Zwei Gruppen von Anfangszeiten des BP

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Textgrundlage

Benjamin Libet: Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Frankfurt 2005. S. 159ff

Inhaltsverzeichnis


Benjamin Libet: Handlungsabsicht

1. Die Versuchsanordnung
2. Zwei Gruppen von Anfangszeiten des BP
3. Die Ereignisfolge in der "Jetzt-Handeln"-Situation
4. Das bewusste Veto
5. Haben wir einen freien Willen?


Auszug

Unser experimentelles Ziel bestand darin, frei gewählte Willens­handlungen zu untersuchen, die ohne äußere Beschränkungen bezüglich des Handlungszeitpunkts vollzogen wurden. Bei den meisten Versuchsdurchgängen in unserer Reihe von vierzig Ver­suchen gab es keine Berichte über eine Vorausplanung seitens der Versuchspersonen. Diese Willenshandlungen wurden völlig zwanglos und spontan vollzogen, ohne dass im Voraus geplant wurde, wann die Handlung stattfinden sollte. Die Art der Handlung, nämlich eine plötzliche Beugung des Handgelenks, wurde natürlich den Versuchspersonen von uns vorgeschrieben. Das er­möglichte es uns, Messelektroden an dem zu aktivierenden Mus­kel anzubringen; das gemessene Elektromyogramm gab uns den Handlungszeitpunkt an und diente auch als Auslöser für den Computer, das Potential an der Kopfhaut zu messen, das wäh­rend der 2 bis 3 Sekunden vor der Muskelaktivierung aufgetreten war. Der Zeitpunkt der Handlung war jedoch im Hinblick auf den eigenen Willen der Versuchspersonen völlig frei. Unsere Ex­perimentalfrage war: Geht der bewusste Wille der Aktion des Gehirns voraus oder folgt er ihr nach? Die Prüfung dieser Frage verlangte nur, dass der Zeitpunkt der Handlung der Versuchsper­son frei anheim gestellt war. Die Art der Handlung hatte für diese Frage keine Bedeutung.

Terminologie: Was nennt man "Handlung"? Es gibt Nicht-Handlungen (Vorfälle) und erzwungene Handlungen, z.B. unter Drohung. Handlungen sind also nicht unbedingt freie Handlungen (Befehlserfüllung). Zwanglos heißt: die erwähnten Einschränkungen finden nicht statt. Heißt das auch "frei"? Das ist (siehe oben) die Doppelfunktion der Negation. "Niemand zwingt Dich, zum Fenster hinauszuschauen."

Bei einigen Versuchsdurchgängen berichteten die Versuchs­personen, dass sie einen Bereich der Uhrzeit vorausgeplant hatten, in dem sie handeln würden, und zwar trotz unserer Auffor­derung, das nicht zu tun. Diese Reihen führten zu BPs (#I) mit früheren Anfangszeiten, die im Durchschnitt bei etwa -800 bis -1000 ms (vor der motorischen Handlung) lagen (Abb. 4.2). Diese Werte waren denen ähnlich, die von Kornhuber und Deecke und von anderen über ihre »von sich aus eingeleiteten« Bewegungen berichtet wurden. Aus diesen und anderen Gründen schien es, dass »von sich aus eingeleitete« Handlungen, die unter gewissen, vom Versuchsleiter festgelegten Beschränkun­gen vollzogen wurden, wahrscheinlich eine gewisse Vorauspla­nung seitens der Versuchsperson bezüglich des Handlungszeit­punkts beinhalteten. Ihre Versuchspersonen wussten, dass sie die Handlung innerhalb von 6 sec vollziehen sollten, und dieses Wissen könnte eine gewisse Vorausplanung des Handlungszeit­punkts begünstigt haben. Unsere Versuchspersonen unterlagen keinen solchen Beschränkungen.

Geplante Handlungen werden eigens von ungeplanten Handlungen unterschieden. Der freie Wille wird als Spontan-Handlung definiert. Man soll "die Handlung kommen lassen", "sich spontan entscheiden". Im Begriff einer solchen spontanen Entscheidung ist tatsächlich ein unwillkürlicher Auslöser enthalten. ("Die Gelegenheit war günstig ...") Es ist allerdings eine spezifische Teilbedeutung von "frei", solchen Impulsen folgen zu können. ("Ich bin frei, die Beine übereinanderschlagen zu können.)

