Wolfgang Wieland zur sinnlichen Gewissheit

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Wolfgang Wieland: Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit

[Aus: Orbis scriptus Dmitrij Tschiiewskij zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. v. D.Gerhardt u.a. München 1966. 933ff. Anschließend an die Seitenangaben zur Phänomenologie - werden in runde Klammern gesetzt - die entsprechenden Seitenzahlen der Hoffmeisterschen Ausgabe vermerkt.]

I

Die Schwierigkeiten, die sich bei jedem Versuch einer Interpretation von Hegels erstem Hauptwerk, der >Phänomenologie des Geistes<, bieten, haben ganz verschiedene Gründe. Nur zum Teil nämlich gehen diese Schwierigkeiten auf die Eigenart des spekulativen Denkens zurück, die nicht nur hier eine Modifikation des sonst üblichen Argumentationsstils notwendig zu machen scheint. Dieses spekulative Denken ist - was oft nicht genügend berücksichtigt wird - nicht von der Art, daß man es durch »Anwendung« eines mehr oder weniger komplizierten formalen Schemas auf einen von ihm unabhängigen Inhalt üben könnte.

Wer von einer Methode fordert, daß sie solche gegenüber den jeweiligen Inhalten gleichgültige Schemata an die Hand gibt, wird bei Hegel vergeblich nach einer Methode des Denkens suchen: er ist einem epigonalen Mißverständnis zum Opfer gefallen. Hegel zwingt noch mehr als die meisten anderen großenDenker dazu, jede seiner Argumentationen für sich,auf ihre Struktur hin zu untersuchen. Hegels eigene Hinweise auf den Weg seines Denkens, etwa seine Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs, die Lehre vom spekulativen Satz oder gar die absolute Vorstellung vom dialektischen Dreischritt, können, richtig verstanden, niemanden der Mühe der geduldigen Einzelanalyse, die sich durch keine Formalstruktur, vorwegnehmen läßt, entheben. Trotzdem, vielleicht aber auch gerade deshalb, ist die Hegelliteratur sehr arm an Detailinterpretationen von Textstücken, in denen der Interpret Satz für Satz und Wort für Wort dem Gedanken folgt.

Man hält sich gedankenlos allzu oft an den bekannten Satz Hegels, wonach das Wahre das Ganze ist; man übersieht aber sehr leicht, daß es nicht möglich ist, dieses Ganze in einem unmittelbaren Zugriff in Besitz zu nehmen. Wer dies glaubt, reduziert Hegel auf eine Position, die seine Philosophie nach ihrem ausdrücklichen Selbstzeugnis überwunden zu haben beansprucht.

Die besonderen Schwierigkeiten der Phänomenologie des Geistes hängen nicht zuletzt damit zusammen, daß die Beziehung sehr schwer zu bestimmen ist, die dieses Werk zu dem auf die >Wissenschaft der Logik< gegründeten System Hegels einnimmt. Man kann schwerlich behaupten, daß es bis jetzt gelungen wäre, eine der vielen Meinungen zu dieser Frage wirklich überzeugend zu begründen. Dazu kommt, daß Hegels eigene Auffassung von der Natur dieser Beziehung offensichtlich einer Entwicklung unterworfen war. Mochte Hegel zunächst die Phänomenologie des Geistes auch als Einleitung in das System konzipiert haben -, später neigte er dazu, in der Logik die philosophische Fundamentaldisziplin zu sehen, die selbst einer Begründung nicht nur nicht bedarf, sondern ihrer noch nicht einmal fähig ist. Dann fragt sich allerdings, was für eine Funktion das Unternehmen einer >Phänomenologie des Geistes noch erfüllt. Aber Sachfragen lassen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man nur noch genetische Probleme erörtert. Denn auch die Ergebnisse einer genetischen Untersuchung können philosophisch nur dann relevant sein, wenn die Wahrheitsfrage nicht von Anfang an ausgeklammert worden ist.

