Wohlstandsverwahrlosung (JsB)
Inhaltsverzeichnis
- 1 Wohlstandsverwahrlosung
- 1.1 Was ist Wohlstandsverwahrlosung?
- 1.2 Wissenschaftliche Definition von Wohlstandsverwahrlosung
- 1.3 Ursachen für Wohlstandsverwahrlosung
- 1.4 Merkmalskatalog
- 1.5 Defizite und Schwachstellen der Persönlichkeit
- 1.6 Folgen von Wohlstandsverwahrlosung
- 1.7 Prävention von Wohlstandsverwahrlosung
- 1.8 Literatur
Wohlstandsverwahrlosung
Was ist Wohlstandsverwahrlosung?
Wohlstandsverwahrlosung beschreibt die seelische Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen. Der Begriff entstand aus der Zusammenziehung von Wohlstand und Verwahrlosung. In vielen Fällen hört man auch von Verwöhn – Verwahrlosung.
Wohlstandsverwahrlosung bedeutet eine Erziehung ohne Grenzen bezüglich materieller Dinge zu führen. Die Eltern sorgen für das materielle Wohl der Familie und Kinder, es fehlt aber an emotionaler Zuwendung und Liebe.
Wissenschaftliche Definition von Wohlstandsverwahrlosung
„Psychische Verwahrlosung/Vernachlässigung bei Kindern und Jugendlichen bei gleichzeitigen materiellen Überfluss.“
(Zöchling 1996, S.56)
Ursachen für Wohlstandsverwahrlosung
- Zeitgeist, Modeerscheinungen, aktuelle Tendenzen der Erziehung zum Wohlstand
- die Ungleichmäßigkeit der Reife: Überforderung durch ein „Viel-zu-früh“ in Orientierung, Lebensform, Wissen und Erfahrung und Unterforderung durch die so genannte „Käseglocke“ und ein zu-wenig in der emotionalen Förderung.
- Verminderte emotionale Tiefe und Dauer durch leistungsmäßige und emotionale Überforderung
Auf der Ebene des Lernens
- Die Lerntheoretische und sozialpsychologische Richtung der Psychologie verweist auf die Einflüsse des Modelllernens bei der Ausbildung von Verwahrlosungsstruktur und Verwahrlosungserscheinungen.
- Wir alle geben Modelle ab; imitiert werden dabei bevorzugt die Vorbilder die mit ihrem Verhalten Erfolg haben, sozial geschätzt sind und Anerkennung erfahren. Es spielt keine Rolle ob das erfolgreiche Modell „gutes“ oder „schlechtes“ Verhalten vorlebt.
Elternverhalten und Familienstruktur
- Angst vor der Verantwortung und Delegation (= Übertragung/ abgeben von) der Verantwortung
- Selbstverwirklichung: der Begriff wird missverstanden durch „Ich muss etwas für mich tun,ich brauche mehr Zeit für mich“ was wiederum schnell in die „Egoismus - Falle“ führt. Selbsterfahrung ist im wesentlichen eine Grenzerfahrung. Die Grenzen emotionaler und intellektueller Belastbarkeit betrifft vor allem die bewusste Auseinandersetzung mit Kindern.
- Elternverhalten ist vor allem Verhalten aufgrund einer Rollenerwartung: In unserer heutigen Zeit gibt es keine klar strukturierten Rollenbilder mehr, sondern individuelle Lösungen bzw. haben Mann und Frau gleichartige und gleichwertige Rollenidentifikationen. Viele Eltern verfolgen unterschiedliche Erziehungsrichtlinien, welche als mit verursachend bei der Entwicklung von Verwahrlosungsstrukturen gesehen werden. Dem Kind fehlen somit konsistente Richtlinien und Verhaltensanweisungen. Das Kind lernt daraus Kapital zu schlagen und agiert zwischen den Fronten das heißt, es spielt die Elternteile gegeneinander aus.
- Auflösungs- und Annäherungsprozesse der weiblichen und der männlichen Rolle endet häufig in frustrierten Beziehungserwartungen. Die Folgen sind emotionale Defizite. Oft tritt dann jene Situation ein, dass das Kind zu einer Art „Ersatz“ wird, d.h. das es nicht allein für das Glück der Eltern da ist, sondern dem Vater die Tochter als Mutter und der Sohn der Mutter als Ehemann.