In denjenigen Reihen von vierzig Handlungen, in denen die Versuchsperson über keine Vorausplanung des Handlungszeit­punkts berichtete, lag der Beginn der BPs (#II) bei -550 ms (vor der Muskelaktivierung). Man sollte beachten, dass der wirkliche Einleitungsprozess im Gehirn wahrscheinlich vor unserem ge­messenen Bereitschaftspotential beginnt, und zwar in einem unbekannten Areal, das dann das supplementäre motorische Areal in der Hirnrinde aktiviert. Das supplementäre motorische Areal liegt auf der Mittellinie in der Nähe des Scheitels und gilt als Quelle unseres gemessenen BPs.

Dazu ist anzumerken, daß die bei diesen Experimenten eingesetzte EEG-Technik nur die elektrische Aktivität in den oberen Schichten des cerebralen Cortex erfaßt. Gerade für das Starten einer Bewegung spielen aber subcortikale Kerne wie der Nucleus caudatus und die Substantia nigra eine bedeutende Rolle. Bei der Parkinson'schen Krankheit degeneriert die dopaminerge Bahn von der Substantia nigra zum Nucleus caudatus; ein diagnostisches Symptom dieser Krankheit ist der Verlust der Fähigkeit, eine Bewegung zu starten (Akinese). Die Vermutung liegt nahe, daß beim Starten einer Willkürbewegung Aktivität in der nigrostriatalen Bahn der Aktivität im motorischen Cortex vorausgeht. Bisher ist es meines Wissens nicht gelungen, eine solche zeitliche Abfolge mit tiefer reichenden Meßtechniken (MEG, fMRI) zu demonstrieren, wegen Problemen mit der räumlichen (MEG) bzw. zeitlichen (fMRI) Auflösung dieser Verfahren.--Bergerml 18:55, 15. Nov 2006 (CET)
L BP.JPG

Abb.4.2. Bereitschaftspotentiale (BP), die selbst eingeleiteten Willenshandlungen vorausgehen. Jede horizontale Reihe ist der von einem Computer berechnete Durchschnitt des elektrischen Potentials, gemessen mit einer aktiven Elektrode auf der Kopfhaut, entweder auf der Kopfspitze in der Mitte bei den Versuchsperso­nen G. L. und S. B. oder auf der linken Seite (kontralateral zur ausführenden rechten Hand) über dem motorischen/prämotorischen Rindengebiet, das die Hand steuert, bei der Versuchsperson S.S.

Wenn jede Handlung (schnelle Beugung des Handgelenks) in der Reihe von 40 Versuchen subjektiv so erlebt wurde, dass sie spontan und ohne vorherige Planung durch die Versuchsperson auftrat (bzw. wenn die Versuchspersonen über ein sol­ches Erleben berichteten), wurden BPs vom Typ II festgestellt. Wenn über ein Vor­ausplanen der Handlung irgendwann innerhalb der nächsten Sekunde berichtet wurde, wurden BPs vom Typ I gemessen.

In der Spalte, die mit S bezeichnet ist, wurde ein nahe am Schwellenwert liegen-der Hautreiz bei jedem der 40 Versuche verabreicht, und zwar zu einer zufälligen Zeit, die die Versuchsperson nicht kannte. Die Versuchsperson wurde gebeten, die Zeit ihres Bewusstwerdens jedes Reizes zu erinnern und nach jedem Versuch zu berichten. Das hatte Ähnlichkeit mit dem Bericht über das Bewusstwerden der Bewegungsabsicht. Das große positive EBP (ereignisbezogene Potential), das eine Spitze bei 300 ms nach dem Reiz erreicht, wird gewöhnlich dann beobachtet, wenn Unsicherheit über den Reiz herrscht (in diesem Fall über den Zeitpunkt).

Die dicke vertikale Linie in jeder Aufzeichnung stellt den Nullzeitpunkt dar, zu dem die Aktivierung des Muskels in den BP-Reihen begonnen hat (angezeigt durch ein Elektromyogramm, EMG) oder zu dem der Reiz im Fall der S-Reihe ver­abreicht wurde. Aus Libet et al., 1982.

W-Werte für Zeitpunkte des ersten Bewusstseins eines Hand­lungswunsches lagen bei allen Versuchsreihen im Durchschnitt um -200 ms. (Dieser Wert könnte auf -150 ms durch den beim Berichten auftretenden Fehler von -50 ms, der bei den S-Reihen (Hautreize) gefunden wurde, korrigiert werden.)

Das ist nicht nur ein Zeitfehler. Die Versuchspersonen scheinen die Reizung vor der faktischen Reizung zu berichten. Das ist erklärungsbedürftig.