So kann man nur schwer angeben, was Hegels Phänomenologie nun eigentlich ist. Der Untertitel »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« scheint einen ersten Hinweis darauf zu geben. Doch wie sieht dieser Weg aus, der durch die Reihe der Erfahrungen des Bewußtseins gebildet wird? Lassen sich seine einzelnen Etappen aus sich selbst und aus den jeweils vorhergehenden Etappen verstehen oder sind siealle, angefangen mit der sinnlichen Gewißheit, nur im Hinblick auf das Ende des Weges im absoluten Wissen zu begreifen? Setzt die >Phänomenologie des Geistes< zu ihrem Verständnis das ganze System bereits voraus oder handelt es sich bei ihr um den Versuch einer philosophischen Letztbegründung allen Wissens, die wir auch nach dem heute üblichen Sprachgebrauch noch als »phänomenologisch« bezeichnen müssen? _ Vielleicht ist es zweckmäßig, solche Fragen wenigstens einmal vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Man wird sie ohnehin nicht eher in angemessener Weise beantworten können, als man es gelernt haben wird, jenes eigentümliche Begriffsstenogramm, das der Text der >Phänomenologie des Geistes ist, zu entziffern. Davon sind wir heute noch weit entfernt: Es ist offenbar leichter, über das Ganze mehr oder weniger angemessene Behauptungen zu formulieren, als einen einzelnen Gedankenschritt so verständlich zu machen, daß man ihn nachvollziehen kann.

II

Besonders der Anfang der >Phänomenologie des Geistes<, nämlich die Dialektik der sinnlichen Gewißheit, setzt dem Verständnis oft einen scheinbar unüberwindlichen Widerstand entgegen. Auf den ersten Blick ist denn auch das, was hier dem Bewußtsein zugemutet wird, kaum zu rechtfertigen. Man vergegenwärtige sich: Auf die Frage »was ist das Jetzt?« kommt die Antwort »das jetzt ist die Nacht«. Eine wahre Antwort kann durch Aufschreiben nichts von ihrer Wahrheit verlieren. Schreiben wir nun diese Wahrheit auf, so machen wir, wenn wir sie am nächsten Mittag betrachten, die Erfahrung, daß sie, wie Hegel sagt, schal geworden ist. (Anm.1) - jeder fühlt natürlich,. daß hier nicht alles ganz mit rechten Dingen zugeht. Wer logisch geschult ist, hat es nicht sehr schwer, die Punkte, hinsichtlich derer sich Bedenken ergeben, genau zu bezeichnen. Doch man wird Hegel nicht gerecht, wenn man ihm logische oder semantische Fehler nachweist und nicht gleichzeitig die Möglichkeit in Rechnung stellt, daß er diese Fehlerhaftigkeit selbst gekannt und berücksichtigt hat. Daß man aus Fehlern lernen kann, ist bekannt. Dies kann so geschehen, daß man seinen Ursprung erkennt; es kann aber auch so geschehen, daß man zwar nicht durch einen Fehler, wohl aber bei Gelegenheit eines solchen eine neue Erfahrung macht, die das Interesse an seiner logischen Auflösung ganz zurücktreten läßt. Beispielsweise lassen sich manche Stellen in Platons Dialogen auf diese Weise deuten.

Eine Orientierung an der platonischen Dialogtechnik kann uns in der Tat hier weiterhelfen. Denn was am Anfang von Hegels Phänomenologie geschieht, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht wenig von dem, was Protreptik und Elenktik in den frühen Platondialogen zustande bringen Man wird also einmal von der Hypothese ausgehen dürfen daß Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit in Analogie zu jener frühplatonischen Dialektik zu verstehen ist, (Anm.2) zu der - mindestens - zwei Partner nötig sind. Es wird nun überraschen, daß wir in der Dialektik der sinnlichen Gewißheit ebenfalls zwei Partner, gleichsam stilisiert, vorfinden: In Hegels Gedankengang kommt nicht nur die sinnliche Gewißheit, das unmittelbare Wissen selbst vor, sondern ebenso auch wir, die wir dieses unmittelbare Wissen zum Gegenstand der Betrachtung machen: (Anm.3)

 »Wir haben uns eben so unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern, und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten«. (Anm.4)

Der nun folgende Abschnitt beschreibt diese sinnliche Gewißheit so, wie wir sie sehen: sie erscheint als die reichste Erkenntnis, wenn ihr Inhalt betrachtet werden soll, nämlich »ebensowohl, wenn wir im Raume und in der Zeit, worin er sich ausbreitet hinaus-, als wenn wir uns ein Stück aus dieser Fülle nehmen, und durch Theilung in dasselbe hineingehen«. Die sinnliche Gewißheit erscheint ferner als die wahrhafteste Erkenntnis, weil sie ihren Gegenstand so läßt, wie er ist, und noch nichts von ihm weggenommen hat.