- Das Kind lernt, dass es nicht um es selbst geht und lässt sich materiell dafür entschädigen,die Eltern denken sie können sich damit ihren Schuldgefühlen entledigen
- Hüh – und – Hott – Erziehung ist die Folge, d.h. an einem Tag wird etwas erlaubt was am nächsten Tag schon wieder nicht mehr gilt
- Die Unsicherheit der Eltern verstärkt die Unsicherheit der Kinder, Hilfe lässt sich in Erziehungsratgebern „finden“ die aufgrund unterschiedlicher Konzepte die Unruhe in Kindern nur noch mehr steigern und es innerlich noch mehr verwirren
- Ein weiterer Punkt ist der abwesende Vater bzw. die abwesende Mutter, der Druck Vater und Mutter zugleich zu sein führt zu Schuldgefühlen, welche in Verwöhnung und materiellen Ausgleich führen
Hauptursachen der Wohlstandsverwahrlosung
- Abwesender Elternteil
- Rollen- und Beziehungsprobleme
- Schuldgefühle materiell loszuwerden
Davor schützt auch nicht die nach außen hin präsentierte strukturell intakte Familie.
Der Versuch einer tiefenpsychologischen Erklärung
- Verwöhnung kann als Abwehrmechanismus dienen, wenn das Kind nicht so mitmacht wie geplant, wenn es den Erwartungen der Eltern nicht entspricht z.B.: soll nach außen hin heißen „Seht, wie ich mein Kind liebe.“
- Verwöhnung kann sich auch in der Overprotection – Haltung zeigen, die so genannte „Käseglocke“, dieser Schutz kann jedoch schnell zu einer Schädigung werden
Ein weiterer Bestimmungsversuch/ weitere Ursachen
- innere Verwahrlosung steht im Zusammenhang mit dem psychologischen Grunderlebnis des Misstrauens
- häufig wechselnde, widersprüchliche Beziehungs- und Umgebungsverhältnisse
- die Welt wird als unzuverlässig und unberechenbar erlebt
- Inkongruenz und Rollenunsicherheit
- häufig wechselnde Bezugspersonen die unterschiedlich erziehen
- abweichende partnerschaftliche Rollenerwartungen führen zum psychologischen Missbrauch des Kindes
(vgl. Zöllner 1997)
Merkmalskatalog
Redl und Winemann haben einen Merkmalskatalog zusammengestellt. Für sie lässt sich die psychologische Struktur der inneren Verwahrlosung als einen psychischen Defekt beschreiben.
- Extrem niedrige Frustrationstoleranz
Weil zu wenige Frustrationen gesetzt wurden, können auch keine Versagungen ertragen werden.
- Niedrige Versuchstoleranz
Auch ein Kind, das gewöhnt ist, sich alles erlauben zu können, kennt keine tragfähige innere Gewissensinstanz, weil es glaubt, ihm stehe immer und weiterhin alles zu.
- Gestörte Schuldgefühle
Entweder fehlen Schuld- und Gewissensgefühle ganz, weil sie nur auf der Basis von Beziehungen und Identifikationen zur Entwicklung kommen, oder sie treten übermächtig auf, können nicht adäquat verarbeitet werden und rufen Aggressionen hervor.
- Mangelnde Bewältigung von Unsicherheit und Angst
Es tritt ein starkes Überflutetsein von negativen Gefühlen auf, das zu Verweigerung, Flucht oder Angriff führt.
- Angst vor Routine
Regeln und Routinehandlungen können in ihrer sozialen und sachlichen Notwendigkeit nicht erkannt werden. Als erlebte Bedrohung eigener Wünsche und Handlungstendenzen rufen sie Aggressionen und Ablehnung hervor.
- Gestörter Planungshorizont
Zukunft wird entweder inadäquat erhöht gedacht als Projektionsebene für die Riesenwünsche und Selbsterhöhungen oder aber inadäquat angstauslösend, so dass jede Zukunftsorientierung verweigert wird.
- Gestörtes Erfahrungslernen
Mit der gestörten Realitätsanpassung hängt zusammen, dass Erfahrungen im Rahmen des gestörten Beurteilungshorizonts gedeutet werden und damit eine Verstärkung der Fehleinschätzung verbunden ist.
