Jürgen Habermas: Ad Ratzinger

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Das für unsere Diskussion vorgeschlagene Thema erinnert an eine Frage, die Ernst Wolfgang Böckenförde Mitte der 60er Jahre auf die prägnante Formel gebracht hat - ob der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann. Darin drückt sich der Zweifel aus, dass der demokratische Verfassungsstaat seine normativen Be-standsvoraussetzungen aus eigenen Ressour-cen erneuern kann, sowie die Vermutung, dass er auf autochthone weltanschauliche oder religiöse, jedenfalls kollektiv verbindli-che ethisch Überlieferungen angewiesen ist. Das würde den zu weltanschaulicher Neutra-lität verpflichteten Staat zwar angesichts der „Tatsache des Pluralismus” (Rawls) in Be-drängnis bringen. Aber diese Folgerung spricht nicht schon gegen die Vermutung selbst.

Zunächst möchte ich das Problem nach zwei Hinsichten spezifizieren. In kognitiver Hin-sicht bezieht sich der Zweifel auf die Frage, ob politische Herrschaft nach der vollständi-gen Positivierung des Rechts einer säkularen, das soll heißen: einer nichtreligiösen oder nachmetaphysischen Rechtfertigung über-haupt noch zugänglich ist (1). Auch wenn eine solche Legitimation zugestanden wird, bleibt in motivationaler Hinsicht der Zweifel bestehen, ob sich ein weltanschaulich plura-listisches Gemeinwesen durch die Unterstel-lung eines bestenfalls formalen, auf Verfah-ren und Prinzipien beschränkten Hinter-grundeinverständnisses normativ, also über einen bloßen modus vivendi hinaus stabili-sieren lässt (2). Auch wenn sich dieser Zwei-fel ausräumen lässt, bleibt es dabei, dass li-berale Ordnungen auf die Solidarität ihrer Staatsbürger angewiesen sind – und deren Quellen könnten infolge einer „entgleisen-den” Säkularisierung der Gesellschaft im ganzen versiegen. Diese Diagnose ist nicht von der Hand zu weisen, aber sie muss nicht so verstanden werden, dass die Gebildeten unter den Verteidigern der Religion daraus gewissermaßen einen „Mehrwert” schöpfen (3). Stattdessen werde ich vorschlagen, die kulturelle und gesellschaftliche Säkularisie-rung als einen doppelten Lernprozess zu ver-stehen, der die Traditionen der Aufklärung ebenso wie die religiösen Lehren zur Refle-xion auf ihre jeweiligen Grenzen nötigt (4). Im Hinblick auf postsäkulare Gesellschaften stellt sich schließlich die Frage, welche kog-nitiven Einstellungen und normativen Erwar-tungen der liberale Staat gläubigen und un-gläubigen Bürgern im Umgang miteinander zumuten muss (5).

(1) Der politische Liberalismus (den ich in der speziellen Form eines Kantischen Re-publikanismus verteidige) versteht sich als eine nichtreligiöse und nachmetaphysische Rechtfertigung der normativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates. Die-se Theorie steht in der Tradition eines Ver-nunftrechts, das auf die starken kosmologi-schen oder heilsgeschichtlichen Annahmen der klassischen und religiösen Naturrechts-lehren verzichtet. Die Geschichte der christ-lichen Theologie im Mittelalter, insbesonde-re die spanische Spätscholastik gehören na-türlich zur Genealogie der Menschenrechte. Aber die Legitimationsgrundlagen der welt-anschaulich neutralen Staatsgewalt stammen am Ende aus den profanen Quellen der Phi-losophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Erst sehr viel später bewältigen Theologie und Kirche die geistigen Herausforderungen des revolutionären Verfassungsstaates. Von ka-tholischer Seite, die ja ein gelassenes Ver-hältnis zum Lumen naturale unterhält, steht jedoch, wenn ich recht verstehe, einer auto-nomen (von Offenbarungswahrheiten unab-hängigen) Begründung von Moral und Recht grundsätzlich nichts im Wege.





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