Doch das gilt nur, solange wir die unmittelbare sinnliche Gewißheit zum Gegenstand der Untersuchung machen. Denn in der angegebenen Weise erscheint sie nur uns. Ein Fortschritt im Gang der Untersuchung ergibt sich erst, wenn wir fragen, wie sich die sinnliche Gewißheit selbst versteht. Sie ist nämlich, wie man leicht sieht, kein transzendentales oder reines Bewußtsein, sondern eine Bewußtseinsform von der Art, daß sie Aussagen machen und, wie sich später zeigen wird, auch Fragen beantworten kann. Mag sein, daß uns die sinnliche Gewißheit als die reichste aller Erkenntnisweisen erscheint, wenn wir darauf achten, welche Aussagen wir über sie machen können, und wenn wir die Fülle ihrer möglichen Inhalte ansehen. Anders aber sieht es aus, wenn wir die sinnliche Gewißheit selbst anhören. »Diese Gewißheit aber giebt in der That sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus«. Das bedeutet nicht, daß das Bewußtsein im Modus der sinnlichen Gewißheit eine Aussage dieser Art selbst machen könnte. Was in diesem Satz gesagt ist, ist vielmehr nur das Ergebnis einer Reflexion, der wir die Aussagen unterwerfen, die die sinnliche Gewißheit macht. Denn die Gewißheit gibt sich selbst nur für die ärmste Wahrheit aus; Hegel sagt nicht, daß sie dies so von sich behaupte oder aussage. Denn: »Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dieß aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Seyn der Sache«. Gemeint ist damit folgendes: die Tatsache, daß die sinnliche Gewißheit von allen ihren Inhalten nichts anderes als allein das ärmste und leerste Prädikat - das Sein - aussagen kann, zeigt, daß für sie selbst der Reichtum, den wir an ihr zu sehen glauben, gar nicht vorhanden ist. So kann ihr Gegenstand für sie selbst immer nur ein bloßes »Dieses« sein, ohne alle weitere Bestimmung. Diese Diskrepanz zwischen dem Bild, das wir uns von der sinnlichen Gewißheit Machen, und der Selbstdeutung dieser Gewißheit provoziert den Fortgang der Erörterung.

III

Das reine Sein macht in dem angegebenen Sinn das Wesen der sinnlichen Gewißheit aus; anstatt vom »Wesen« kann Hegel hier gleichbedeutend auch von der »Wahrheit« sprechen. Diese Wahrheit zeigt sich indessen erst dann, wenn Aussagen gemacht werden; dennoch meint Hegel bei dem Wort »Wahrheit« keinen Wahrheitswert einer Aussage. Wenn für ihn das reine Sein die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit ist, so bedeutet dies nur, daß die sinnliche Gewißheit als solche von ihren Inhalten nichts prädizieren kann, es sei denn das bloße Sein. Zu diesem Ergebnis kommen aber erst wir mit unserer Reflexion; die sinnliche Gewißheit kann sich aus eigener Kraft nicht zu dieser Allgemeinheit erheben, sie ist vielmehr immer an ihren jeweiligen einzelnen Inhalt hingegeben. Wenn Hegel von der Wahrheit der sinnlichen Gewißheit spricht, geht es demnach nicht darum, ob die Aussagen, die die sinnliche Gewißheit macht, wahr sind oder unter welchen Bedingungen sie wahr sind; es geht vielmehr nur um den Inbegriff dessen, was in Aussagen solcher Art überhaupt ausgesagt werden kann. Dies bezeichnet Hegel mit einem Kategorialbegriff - hier mit dem Begriff des reinen Seins. So kommt es, daß »Wahrheit« in dem von Hegel verwendeten Sinn einem Begriff zukommt, aber trotzdem nur gefunden wird, indem man Aussagen betrachtet und über sie reflektiert.

Der nächste Abschnitt macht das bisher Erarbeitete zum Gegenstand der Betrachtung. »An dem reinen Seyn aber ... spielt, wenn wir zusehen, noch vieles andere beiher. Eine wirkliche sinnliche Gewißheit ist nicht nur diese reine Unmittelbarkeit, sondern ein Beispiel derselben«. Wichtig ist hier der Zusatz »wenn wir zusehen«. Die sinnliche Gewißheit weiß noch nicht von allein, daß sie es immer mit Beispielen zu tun hat, die ein Allgemeines nur repräsentieren. Das heißt: sie kann noch nicht das Beispiel als Beispiel sehen. Auch die Unterscheidung zwischen Ich und Gegenstand, sowie die Vermittlung von beiden - die Tatsache, daß sie aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig fordern - wird von uns an der sinnlichen Gewißheit und nicht von dieser selbst gefunden und festgestellt.

