William Leiss: Naturbeherrschung - die größte politische Tragödie der Neuzeit?
William Leiss, „Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“, in: Gernot Böhme, Alexandra Manzei (Hrsg.), Kritische Theorie der Technik und Natur, (München, Fink, 2003), S. 135-151
Autor
William Leiss, geb. 1939 in New York, promovierte in Philosophie an der Universität von Kalifornien, San Diego, an der er mit Herbert Marcuse studierte. Er kann der Kritischen Schule zugeordnet werden, seine Schwerpunkte liegen insbesondere in den Bereichen Umwelt, Wissenschaft und Gesellschaft sowie Risikokommunikation. (1)
Einordnung des Artikels bzw. des Buches
Gernot Böhme und Alexandra Manzei geben in ihrem Buch Kritische Theorie der Technik und der Natur Beiträge einer internationalen Konferenz des Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft, die im Herbst 2001 stattfand, heraus. Ausgangspunkt ist die Kritische Theorie, die – will sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden – von einer kritischen Theorie der Gesellschaft um eine kritische Theorie der Technik und der Natur erweitert werden muss. In ihrem Kern war Kritische Theorie von Anfang auf Kritik der Gesellschaft gerichtet. Technik und Natur wurden nur in einem einzigen Zweig der Kritischen Theorie – bei Herbert Marcuse – diskutiert, und zwar in Form einer Kritik der gesellschaftlichen Naturbeherrschung und der gesellschaftlichen Formation von Technik, damit jedoch wiederum im Kontext der Gesellschaft. Was dabei vernachlässigt wurde, ist die enge Wechselbeziehung zwischen Technik, Natur und Gesellschaft: diese drei Aspekte können ohne die jeweils anderen nicht hinreichend behandelt werden. Es geht also nicht mehr nur um humane und gesellschaftliche Folgen der Technikentwicklung, auf die Technology Assessment abzielt, oder um gesellschaftliche Formation von Technik, auf die Technikgeneseforschung fokussiert, sondern vielmehr um eine weitgehende Technisierung der humanen Lebensvollzüge und der gesellschaftlichen Strukturen. Technik, Natur und Gesellschaft sind nicht mehr voneinander unabhängig, wie die Begriffgeschichte nahe legt (2), sondern werden jeweils durch die beiden anderen mitbestimmt. Dieses Zusammenspiel wird in den einzelnen Beiträgen des Buches Kritische Theorie der Technik und der Natur skizziert. Der Beitrag „Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“ von William Leiss thematisiert insbesondere die Frage der Herrschaft über die Natur, die seit dem 17. Jahrhundert einen wesentlichen Faktor bei der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft spielt.
Kurzzusammenfassung des Artikels „Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“ von William Leiss
Seit der Renaissance ist die Herrschaft über die Natur ein bestimmendes Thema des neuzeitlichen Denkens, das insbesondere im Werk von Francis Bacon (1551-1626) seinen Ausdruck findet. Diese Macht ist zu verstehen als „die Fähigkeit, natürliche Prozesse zu steuern, und zwar systematisch und ohne Einschränkung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“ (3). Das Baconsche Programm hat dazu geführt, dass im Zentrum der Wissenschaft und ihrer Anwendung Fortschritt ohne jegliche natürliche Grenzen steht.
Darauf aufbauend arbeitet Leiss mit folgender Hypothese: Es gebe eine große und stetig wachsende Kluft zwischen dem Anwachsen der Macht, die der Menschheit durch technische Möglichkeiten zur Verfügung steht, und der bleibenden Mangelhaftigkeit der menschlichen Handlungsinstanz, die auf politische und religiöse Zerrissenheiten der Menschheit zurückzuführen ist. Dieser Widerspruch könnte zur größten politischen Tragödie der Neuzeit werden, denn die Macht der Einwirkung auf die Natur wird mit jeder neuen Stufe von Wissenschaft und Technik vergrößert, wobei sich sowohl der Nutzen als auch mögliche negative Folgen quantitativ steigern und qualitativ verändern.
