Wesenszüge

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Überlegungen auf der Grundlage eines Beitrags von Thomas Auinger.


Ausschnitt

Einige Wendungen der Alltagssprache beziehen sich auf den Bereich des "Wesens". Zum Beispiel: "Es liegt in seiner Natur", "Das ist eine wesentliche Bedingung", oder "eine unwesentliche Abweichung". Traditionell hat sich die Philosophie oft mit der Frage beschäftigt, worin "das Wesen" einer Sache besteht und wie es zu erfassen sei. Hegel bietet eine raffinierte (De-)Konstruktion des Wesensbegriffes; beim frühen Wittgenstein findet er sich im Rahmen einer sprachanalytisch fundierten Ontologie. Hier ein Versuch, sich dem Thema von diesen beiden Seiten her zu nähern.

Angenommen, ein "wahrer Freund" sei eine Person, welcher die Eigenschaft, ein Freund zu sein, in exemplarischer Weise zukommt. Sie ist nicht zufällig freundschaftlich, sondern erfüllt die Bedingungen, die von einem echten Freund zu erwarten sind. (Die Frage, worin sie bestehen, soll zunächst ausgeklammert bleiben.) Vorbereitend ist eine einfache Betrachtungsweise sinnvoll. Wie würde sich die "wahre Freundschaft" in der Sprache ausdrücken?

Nehmen wir Roswitha. Sie kann unter verschiedenen Umständen eine Freundin genannt werden. Und es gibt - nach Voraussetzung - eine Reihe von Umständen, die jedenfalls erfüllt sein müssen, um die Zuschreibung "wahre Freundin" zu rechtfertigen. Das lässt sich simpel verdeutlichen. Ein wesentlicher Zug der Freundschaft besteht in einer Qualität, die sich in allen wahren Sätzen über Freundschaft ausdrückt. Roswitha ist eine wahre Freundin, wenn sie nicht nur in einem Einzelfall Erfordernisse für Freundschaft erfüllt. Sie muss alle Eigenschaften besitzen, die für Freundschaft unabdingbar sind. Das zeigt sich daran, dass genau die Sätze wahr sind, in welchen dieser Person die Qualifikationsbedingungen für Freundschaft zugesprochen werden.

Das "Wesen der Freundschaft" ist dann darin abzulesen, dass ein Teilausdruck von Sätzen ("...Freundin...") aus dem jeweils spezifischen Vorkommen in einer Reihe von verschiedenen Sätzen quasi ausgeschnitten und auf eine Regelvorgabe hin entworfen wird. Wir erhalten dadurch ein kontextloses Wort, dem eine doppelte Perspektive anhaftet, einerseits der Rückbezug auf konkrete Satzvorkommen und andererseits ein Hinblick auf die Gemeinsamkeit dieser Verwendungen.


Abhängigkeit

Das ausgeschnittene Wort ist separat nicht zu gebrauchen. Es steht für etwas, das allen Eigenschaften gemeinsam ist, nicht für eine Eigenschaft. Von Roswitha kann gesagt werden, dass sie die Charakteristika der Freundschaft besitzt, aber sie ist nicht der Inbegriff der Freundschaft. Ohne Kontext hängt der Ausdruck "wahre Freundin" in der Luft. Mit Sätzen, die von Personen sprechen, ist an das Thema nicht heranzukommen. Ein gelehrter Ausdruck für dieses Dilemma ist die Bemerkung:"Das Wesen einer Sache ist nicht selbst eine Sache." In dieser negativen Orientierung wird vorausgesetzt, dass eine einschlägige Gemeinsamkeit zu besprechen sei; gleichzeitig wird der Versuch unterbunden, sie in gewöhnliche Sätzen zu fassen.