Nun heißt es freilich sogleich: »Diesen Unterschied des Wesens und des Beispiels, der Unmittelbarkeit und der Vermittelung machen nicht nur wir, sondern wir finden ihn an der sinnlichen Gewißheit selbst, und in der Form, wie er an ihr ist, nicht wie wir ihn soeben bestimmten, ist er aufzunehmen«. Es handelt sich also jetzt nicht nur um das Ergebnis einer äußeren Reflexion. Wir müssen versuchen, auch in dieser Hinsicht die sinnliche Gewißheit zum Reden zu bringen. Die Unterscheidung von Wesen und Beispiel kommt also nicht ganz von außen; sie wird nicht an die sinnliche Gewißheit herangetragen, sondern wir finden sie an ihr. Immerhin ist auch hier zu berücksichtigen, daß wir es sind, die den Unterschied finden; wir finden ihn aber erst, nachdem wir ihn gesucht haben. Wenn wir nun sehen, wie die sinnliche Gewißheit die Beziehung von Ich und Gegenstand vor aller Reflexion über sie versteht, so finden wir von jener wechselseitigen Vermittlung, von der die Rede war, nichts mehr vor. Denn die sinnliche Gewißheit läßt das Ich als ein gegenüber dem Gegenstand Unwesentliches zurücktreten. Für sie ist jedes Wissen ein Wissen von einem Gegenstand, jedoch in der Weise, daß der Gegenstand als etwas dem Wissen gegenüber Selbständiges erfahren wird. Es ist jenes Weltverständnis, das man in der erkenntnistheoretischen Diskussion als naiven Realismus zu bezeichnen pflegt: die Dinge sind und bleiben das, was sie sind, unabhängig davon, ob sich das erkennende Bewußtsein auf sie richtet oder nicht. Man kann nach dieser Auffassung die Dinge so, wie sie sind, erkennen. Das Wissen ist zwar auf die Dinge angewiesen, die Dinge hingegen nicht auf das Wissen. Das ergibt sich vielmehr erst durch unsere Reflexion.

Zum zweiten Male bereits ist also die Situation entstanden, daß unsere Auffassung von der sinnlichen Gewißheit zu deren Selbstdeutung im Gegensatz steht. Nur hatten wir beim ersten Mal selbst unsere Auffassung korrigieren können, nachdem für uns die sinnliche Gewißheit selbst an ihren Aussagen greifbar geworden war. Jetzt aber soll umgekehrt die sinnliche Gewißheit selbst dazu gebracht werden, das Unzureichende ihres Wirklichkeitsverständnisses von ihren eigenen Voraussetzungen aus einzusehen und zu korrigieren. Das kann indes nicht so geschehen, daß sie nur von uns belehrt würde über Ergebnisse, zu denen wir erst auf dem Wege der Reflexion gekommen sind. Hier gilt immer nur die Einsicht, zu der das Bewußtsein selbst gekommen ist. Die sinnliche Gewißheit kann indes nicht auf sich selbst reflektieren, und daher müssen wir nach einem anderen Weg suchen, der dahin führt, daß die Selbstdeutung der sinnlichen Gewißheit als Selbsttäuschung entlarvt wird.

Hier beginnt das schon erwähnte Experiment, bei dem die beiden Partner in eine dialogische Situation eintreten. Die sinnliche Gewißheit wird von uns gefragt, und dies auf gezielte Weise. Doch die Gewißheit selbst kann dies jetzt noch nicht überschauen. Es wird nach dem »Dieses« gefragt und, da es in zwei verschiedenen Gestalten vorkommt, sofort nach dem Hier und dem Jetzt: in ihnen sieht das Bewußtsein jene unmittelbare Wirklichkeit, die auf ein Ich oder eine Subjektivität nicht angewiesen ist. Das Spiel beginnt mit der Wesensfrage: »was ist das Jetzt?« Die Wesensfrage wird als solche nicht erfaßt, wie sich an der Antwort zeigt: »das jetzt ist die Nacht«. Nun ist allerdings gesagt, daß wir die Antwort geben. Eine hier möglicherweise auftauchende Schwierigkeit verschwindet, wenn man bedenkt, daß wir uns hier ja gerade auf den Standpunkt der sinnlichen Gewißheit gestellt haben und von diesem Standpunkt aus die Frage sogleich beantworten. (Anm.5) Wenn es sich schon um eine stilisierte Dialogsituation handelt, so macht es wenig aus, ob man den Dialog mit einem realen Partner führt oder aber mit sich selbst, vorausgesetzt, man kann die beiden Bewußtseinsstufen voneinander unterscheiden. Die Dialektik ist hier also ihrer Form nach ein Spiel von Frage und Antwort. (Anm.6)