Leiss führt den Begriff des katastrophenträchtigen Risikos ein: „Als katastrophenträchtige Risiken definiere ich das Potential eines Schadens für Menschen und andere Wesen von einer Größe, dass der Fortbestand von tierischen Spezies, unsere eigene eingeschlossen, in Frage gestellt ist.“ (4)
Vor allem durch die Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie entstehen katastrophenträchtige Risiken, die im Vergleich zu früheren Risiken völlig neue institutionelle Antworten erforderlich machen, da die Konsequenzen für den Menschen beträchtlich sein können. Mögliche Risiken ergeben sich dabei durch: biotechnisch erzeugte Krankheitserreger, die in Kriegen oder im Terrorismus eingesetzt werden; zufällige bzw. unbeabsichtigte Folgen der Genforschung, etwa durch genetische Manipulation von Viren und Bakterien, die zu gänzlich neuen Organismen führt; (un)beabsichtigte Folgen genetischer Manipulation an Menschen und anderen Tieren, durch die die existierende Spezies verändert oder eine neue Variante der Spezies geschaffen wird; neue Entwicklungen im Zusammenwirken von Bio- und Nanotechnologie sowie Robotik. Im Gegensatz zu früheren katastrophenträchtigen Risiken, wie etwa dem nuklearen Winter, sind das jeweils relevante Wissen und die technische Kapazität nun wesentlich breiter verteilt, und zwar sowohl bei EinzelwissenschafterInnen als auch bei Unternehmen, die global sehr mobil agieren können. Überdies werden die entsprechenden Technologien immer einfacher, die Aktivitäten zum Anpreisen des ökonomischen und gesundheitlichen Nutzens immer intensiver und das Tempo der Innovationen immer höher. All diese Faktoren erschweren eine Kontrolle und Regulierung enorm, v.a. da diese neuen Technologien industrielle Innovationsfronten darstellen, in die sowohl Unternehmen als auch nationale Regierungen stark investiert haben.
Die Möglichkeit einer Kontrolle und Regulierung neuer risikoträchtiger Technologien kann letztlich auf die Möglichkeit einer Kontrolle und Regulierung von Wissen zugespitzt werden. Dies widerspricht jedoch einer der Grundannahmen der modernen Gesellschaft, nämlich dass die Befreiung der Wissenschaft von intellektuellen und institutionellen Fesseln einschließlich der Religion zahlreiche technische Innovationen hervorgebracht hat, die die Grundlage der industriellen und ökonomischen Entwicklung bilden. Ziel ist dabei, die Reichweite des instrumentellen Handlungspotentials stetig auszudehnen.
Leiss beschreibt die gegenwärtigen Entwicklungen mit folgender Metapher: Es ist, „als zögen zwei Kräfte an den Enden eines starken elastischen Bandes, wobei die Spannung in dem Band ständig steigt. Auf der einen Seite sind Wissenschaft und Technologie, die sich autonom entwickeln und den menschlichen Akteuren ein immer größeres instrumentelles Handlungspotential bescheren. Auf der anderen Seite sind die sozialen Institutionen, die die menschlichen Aktivitäten zu gemeinschaftlichen Zwecken bündeln.“ (5) Es stellt sich nun die Frage, wie ein solches Kräftegleichgewicht (wieder) hergestellt werden kann, um das Risiko, dass die Spannung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nicht mehr beherrschbar ist, zu verringern. Mögliche Varianten sind, dass besonders riskante Wissenszweige bzw. Technologien durch eigene (internationale) Institutionen kontrolliert und bei Bedarf auch unterbunden werden, oder dass der wissenschaftliche Fortschritt genau überwacht wird, sodass technologische Gegenmittel gegen schreckliche und zerstörerische Anwendungen bereits zur Hand, bevor sie nötig sind, oder dass die Wissenschaft selbst im Rahmen autonomer Selbstregulierung und Selbstbeschränkung ihre Forschungsarbeiten einschränkt.
Leiss schließt mit einer weiteren Metapher: „Das Projekt, das man als Herrschaft über die Natur kennt, scheint ein Spiel mit dem Teufel gewesen zu sein […].“ (6) Es stellt sich die Frage, ob rechtzeitig ein neues Kräftegleichgewicht zwischen Wissenschaft und Gesellschaft geschaffen werden kann.
Dr. Judith Brunner-Popela, 1. November 2008
Fußnoten:
(1) http://en.wikipedia.org/wiki/William_Leiss (31.10.2008)
(2) Natur (physis) ist nach Antiphon und Aristoteles der Bereich des Seienden, das von sich aus da ist. Technik (techné) und Gesellschaft (nomos) sind jenes Seiende, das vom Menschen gemacht ist.
(3) William Leiss, „Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“, in: Gernot Böhme, Alexandra Manzei (Hrsg.), Kritische Theorie der Technik und Natur, (München, Fink, 2003), S. 135
(4) Ebd., S. 138
(5) Ebd., S. 148
(6) Ebd., S. 150