Die W-Zeiten waren dieselben, ob sie mit BP I oder BP II assoziiert waren. Die W-Zeiten waren also dieselben, gleichgültig ob der Zeitpunkt der Handlung vorausgeplant wurde oder nicht! Das wies darauf hin, dass der am Ende stattfindende Willensprozess (»jetzt zu handeln«) bei etwa -550 ms beginnt; er ist derselbe, gleichgültig ob er völlig spontan ist oder ob ihm Überlegungen oder eine Vorausplanung vorhergeht. Dieser Prozess könnte das Merkmal des »Jetzt-Handelns« innerhalb eines Willensprozesses sein, und die Ereignisse, die dieses Merkmal betreffen, sind ähnlich, und zwar unabhängig von der Vorausplanung.

Libet operiert mit einem Willensprozess, der in zwei Varianten auftreten kann, geplant und spontan. In beiden gibt es eine Phase des Übergangs zur "Handlung". Was macht den Unterschied bei geplanten Aktionen? Wie lange vorher kann man das messen? Wenn die Planung Teil einer Handlung ist, entsteht die Frage, ob das die Funktion der Phase des Handlungsübergangs verändert.
Zwischen völliger Spontaneität und Vorausplanung wird kein Unterschied sichtbar. Dann sind auf dieser Ebene Willküraktionen und Planungen nicht auseinanderzuhalten. Dann fällt in Libets Begriff von Freiheit das Daumenschnippen mit dem überlegten Tätigkeiten zusammen.
Was kann man unter einem Willensprozess im Millisekundenbereich verstehen, der einzig durch eine Selbstzuschreibung von Versuchspersonen bestätigt wird?

Der Prozess des »Jetzt-Handelns« sollte von Überlegungen und einer im Voraus getroffenen Entscheidung bezüglich des Vollzugs einer Handlung unterschieden werden. Man kann schließlich den ganzen Tag nachdenken und doch nicht handeln. Wir haben die Phase des Nachdenkens beim Willensprozess nicht untersucht, außer was das gelegentliche Vorausplanen des Handlungs­zeitpunkts durch unsere Versuchspersonen angeht.

Wieviel Überlegung ist nötig, damit Zucken eine Handlung wird? Unter welchen Voraussetzungen kann man von "Handeln" sprechen, wenn die passende Vorgeschichte fehlt?


Über die Bedeutung unserer W-Zeiten wurden verschiedene Fragen aufgeworfen. Da wir Belege für eine Verzögerung (bis zu 500 ms) der Entwicklung einer bewussten sensorischen Erfah­rung präsentiert haben, könnte das Bewusstsein der Uhrzeit weit vor dem berichteten bewussten W angefangen haben. Unsere Versuchspersonen wurden jedoch gebeten, sich die Uhrzeit zu merken, die mit ihrem ersten Bewusstwerden der Handlungsab­sicht verbunden war; sie wurden nicht gebeten, die Zeit zu berichten, zu der sie sich dieser Verbindung bewusst wurden. Wahrscheinlich gab es eine Verzögerung von bis zu 500 ms, bevor dieser Zeitpunkt bewusst wurde; aber die automatische Rückdatierung auf das ursprüngliche sensorische Signal der assoziierten Uhrzeit würde es der Versuchsperson gestatten, den Eindruck zu haben, sie wäre sich des Zeitpunkts der Assoziation bewusst gewesen. Auf jeden Fall haben wir keine Schwierigkeit damit, eine Uhrzeit ziemlich korrekt abzulesen, wie man an un­seren Tests der berichteten Zeiten einer Hautreizung sieht.

Eine interessante Komplikation: es muss ja ein Bewusstsein der Uhrzeit geben, bevor man sich die Uhrzeit merken kann, die - nach Versuchsanordnung - mit der "inneren Wahrnehmung" des Willens zum Fingerschnippen assoziiert ist. Das Bewusstsein der Verbindung von Uhrzeit und Willensbewusstsein ist nochmals ein anderes Thema. Wie soll man diese Schichtungen in den Mikrosekundenbereich bringen? Es scheint sich eher um systematische Rekonstruktionen zu handeln.