Es entspricht der Naivität der sinnlichen Gewißheit recht gut, wenn sie von den Komplikationen einer gezielten Was-Frage noch ebensowenig weiß wie von den Schwierigkeiten, die sich durch eine Substantivierung - »das Jetzt« - ergeben können, wenn man den ursprünglichen Funktionssinn des Wortes »jetzt« dabei vergißt. Die Antwort auf die Wesensfrage nennt also nur ein Beispiel -, ein häufiger Eröffnungszug in den platonischen Dialogen. (Anm.7) - Die Analyse des Beispiels führt weiter: Wir schreiben die Wahrheit auf: denn auch die sinnliche Gewißheit wird ohne weiteres der Voraussetzung zustimmen, daß eine Wahrheit nicht dadurch aufhört, Wahrheit zu sein, daß man sie aufschreibt und aufbewahrt. Doch am nächsten Mittag ist jene Wahrheit schal geworden.

Auf diese Weise macht das Bewußtsein die Erfahrung, daß das, was es zunächst als Wahrheit ausgegeben hatte, seinem eigenen Anspruch nicht genügen kann. Die Wahrheit ist gerade nicht im konkreten jetzt zu finden: es zeigt sich, daß das jetzt als solches zwar bleibt, daß aber das andere, dem das Jetztsein nur zukommt, dem Wandel unterworfen ist wie in unserem Beispiel die Nacht oder der Mittag. »Das Jetzt selbst erhält sich wohl, aber als ein solches, das nicht Nacht ist«.

So fragwürdig, vom Standpunkt des reflektierenden Bewußtseins aus betrachtet, auch die logischen Mittel sein mögen, mit Hilfe derer das Bewußtsein zu dieser Erfahrung gebracht wird - auf andere Weise hätte ihm diese Erfahrung schwerlich vermittelt werden können, da ihm die Unterscheidungsgesichtspunkte der Reflexion noch nicht zur Verfügung stehen. Auf dem Weg über unsere gezielte Frage und über den Versuch, die hier gewonnene vermeintliche Wahrheit durch Aufschreiben und Aufbewahren festzuhalten, hat die sinnliche Gewißheit die Erfahrung gemacht, daß das jetzt in Wahrheit ein Allgemeines ist; alles, was sie zunächstals unmittelbares Seiendes angesehen hatte, hat nunmehr auch für sie nur noch die Funktion eines Beispiels. Insofern die sinnliche Gewißheit die Sprache benutzt, hat sie es immer schon mit dem Allgemeinen zu tun, auch wenn sie das nicht weiß. Sie meint wohl, mit dem Einzelnen zu tun zu haben; aber indem sie versucht, darüber zu reden, macht sie die Erfahrung, daß das Einzelne als solches gar nicht aussagbar ist. In diesem Fall sagt man also notwendig immer etwas anderes als man meint: »Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das wahrhaftere; in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar unsere Meinung, und da das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit ist, und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Seyn, das wir meinen, je sagen können«. (Anm.8)

Ein entsprechendes Spiel wird mit dem »Hier« durchgeführt. Die sinnliche Gewißheit macht auch hier die Erfahrung, daß nicht das unmittelbare Einzelne im Hier das Wesentliche und Bleibende ist. Gerade umgekehrt zu ihrer ursprünglichen Annahme gilt: beim Hier und beim Jetzt ist nicht der jeweilige Gegenstand das Bleibende, sondern allein das Ich. Was auch immer jetzt und hier ist: es kann immer nur für ein Ich jetzt und hier sein. - Beim Ich zeigt sich aber in ähnlicher Weise, daß es als Einzelnes nicht aussagbar ist. Was ausgesagt werden kann, ist auch im Falle des Ich nur ein Allgemeines: »Die sinnliche Gewißheit erfährt also, daß ihr Wesen weder in dem Gegenstande noch, in dem Ich ... ist; denn an beiden ist das, was Ich meine, vielmehr ein Unwesentliches, und der Gegenstand und Ich sind allgemeine, in welchen dasjenige Jetzt und Hier und Ich, das ich meine, nicht bestehen bleibt, oder ist«.(Anm.9) Das Wesentliche der sinnlichen Gewißheit läßt sich also nicht einseitig im Subjekt finden; es liegt vielmehr im Ganzen seines Weltverhältnisses. Das Einzelne auf der subjektiven Seite läßt sich ebensowenig aussagen wie das Einzelne auf der objektiven Seite. Es läßt sich nur noch zeigen, und zwar wird es uns gezeigt.