- Gestörte soziale Sensibilität
Aufgrund der beeinträchtigten Beziehungs- und Übertragungsfähigkeit kann sich der Verwahrloste nur mangelhaft einfühlen. Er nimmt Gefühle und Motive anderer Menschen nur unzureichend wahr und ist deshalb auch nur beschränkt fähig, Gruppenprozesse zu verstehen und sich zu integrieren.
- Hohe Ansprechbarkeit
Die Gefühlsauslösung gelingt leicht, die schwache Persönlichkeit kann sich nach außen nur unzureichend abgrenzen, eigene Willensentscheidungen treffen und durchsetzen. Die Beeinflussbarkeit durch äußere Reize ist beträchtlich. Weder dem Aufforderungscharakter von Objekten noch Gruppenprozessen oder Gruppendruck kann widerstanden werden.
- Unfähigkeit zum friedlichen Wettbewerb
Hier zeigt sich die Unfähigkeit zum Verlierenkönnen. Der Wettstreit wird vermieden oder artet in Kampf aus.
Wenn wir diesen Katalog genauer betrachten, so sehen wie darin einen Menschen beschrieben, der uns labil, widersprüchlich und schwach erscheint.
Von Angst und Aggressionen ist die Rede, von Bedrohtsein, vom Sich- nicht abgrenzen- Können, vom Auftrumpfen und vom Sich- Zurückziehen.
Defizite und Schwachstellen der Persönlichkeit
Wohlstandsverwahrlosung zeigt sich im Ich- Verlust
Diese Menschen haben eine Persönlichkeit, bei der es um die Mühe geht, sich zu spüren. Als auch das Bedürfnis, über Extremerfahrungen wieder Kontakt zu sich selbst zu finden. „Wo dem Denken und Handeln keine Grenzen gesetzt sind, verliert sich der Mensch und wird orientierungslos.“ Wer aus materieller Hinsicht alles ermöglicht bekommt kann sich somit schwer in der realen Welt und dessen wirklichen Sinn orientieren und anpassen. Der Kern der Persönlichkeit, das Ich erscheint schwach ungefestigt, bedroht. Es ist abhängig von Außen, den überbehüteten Rahmenbedingungen und ist Impulsen von Innen, Trieben und Wünschen ausgeliefert. Es muss sich so krampfhaft gegen Innen behaupten, dass es das Außen nur beschränkt wahrnehmen kann. Fehldeutungen der Realität und Wunschdenken sind die Folge.
- Ungleichmäßigkeit der Reife
Der Überforderung durch ein „Viel-zu-früh“ nicht mehr Kindsein dürfen (im Sinne der perfektionistischen Erziehung, die Kinder fördern, stylen und zurichten als perfekte Produkte) und auf der anderen Seite steht eine Unterforderung durch das Schonklima „der Käseglocke“ gegenüber. Z.B. zu frühe Wissensförderung und zu wenig emotionale Zuwendung. Wenn wir Kinder so rasch wie möglich ihres Kindseins berauben, indem wir sie eingliedern in unsere Sicht, unser Erleben von Welt werden wir ihren Grundbedürfnissen nicht gerecht.
- Soziale Unverbindlichkeit und oberflächliche Identifikationsprozesse
Z.B. nur scheinbare Freundschaften, die mit einem materiellen Zweck verbunden sind können genau so schnell wie sie begonnen haben, wieder aufgelöst werden, da keine tiefe Bindung besteht.
- Reizsucht
Durch die Aktivitätsüberhäufung in der Freizeit kann die Stille und Erholung nur als Leere erlebt werden, was einen suchtartigen Reizhunger auslöst.
- Fixierung auf das Lustprinzip
Dies geht Hand in Hand mit der Reizsucht. Die Negativseite des Lebens wird vermieden, geringfügige Belastungen und Widerständigkeiten des Alltags werden als fast unbewältigbar erlebt.
- Neigung zu Ersatzbefriedigungen
Dem Kind wird an Stelle von Beziehung, Nähe, Austausch überwiegend Action und Belustigung mit Betreuungspersonen oder materielle Entschädigungen geboten. Es wird lernen, seine Bedürfnisse sekundär mit Ersatzbefriedigungen abzudecken und nach solchen zu verlagen, um sein primäres Bedürfnisdefizit nicht wahrnehmen zu müssen.
- Spannungen im Antriebsbereich
Hier ist die gespannte Langeweile des übersättigten Wohlstandkindes gemeint, das in keine echte Verantwortung eingebunden ist. Innere Leere und emotionale Armut können sehr leicht körperliche Aggressionen, als Ausdruck dieser Spannung entsehen lassen.