So gesehen bieten sich drei Strategien an. Erstens eine positivistische Reaktion. "Wenn wir in Sätzen, die von der Welt handeln, die wesentlichen Allgemeinheiten nicht besprechen können, müssen wir auf sie verzichten." Danach lassen sich bloss vorläufige Gemeinsamkeiten zusammenstellen. Sie sind soviel wert, wie die Summe der darin zusammengefassten Sätze. Oder die Gegenposition, die seit Platon Schule gemacht hat: "Was eine Freundin (oder Tapferkeit, Gerechtigkeit, Menschsein ...) bestimmt, wissen wir aufgrund eines speziellen Vernunftvermögens." Diese Option operiert mit einer Sprache höherer Ordnung, die Wesenseigenschaften zur Verfügung hat. Drittens - und das ist u.a. Hegels Auffassung - kann es nicht bei dieser Entgegensetzung bleiben. Die Lösung liegt im Verhältnis zwischen den einzelnen Positivitäten und ihrem negativ geprägten Widerpart, der sie bestimmt, obwohl (und weil) er nicht von ihrer Art ist.


Hegel

Es erhebt sich die Frage, wie diese Art von Reinheit zu denken sei. Sicherlich ist sie nicht eine Wesensreinheit (und damit auch keine Wesenswahrheit), die sich aus der völligen Negation aller Seinsbestimmungen, das heißt hier aller Satzbestimmungen, ergeben hätte. Diese absolute Reinheit als reine Negativität würde dem Hegelschen Wesen entsprechen, insofern es als absoluter Schein und als reine absolute Reflexion bestimmt ist. Eine derartige Form des Wesens und seiner möglichen Wahrheit ist jedoch in der hier modellierten Konzeption nicht anvisiert. Die Reinheit des hier betrachteten Wesens ist nämlich keine absolute, weil sie immer noch relativ zu den anderen Ausdrücken gedacht ist. Das heißt, dass sie auf eine bestimmte Klasse von Sätzen verweist, die als Werte auftreten können, durch die gewissermaßen das Reservoir der unterschiedlichen Verunreinigungen angegeben wird.


Wittgenstein 1

Formal gesprochen ist "wahr" in "wahre Freundin" ein Prädikat zweiter Stufe. Es sagt etwas über eine Eigenschaft. Es sagt nicht, dass sie wahr sei - zumindest nicht in dem Sinn, in dem Sätze wahr sein können. (An diesem Punkt ist die Unterscheidung zwischen Satzwahrheit und "Begriffswahrheit" genau zu beachten.) Der Sinn von "wahr" als Begriffsprädikat liegt in der Konformität der Anwendung des thematischen Begriffes (erster Stufe) mit einer Regelform. Ludwig Wittgenstein hat im "Tractatus logico-philosophicus" eine Skizze dieser Auffassung entworfen.

Woran ist zu ermessen, dass die Zuschreibung eines Prädikates den "Wesens"-Bedingungen entspricht? Nach Wittgenstein sieht man das daran, dass das Prädikat genau an jenen Stellen eingesetzt wird, an denen es in Sätzen aufttreten kann. Aussagen über eine wahre Freundin müssen jenen Anforderungen gehorchen, welche die logische Grammatik des Wortes "Freundin" vorgibt. Sie richtet sich danach, was wahre Freundschaft ist. (Wittgenstein würde dieses Beispiel nicht verwenden.) Der technische Terminus ist "Satzvariable": "Freundin" kontextfrei aufgefasst ist eine Variable für alle Sätze, in denen das Wort "Freundin" an irgend einer Stelle gebraucht wird. Die Satzvariable ist eine Konstruktion, welche die Gemeinsamkeit aller Gebrauchsweisen des Ausdrucks erfasst.

Die logische Form der Freundschaft bestimmt, wer wahrer Freund zu nennen ist. "wahr" als Begriffsprädikat ist nicht mehr nötig, weil jene Verwendungsweisen, die der Form (einem "Urbild") nicht entsprechen, nicht in den Rahmen der sinnvollen Rede fallen. Von einer Verräterin zu sagen, sie sei eine Freundin, ist nicht einfach falsch, sondern unverständlich. An dieser Konstruktion ist schön zu sehen, wie die Zuschreibung von Eigenschaften in Einzelsätzen holistisch auf den gesamten Sprachaufbau ausgreift. Über die Berechtigung, eine solche Form anzusetzen (und einzufordern) ist damit allerdings gar nichts gesagt.