IV

Hegel bezeichnet schon in diesem Abschnitt den Weg des Bewußtseins mit Hilfe des Wortes »Dialektik«. Es ließ sich zeigen, daß für diese Art von Dialektik der Gegensatz zwischen zwei Partnern, nämlich dem Bewußtsein in der Weise der sinnlichen Gewißheit und uns konstitutiv ist. Wir können uns dabei zwar in dieses Bewußtsein versetzen, aber wir können andererseits auch einen Dialog mit ihm führen, schließlich können wir auch noch darüber reflektieren. Wenn man hier die frühplatonische Dialektik zum Vergleich heranzieht, dann kann man dies nicht nur in Hinblick auf die dialogische Situation als solche tun, sondern vor allem auch im Hinblick darauf, daß es sich hier um ein Analogon zu jener Form der Gesprächsführung handelt, die Platon im Blick auf Sokrates in Abgrenzung gegen die Diskussionsspiele der Sophisten entwickelt hat: es geht nicht darum, mit einer im voraus formulierten These recht zu behalten, sondern darum, in gemeinsamer Bemühung zu einer Einsicht zu kommen.(Anm.10) Dabei ist es durchaus möglich, daß ein Partner eine zunächst eingenommene Position auch wieder aufgibt, ohne daß dadurch schon der Dialog »entschieden« d.h. beendet wäre.

Platoniker ist Hegel in der Phänomenologie aber auch noch in anderer Hinsicht: es wird nur dann etwas als Einsicht akzeptiert, wenn das Bewußtsein selbst darauf gekommen ist. Nichts anderes ist gemeint, wenn Hegel von der Erfahrung des Bewußtseins spricht: die Phänomenologie will den Weg dieser Erfahrung nachzeichnen, aber sie will weder formgerechte Deduktionen liefern, noch sich mit bloßen Reflexionen über das Bewußtsein zufriedengeben. Freilich kann es sich auch hier nicht um eine naive Rezeption Platons handeln; dazu war sich Hegel viel zu sehr der Verschiedenheiten in den Ausgangspunkten bewußt. Was zwischen Hegel und Platon steht, ist im Hinblick auf unsere Frage vor allem die von Descartes begründete Philosophie der Subjektivität, insbesondere die Philosophie Kants, Fichtes und Schellings. Die neuzeitliche Philosophie der Subjektivität versucht zunächst, alles Wissen aus dem Bewußtsein zu begründen; sodann unternimmt sie es aber auch, dieses selbst auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin zu untersuchen: Das Bewußtsein wird aus Prinzipien deduziert, doch dem gewöhnlichen Bewußtsein bleibt seine Herkunft aus jenen Prinzipien dunkel.Hegels Phänomenologie ist nun zwar ebenso Bewußtseinsphilosophie wie die Philosophie seiner Vorgänger. Worauf es Hegel hier aber vor allem ankommt, ist dies: er will das Bewußtsein nicht nur zum Gegenstand der Reflexion machen, sondern er will es mit allen seinen Erfahrungsmöglichkeiten an seiner Theorie selbst beteiligen. So steht das Bewußtsein, das die Theorie macht, dem Bewußtsein, über das es die Theorie macht, nicht mehr unvermittelt gegenüber. Das Bewußtsein ist auch nach idealistischer Auffassung nichts, was aus sich selbst verständlich wäre. Hegel versucht indes nicht, das Bewußtsein auf Grund dieser Tatsache aus einem höheren Prinzip zu deduzieren, sondern er sucht einen Weg, der es dem unmittelbaren Bewußtsein gestattet, seine Abhängigkeiten und Verflechtungen schrittweise selbst einzusehen. Das gilt im Grunde für den ganzen Weg des Bewußtseins bis hin zum absoluten Wissen. Der Hiatus zwischen dem gewöhnlichen Bewußtsein und den Prinzipien, die in seinem Rücken stehen, wird so aufgehoben. So konnte es für Hegel naheliegen, platonische Denkformen auf dem Boden der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität zu wiederholen. Sie vermögen den für den frühen Hegel zentralen Gegensatz zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion zu überbrücken.