- Neigung zu Außenprojektionen
Schuld wird bei Anderen gesucht, die Verantwortlichkeit für die eigene Lebenssituation wird anderen Personen oder Umständen zugeschrieben. Dabei stehen die Projektionsbereitschaft und Außenabhängigkeit in einem engen Zusammenhang. Nur das Autonome, in Entscheidungs- und Handlungsprozessen selbstständig agierende Individuum ist in der Lage, zu sich und seinen Verantwortungen zu stehen.
Folgen von Wohlstandsverwahrlosung
Wohlstandsverwahrloste Personen fallen in den meisten Fällen z.B. durch passive Verweigerung und ihre Antriebslosigkeit auf. Es fehlt ihnen an Motivation und sie haben nur sehr geringes Durchhaltevermögen, weshalb sie auch selten in der Lage sind etwas zu Ende zu bringen.
Weiters sind sie stark drogengefährdet und werden oftmals zu Opfer von sektenähnlichen Gruppierungen, da sie vom normalen, langweiligen Leben angewidert sind und immer nach dem nächsten Kick suchen. Bei Kindern ist Schulschwänzen eine sehr häufige Folge. In den meisten Fällen werden als Reaktion auf das Schuleschwänzen von den Eltern Maßnahmen wie z.B. die Versetzung in ein Internat, Auslandsaufenthalte oder Studienreisen gesetzt, die den angenehmen Nebeneffekt von gesellschaftlicher Akzeptanz haben und sogar prestigefördernd sind. Weiters führen die großen Defizite in den Antrieben und im Gefühlsbereich zu einer sehr geringen Leistungsmotivation und Leistungsfähigkeit.
Wohlstandsverwahrloste Menschen verfügen über ein sehr labiles Selbstwertgefühl und haben Schwierigkeiten im Umgang mit der Realität, was zu Wunschfantasien führt. Kinder werden egozentrisch, entwickeln Bequemlichkeitshaltungen und stellen sehr hohe Ansprüche ohne eigene Anstrengungsfähigkeiten. Weiters sind sie nicht dazu bereit Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Soziale Beziehungen werden auf ihre Nützlichkeit bewertet und werden einfach abgebrochen oder ausgetauscht wenn sie als nicht mehr nützlich empfunden werden.
Prävention von Wohlstandsverwahrlosung
Es ist vorwegzunehmen das viele Eltern gar nicht bemerken, dass sie mit ihren, äußerlich ganz normalen Kindern etwas falsch machen und der Meinung sind das alles in Ordnung ist.
Eine allgemeine Überprüfung des eigenen Lebensstils ist der erste Schritt um Wohlstandsverwahrlosung vorzubeugen. Es ist wichtig nicht die Auswirkungen der Verwahrlosung zu verhindern, sondern die Ursachen zu bekämpfen und die befinden sich großteils bei den Eltern. Eine intensivere Beschäftigung und Beziehung mit den Kindern und einfach etwas mehr Zeit für sie haben kann Wunder bewirken. Die Eltern befinden sich in einer Vorbildrolle und haben deshalb Verantwortung zu tragen. Viele Eltern von wohlstandsverwahrlosten Kindern sind sehr perfektionistisch veranlagt und können keinen Mangel an ihren Kindern ertragen. Dabei vergessen sie aber, dass Kinder einfach nicht vollkommen sind. Kindern ein gutes Leben zu gewähren heißt es aufzugeben nach Perfektion zu streben. Es ist wichtig ihnen einen vernünftigen Rahmen zu geben in dem sie sich entfalten können, aber auch, Grenzen zu setzen. Diese Grenzen werden durch das „Nein“ dargestellt und obwohl es viel einfacher wäre nachzugeben und sich von dieser unangenehmen Last „freizukaufen“, sollte man genau das im Interesse der Kinder nicht machen. Den Kindern soll gelehrt werden, dass der Alltag zwar aus Wiederholungen besteht, aber trotzdem lebenswert ist und nicht nur eine Überbrückung von Wochenenden darstellt.
Literatur
- Zöchling E. (1996): Verwahrlosungsprobleme bei Sekundarschülern. (Dipl.) Wien
- Zöllner U. (1997): Die armen Kinder der Reichen. Zürich: Kreuz Verlag