“ gibt. (Lenk, Maring 2003, 178) Im Sinne der notwendigen Vereinfachung von komplexen Zusammenhängen, wie sie beim Estonia-Unglück vorliegen, unterscheiden die Autoren drei relevante, allerdings nicht exakt zu trennende, Systemebenen: „1. Makroebene des (Wettbewerbs-) Systems und der (Welt-) Gesellschaft, 2. Mesoebene der Korporationen und 3. Mikroebene der Individuen.“ (Lenk, Maring 2003, 178) Auf der Makroebene werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen, etwa Umweltschutz- und Sicherheitsstandards, geschaffen. Daher sind die auf dieser Ebene anzusiedelnden regelsetzenden Instanzen im Falle einer Katastrophe mitverantwortlich. Im vorliegenden Beispiel etwa liegt die Vermutung nahe, dass die unzureichenden Sicherheitsbestimmungen des Staates Estland, unter dessen Flagge die Estonia fuhr, wesentlich zum Untergang der Fähre beigetragen haben. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich Mitte der neunziger Jahre die Wirtschaft Estlands im Sinne westlicher Maßstäbe zu entwickeln begann, lässt sich vielleicht verstehen, warum auf Kosten der Sicherheit und zu Gunsten des Profits gespart wurde. „Profitorientierung dominierte über Sozialem und Sicherheitsfragen – auch in der Schifffahrt.“ (Lenk, Maring 2003, 167)

Wenn also für den Gesetzgeber die Sicherheit zweitrangig ist, stellt sich die Frage, warum auf der Mesoebene, der Ebene der Korporationen, die Prioritäten anders gesetzt sein sollten; warum sollte ein Unternehmen, etwa eine Reederei, mehr als gesetzlich gefordert, in die Sicherheit investieren? Warum sollte ein Unternehmen durch Investitionen in die Sicherheit seinen Gewinn schmälern, wenn es nicht dazu gezwungen wird? Jedoch kann das Streben nach Profit als die Ursache für mangelnde Sicherheitsausgaben auch ein Motiv für Investitionen in die Sicherheit sein. Gerade ein Unternehmen wie eine Reederei kann nur bestehen, wenn sein Ruf in Hinblick auf Sicherheitsstandards unbeschädigt ist (was Umweltstandards betrifft, sieht die Sache leider etwas anders aus). So kann die öffentliche Ächtung von moralisch verwerflichem Handeln eines Unternehmens verhaltenssteuernd auf dieses wirken. Voraussetzung dabei ist, dass wir Korporationen überhaupt die Fähigkeit zu handeln zuschreiben. Lenk und Maring verstehen das Handeln von Korporationen als „Handeln eigener Art“, als „sekundäres Handeln“. (Lenk, Maring 2003, 170) Indem Korporationen die Fähigkeit zu handeln zugeschrieben wird, können auch moralische Beurteilungskriterien auf diese angewandt werden. Als nützlich erweist sich diese Möglichkeit, wenn sich Unternehmen zwar innerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen, dieser aber unzureichend ist, etwa in Hinblick auf Sicherheits- oder Umweltschutzbestimmungen.

Üblicherweise suchen wir die Schuld an einem Unglück beim Individuum, d. h. auf der Mikroebene. Im Estonia-Beispiel agieren auf dieser Ebene der Kapitän und die Besatzungsmitglieder. Der Kapitän hätte unter Umständen den Untergang seines Schiffs verhindern können, wenn er nicht gegen die Wellen angefahren wäre, was normalerweise, selbst bei Sturm, der Fähre nicht schadet. Nun war aber eine innere Luke im Bug nicht richtig geschlossen, was vor dem Ablegen des Schiffs, trotz „Überwachungskameras und Notsignale[n] zur Kontrolle der Luken und Türen“, unbemerkt blieb. (Lenk, Maring 2003, 166) Vermutlich waren diese Sicherheitseinrichtungen unzureichend, was wiederum auf den Verantwortungsbereich der Makro- und Mesoebene verweist. Ohne Zweifel sind im Unglücksfall individuelle Fehler unter Berücksichtigung „der Stellung, des Rangs und der Eingriffsmöglichkeiten des Einzelnen“ zu analysieren, doch führen die „individualistischen Konzepte der Alleinverantwortung“ gerade dazu, dass die „Schuld“ ausschließlich bei Einzelnen gesucht wird, was der Verflechtung der beschriebenen Ebenen nicht gerecht wird. (Lenk, Maring 2003, 184)

Ein Verständnis für die Verschränkung dieser Ebenen ist aber gerade beim Entwurf von Maßnahmen, die ökologische Katastrophen verhindern sollen, notwendig. Wie können nun Mikro-, Meso- und Makroebene in Bezug auf Verantwortung gegenüber der Umwelt und Sicherheit zusammenwirken? Die Autoren vertreten diesbezüglich folgende programmatische These: „Was auf individueller Ebene nicht lösbar ist, […], sollte auf der nächsthöheren […] Ebene angegangen werden.“ (Lenk, Maring 2003, 185) So kann z. B. auf der Ebene der Korporationen einsames ethisches Handeln von Unternehmen zu Wettbewerbsnachteilen führen. Sicherheits- und Umweltstandards müssen jedoch für alle gelten. Diese können zwar schon auf der Mesoebene festgelegt werden, etwa durch Branchenkodizes. Rechtlich verbindlich werden diese Standards allerdings erst durch Eingreifen der gesellschaftlichen Makroebene, d. h. durch Gesetze und Kontrollen. Solche rechtlichen Instrumente entbinden die Mikro- und Mesohandlungssysteme freilich nicht von ihrer Verantwortung. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, welches besagt, dass die übergeordnete gesellschaftliche Ebene, z. B. der Staat, nur für die Aufgaben zuständig sein soll, die die nachgeordnete Ebene nicht bewältigen kann, soll die Eigenverantwortung des einzelnen gestärkt werden. In diesem Sinn verstehen die Autoren das Prinzip der Subsidiarität als „Prinzip der größtmöglichen Eigenverantwortung“, es gilt: „so wenig Eingriffe von ranghöheren gesellschaftlichen Ebenen wie möglich, so viele wie eben gerade nötig“. (Lenk, Maring 2003, 186) Mithilfe dieser Leitlinie können Regelungen geschaffen werden, die z. B. der Förderung des Gemeinwohls oder des Umweltschutzes dienen und zwar dort wo freiwillige Verpflichtungen allein nicht greifen.


Literatur:

Hans Lenk u. Matthias Maring, Natur – Umwelt – Ethik, (Münster, Lit, 2003)