Man könnte noch einige andere platonische Elemente in Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit aufweisen: Wenn Hegel zu zeigen sucht, daß wir uns letztlich selbst widersprechen, wenn wir glauben, von einzelnen sinnlichen Dingen reden zu können, ohne das Allgemeine im Blick zu haben,(Anm.11) so nimmt er auch hier eine platonische Einsicht auf.

- Noch wichtiger ist jedoch dies: die sinnliche Gewißheit ist keine ungeschichtliche, abstrakte Bewußtseinsstruktur - etwa im Sinne eines kantlanischen »Bewußtseins überhaupt« -, sondern ein empirisches, konkretes und geschichtlich vermitteltes Bewußtsein, das schon in einer Welt - der von 1806 - lebt. Es handelt sich - analog zu den Figuren in den frühplatonischen Dialogen - um ein Bewußtsein, das schon vielerlei mitbringt, manches zu wissen glaubt, Vorurteile und Vormeinungen hat, ein Bewußtsein vor allem, das Rede und Antwort stehen kann. Dieses Bewußtsein ist bei Hegel durch das bestimmt, was er in seinen ersten Druckschriften als Entzweiung oder als »Dualismus in der Kultur der neueren Geschichte unserer nordwestlichen Welt«  bezeichnet. Diese Entzweiung zeigt sich besonders in dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität.(Anm.12) Das Bewußtsein, bei dem die Phänomenologie ansetzt, ist zugleich das des gemeinen Menschenverstandes. Hegel wußte von der Kontingenz der Inhalte dieses gemeinen Menschenverstandes; er hat ihn als Ausgangspunkt der spekulativen Untersuchung anerkannt, freilich als einen Ausgangspunkt, der überwunden werden muß. Der gemeine Menschenverstand glaubt im unmittelbaren Wissen eine Grundlage zu haben, die sich durch nichts erschüttern läßt.(Anm.13) Die Phänomenologie des Geistes entwickelt aber dann die Dialektik, die das Unwahre am gemeinen Menschenverstand in einer auch für ihn selber einsehbaren Weise aufdecken soll.

Die sinnliche Gewißheit ist nun allerdings auf das Absolute bezogen, und man ist leicht versucht, das Gesetz des Fortgangs in der Phänomenologie des Geistes mit dem Absoluten in Verbindung zu bringen oder aus ihm zu erklären. Das ist wohl zulässig, doch man darf dann im Absoluten keine im Hintergrund wirkende, gleichsam teleologisch steuernde Instanz sehen. Das Absolute ist vielmehr, wie Hegel es in der Einleitung zur Phänomenologie ausdrückt, »an und für sich schon bei uns«.(Anm.14) Dies muß aber in einem ausweisbaren Sinn auch schon für das unmittelbare Wissen und den gemeinen Menschenverstand gelten. Das Absolute ist nämlich insofern »bei uns«, als der Wahrheitsanspruch, der mit allen Formen und Gestalten unseres Wissens immer verbunden ist, seinem Wesen nach ein Absolutheitsanspruch ist, ob wir das wollen oder nicht.(Anm.15) Dieser Anspruch wird der Prüfung unterworfen, bei der sich zeigt, daß er nicht gerechtfertigt werden kann. Doch Hegel weiß, daß man einen Absolutheitsanspruch immer nur dann zurückweisen kann, wenn man einen neuen und anderen Absolutheitsanspruch erhebt. Weil das so ist, kann seine Philosophie zugleich Theorie des Absoluten und radikale Skepsis sein. Hegel geht davon aus, daß wir in allem unserem Denken, auch im trivialsten Bewußtsein, immer schon ein Absolutes vorausgesetzt haben, denn auch das trivialste Bewußtsein erhebt den Anspruch, im Besitz von Wahrheit zu sein. Freilich hält dieser Wahrheitsanspruch einer Prüfung nicht stand. Doch die Präsenz des Absoluten, von der die Einleitung spricht, kann auch in der Gestalt Vorliegen, daß nur ein Absolutheitsanspruch in der Form des Wahrheitsanspruchs erhoben wird. Der Weg der Erfahrung des Bewußtseins hat aber zur Folge, daß es seine Auffassung von der Wahrheit ständig korrigieren muß, wenn es nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten will.