Robert Doty (persönliche Mitteilung) brachte eine andere mögliche Fehlerquelle bei der Interpretation unserer W-Werte zur Sprache. Diese bezieht sich auf den »Bedarf« an zusätzlicher Zeit, die man braucht, um die Aufmerksamkeit auf eine andere Aufgabe zu lenken. Die zusätzliche Zeit, die für den Übergang von einer Aufgabe zu einer anderen nötig ist, kann bis zu l00 ms oder in einigen Fällen viel länger sein. Bezogen auf unseren Fall »kann man nicht gleichzeitig auf die introspektive Welt der Ent­scheidung (zu handeln) und auf die Stellung des Punktes (Uhrzeit) auf dem KSO (Kathodenstrahloszilloskop) achten.« Doty schlug dann vor, dass der freie Wille der Versuchsperson das BP in Gang setzt; wenn die Aufmerksamkeit auf die Oszilloskopuhr gerichtet wird, entsteht eine Verzögerung beim Übergang zu die­ser Aufgabe. Das könnte zu einem verspäteten Bericht von W für ein Ereignis führen, das tatsächlich beim Beginn des BP beob­achtet wurde.

Meine Antwort auf das Argument mit dem Übergang von ei­ner Aufgabe zur anderen ist folgende: (1) Die Verzögerung von W gerechnet von BP II war, unter Berücksichtigung der Korrek­tur, 400 ms. Das ist länger als der gewöhnliche Zeitbedarf für das Wechseln zwischen Aufgaben, selbst wenn es hierbei eine solche Verzögerung geben sollte. (2) Die Bedingungen bei unseren Ver­suchen waren ganz verschieden von denen, die man von Berich­ten über eine Verzögerung beim Aufgabenwechsel kennt. Bei letzteren Berichten fand der Aufgabenwechsel bei völlig separa­ten Versuchsdurchgängen statt. In unserem Fall hatte die Ver­suchsperson schon eine vollständige Anweisung vor dem Ver­such. Unsere Aufgabe, die im Voraus gestellt wurde, bestand darin, die Aufmerksamkeit auf das früheste Erlebnis des Hand­lungsdrangs oder -wunsches zu richten (W), während man stän­dig die »Uhr« betrachtet, so dass das Auftreten von W mit der Uhrposition verbunden wird. Das geschah alles in ein und demselben Versuch bei solchen Anforderungen, die sich von denen unterschieden, die dafür bekannt sind, dass sie eine Verzögerung beim Wechsel verursachen. (3) BP I (d. h., wenn der Handlungs­zeitpunkt vorausgeplant wurde) fing bei etwa -800 bis -1000 ms an; BP II (d. h. spontane ungeplante Handlungen) begann bei etwa -550 ms. Die W-Werte waren jedoch in beiden Fällen dieselben und lagen ohne Fehlerkorrektur bei -200 ms. Das bedeu­tet, dass die Ws auf den Beginn von BP I nach 600 bis 800 ms folgen, während sie auf BP II nach 350 ms folgen. Beide Arten von Versuchen beinhalten ähnliche Aufgaben und einen ähn­lichen Zeitbedarf beim Aufgabenwechsel, wenn das hier der Fall sein sollte. Dann aber kann man den Unterschied in den BP-W ­Intervallen nicht so erklären, wie Doty es vorschlägt. Es kann also nicht so sein, dass W das BP tatsächlich in Gang setzt, aber viel später nach dem Beginn von BP I als nach dem Beginn von BP II erscheint, wenn der Zeitbedarf für den Aufgabenwechsel in beiden Fällen derselbe ist. (4) Schließlich scheinen die Versuche mit Hautreizen (statt Bewegungen) die Hypothese der Verzögerung beim Aufgabenwechsel auszuschließen. Die Aufgaben bei den Versuchsreihen mit den Reizen waren im Wesentlichen dieselben wie die bei den Versuchsreihen mit den Willenshandlun­gen. Die Versuchspersonen sollten den sich bewegenden Fleck auf der »Uhr« beobachten und sich die Stellung dieses Flecks merken, wenn sie die schwache Hautempfindung spürten, die von dem Reiz zu unregelmäßig verschiedenen Zeiten bei ver­schiedenen Versuchen erzeugt wurde. Die Versuchspersonen gaben tatsächlich Uhrzeiten an, die sehr nahe bei dem tatsäch­lichen Zeitpunkt der Verabreichung des Reizes lagen; die Angaben lagen im Durchschnitt bei -50 ms, bezogen auf den tatsächlichen Zeitpunkt des Reizes. Dieser Grad von Korrektheit gestattet keine Verzögerung für den Aufgabenwechsel, die im Bereich von hunderten von Millisekunden liegt.




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