Wittgenstein (W)
Freges Analyse des Wahrheitsbegriffes am Leitfaden mathematischer Funktionen ergibt: Wahrheitsfunktionen ordnen Behauptungen die (Wahrheits-)Werte w oder f zu. Wahrheitswerte werden als Bezeichnungen für Gegenstände angesehen. Danach gibt es zwei Arten von Gegenständen: jene des Alltagsgebrauches und "wahr" bzw. "falsch".
Wittgenstein läßt keine solche Doppeldeutigkeit zu. Er akzeptiert nur die gewohnte Art von Gegenständen, die sich zu Sachverhalten verbinden, deren Bestehen (und Nichtbestehen) in Sätzen behauptet wird. Als Umstellung in Freges Schema läßt sich das so notieren:
Sinn | Bedeutung | |
---|---|---|
Name | Gegenstand | |
Form der Zusammenstellung von Namen | logische Form | |
Satz | Gedanke | Sachverhalt |
Aus "ungesättigten" Sprachausdrücken snd sprachliche Formen geworden, die nicht benennbar sind. An die Stelle der Wahrheitswerte treten Sachverhalte. Die Wahrheitsfunktion bezieht sich auf ein Abbildungsverhältnis zwischen Sprachausdruck und Wirklichkeit. Eine logische Explikation bietet die Isomorphie, d.h. eine struktur-bewahrende Abbildung zwischen zwei Objektbereichen. Beispiel: eine Tabelle und eine Graphik in einem Spreadsheet.
Gegeben seien zwei Gegenstandsbereiche X, Y und zwei auf ihnen definierten Verknüpfungen @, *. Eine Isomorphie f: X -> Y zwischen <X, @>, <Y, *> gehorcht folgender Regel: f(u @ v) = f(u) * f(v).
Siehe auch: Der Isomorphiebegriff
Es wird oft übersehen, dass die so definierte Isomorphie im ersten Schritt nichts mit dem Wahrheitsbegriff zu tun hat. Die Zahlen einer Tabelle können "falsch" sein, auch wenn sie in der dazugehörigen Graphik isomorph dargestellt werden. Dieser Umstand ist z.B. für die Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Ansprüchen der Neurobiologie bedeutsam. Angenommen eine Isomorphie zwischen Umweltgegebenheiten und Reizmustern - das sagt per se nichts über Wahrheit oder Falschheit. Sonst wäre ein Sonnenbrand "die Wahrheit" einer Sonneneinstrahlung.
Wolfgang Detel formuliert das im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen Ansprüche der Hirnwissenschaften so:
Geistige Repräsentation kann erfolgreich sein oder auch eine Missrepräsentation sein. Selbst Halluzinationen haben einen Gehalt. Davon konnte zum Beispiel Orest ein Lied singen, als er von den "Furien gehetzt" vor den Erinnyen floh. Und diese Struktur kann offensichtlich durch eine einfache kausale Verknüpfung zwischen externen Situationstypen und Arten von neuronalen Aktivitätsmustern in Gehirnen theoretisch nicht eingefangen werden, denn Missrepräsentation ist auf dieser Ebene nicht abbildbar. (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52, S.894)
Ansgar Beckermann diskutiert in seinem Artikel Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit die grundlegenden Zusammenhänge. Er gibt eine semantische Deutung der Wahrheitstheorie des Tractatus und erläutert die Paradoxie, die aus Wittgensteins Festlegung über Bedeutungen entsteht. Das führt zu einem Ausblick auf die Wahrheitsdebatte im Wiener Kreis.
Carnap versuchte in dieser Zeit, entsprechend dem "empiristischen Sinnkriterium", Sprache als ausschließlich physikalisches Phänomen zu begreifen. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens kann man sich am Zusammenspiel zwischen Akustik, Phonetik, Phonologie und Bedeutungslehre klar machen [1].
Eine detailliertere Darstellung des Verhältnisses zwischen Isomorphie und Wahrheit im Tractatus findet sich unter:
Negation, Wahrheit und Darstellung im Tractatus. Dieser Gedankengang zeigt, dass Wittgensteins Semantik genau das wahr/falsch-Urteil - und nicht das Muster der Isomorphie - zum Zentrum seiner Erkenntnislehre macht.
Hier noch ein Ausblick auf spätere Entwicklungen. Im "Big Typeskript" (1933) fundiert Wittgenstein Semantik in einem Verhältnis zwischen Sprachen. Einem verstehbaren Zeichensystem steht eine Erklärung gegenüber. Es zeichnet sich der Gedanke ab, dass die Wahrheit eines Satzes etwas damit zu tun hat, dass man ihn aus einer anderern Perspektive versteht.
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