Anmerkungen

(1) Vgl. II 83 (81). Zitate aus Werken Hegels beziehen sich auf die Jubiläumsausgabe, ed. H. Glockner, Stuttgart 1927 ff

(2) Vgl. dazu R. Robinson: Plato's Earlier Dialectic. 2nd ed., Oxford 1953 ; bes. 7 ff., 49 ff.

(3) Wer »wir« sind, wird im Text nicht gesagt. Sicher scheint mir zu sein, daß »wir« nicht die Position des absoluten Wissens einnehmen. Denn diese Redeweise dient auch bei Hegel zugleich dem Zweck, den Leser in unaufdringlicher Weise in den Gedankengang einzubeziehen. So sind »wir« eher eine Art sokratischer Instanz.

(4) II 81 (79). Die folgenden Textstellen sind alle dem Zusammenhang der Seiten 81-84 (79-82) entnommen.

(5) Die Möglichkeit dieser Deutung wird bestätigt durch eine Stelle II 84 (82): »... wir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in dieser sinnlichen Gewißheit meinen«. Vgl. auch eine Parallele aus einem anderen Zusammenhang, II 88 (85): »Wir müssen ... uns zu demselben diesem Ich, welches das gewißwissende ist, machen lassen«. Wir können also das Bewußtsein verstehen, weil wir uns immer auf seinen Standpunkt zu begeben vermögen. Das gilt aber nicht in umgekehrter Richtung: das Bewußtsein kann uns durchaus nicht immer verstehen.

(6) Vgl. dazu auch die Bestimmung der Dialektik in Schellings Weltaltern: »Diese Scheidung, diese Verdoppelung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwei Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein unwissendes, das aber Wissenschaft sucht, und ein wissendes, das aber sein Wissen nicht weiß, dieses stille Gespräch, diese innere Unterredungskunst, das eigentliche Geheimniß des Philosophen, ist es, von welcher die äußere, darum Dialektik genannt, das Nachbild, und wo sie zur bloßen Form geworden, der leere Schein und Schatten ist« (Fr.W.J. Schelling: Sämtliche Werke. Stuttgart 1861. Band VIII. 201).

(7) Vgl. Hegels Charakterisierung der platonischen Dialogtechnik: »der Autor läßt den Antwortet sprechen, was er (der Autor) will. Die Frage ist so auf die Spitze gestellt, daß nur ganz einfache Antwort möglich ist« (XVIII 185). (XIX. 26)

(8) In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kommt Hegel bei Gelegenheit der Behandlung der Megariker auf diese Zusammenhänge zu sprechen. Vgl. XVIII 143 f. (XVIII. 536f.) Vgl. dazu auch W. Purpus: Zur Dialektik des Bewußtseins nach Hegel. Berlin 1908, 45 f

(9) II 86 f. (84)

(10) Zur Unterscheidung des »harten« eristischen vom »weichen«  dialektischen Diskussionsstil vgl. bei Platon vor allem Menon 75 c8-d7.

(11) Vgl. II 90 (87): »Eine solche Behauptung (sc. das Seyn von außeren Dingen als diesen, oder sinnlichen, habe absolute Wahrheit für das Bewußtseyn) weiß zugleich nicht, was sie spricht, weiß nicht, daß sie das Gegenteil von dem sagt, was sie sagen will.«

(12) Vgl. I 44 ff., 47, 187. (II. 20f.; 22 f.; 184 f.) Descartes ist für Hegel historisch gesehen nicht der Urheber dieses Dualismus, sondern er hat nur in abstrakter Form ausgesprochen, wodurch diese Zeit in der nordwestlichen Welt ohnehin schon bestimmt ist.

(13) Hegel hat das Problem des unmittelbaren Wissens später noch einmal in systematischer Weise in der Enzyklopädie abgehandelt, VIII 164-184 (VIII. 148-168); zum Problem des Verhältnisses von gemeinem Menschenverstand und unmittelbarem Wissen vgl. S.168 f.

(14) II 68 (64) vgl. in der Differenzschrift I 55 f. (II. 30 f.)

(15) Der gemeine Menschenverstand hat eine Beziehung auf die absolute Totalität, wenngleich diese »im Innern und unausgedrückt« bleibt; vgl. I 56. (II. 31)





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