Der "Tractatus" beschreibt die Welt zeitlos, sub specie aeternitatis. Er befasst sich nicht mit der Frage, ob und inwiefern es Entdeckungen und Erkenntnisfortschritt geben könnte. Von seinem Gesichtspunkt aus ist mit der Erstellung einer philosophischen Grammatik alles getan. Oder umgekehrt: eine solche Grammatik aufzustellen heisst nichts anderes, als endgültiges Einverständnis mit der Welt im Ganzen. Es handelt sich sozusagen um ein Absolutes ohne den Lernprozess. Ultraplatonisch wird vorausgesetzt, dass eine Eigenschaft nichts anderes ist, als die Teilhabe an der Idee dieser Eigenschaft.

Der Einwand, diese Betrachtung sei schlichtweg dogmatisch, liegt auf der Hand. Sie eignet sich allerdings gut, um ein konzeptuelles Problem mit "dem Absoluten" zu beleuchten. Egal, ob es mit einem Zeitfaktor versehen ist: um seinem Namen gerecht zu werden, kann es nicht von sukzessiv entfalteten Entwicklungsschritten abhängen. Der Versuch, soetwas dennoch zu denken, führt notgedrungen zum "jüngsten Tag". Der wäre die Vollendung der Geschichte in einem "Tag", der diese Bezeichnung nicht mehr verdient.

Wittgenstein 2

Betreffs der Beispiele „Blatt“ und „grün“ könnte man an Fragen denken, die in den Philosophischen Untersuchungen aufgeworfen werden: „...wie schaut denn das Bild eines Blattes aus, das keine bestimmte Form zeigt, sondern >das, was allen Blattformen gemeinsam ist<? Welchen Farbton hat das >Muster in meinem Geiste< der Farbe Grün – dessen, was allen Tönen von Grün gemeinsam ist? »Aber könnte es nicht solche >allgemeine< Muster geben? Etwa ein Blattschema, oder ein Muster von reinem Grün?«“ (73).

Wittgenstein beantwortet diese Fragen zunächst mit einem lakonischen „Gewiss!“, fährt aber dann mit einem „Aber…“ fort, das auch für unsere Zwecke bedacht werden sollte. Das Schema als solches bleibt nämlich entweder ein täuschendes Ideal oder es wird explizit als Schema gebraucht und verwendet. Doch für diese Anwendungsdimension bedarf es einer Dynamisierung des Modells, so dass wir nicht bei einer formellen Aufreihung und Gliederung in Ebenen stehen bleiben können. Die betrachteten Sätze müssen dann den Charakter von Behauptungen erhalten, die einen jeweiligen Anspruch auf Wahrheit erheben. Damit kommen Beurteilungen ins Spiel und Einstellungen, die von unterschiedlichen Sprechern eingenommen werden. Die Wahrheit des Wesens von „Freund“ etc. hängt dann von all dem ab, was die Akteure als Wahrheit anzuerkennen geneigt sind. Die Bestimmung des Wesens muss somit in einen Kommunikationsprozess eingebettet werden, um nicht leer zu laufen.

Freilich ist aber selbst diese Leerheit nicht nichts, sie fordert uns vielmehr wiederum heraus, darin die logischen Konstituenten zu erblicken. Daher kann diese Modellierung zur Klärung einer Basis-Logizität dienen, die in ihrer „Neutralität“ zunächst bestimmte Bereiche auseinanderhält und diversen Missverständnissen vorbeugt. In weiteren Schritten können unterschiedliche Wahrheitstheorien mit dieser Grundmodellierung dargestellt und diskutiert werden. Nichtsdestotrotz bleibt dieser Ansatz selbst diskussionswürdig und wohl weiterhin veränderbar.




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