Wahrheit, Macht & Anspruch

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„denn Intoleranz bezieht sich auf einen Mangel, der nur mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Macht beschrieben werden kann. Intoleranz heisst, fremde Gründe aus der Hausmachtsposition heraus zu unterdrücken“

Ich würde zwar nicht in Abrede stellen wollen, daß uns eine plump verstandene Identität von Wahrheit und Machtausübung nicht weiter bringt, bin aber nicht ganz sicher, ob sich die Möglichkeit eines zunächst einmal nicht im Detail spezifizierten Nahverhältnisses von Wahrheit und Macht so einfach zurückweisen läßt. Vielleicht unterliege ich auch bloß einem Mißverständnis, daher hier mein Gedankengang:

Wahrheitsansprüche können sich gegenseitig ausschließen (daß in der Donau Wasser fließt schließt aus, daß sie ein Strom aus Bier ist). Macht läßt sich verstehen als das Vermögen, solche Ansprüche gegen den Widerstand anderer Ansprüche durchzusetzen (A setzt seine Auffassung, daß die Donau ein Strom aus Bier ist gegen Bs Auffassung durch, sie sei ein Strom aus Bier. Freilich: Die Frage, ob sie tatsächlich ein Strom aus Bier ist, ist damit möglicherweise noch nicht berührt. Man wird fragen müssen, was hier „durchsetzen“ bedeutet. Daß B schweigt? Daß A sich sicherer ist als zuvor, daß er recht habe? Daß andere glauben, A habe recht? Daß nun auch B glaubt, die Donau sei ein Strom aus Bier? Hier zeigt sich die bereits in der Vorlesung angesprochene Bezugsrahmen-Abhängigkeit von Macht. Die plump verstandene Gleichung Wahrheit = Durchsetzung eines Machtanspruches erklärt so gesehen gar nichts.

Argumentieren ließe sich aber, daß im oben verwendeten Beispiel das Moment der Wahrheit gerade darin liegt, über Bs „durchgesetzten“ Anspruch hinauszugehen, daß die Donau ein Strom aus Bier sei. Dies Hinausgehen (die Donau ist in Wahrheit gar kein Strom aus Bier) aber ist selbst ein Anspruch. Kurzum: Das Verhältnis von Anspruch, Durchsetzungsmacht und Wahrheit ist komplizierter.). Toleranz bestünde nun im Verzicht auf die mögliche Durchsetzung eines Wahrheitsanspruches (Ich bin mir der Widersprüchlichkeiten, in die diese Definition treibt, bewußt, doch das sind eben jene Widersprüchlichkeiten, die ich noch immer im Toleranzbegriff selbst sehe und noch nicht als ausgeräumt zu betrachten in der Lage bin.), oder, negativ formuliert: „Intoleranz heisst, fremde Gründe aus der Hausmachtsposition heraus zu unterdrücken“. Wenn also Toleranz heißt, die Macht zur Unterdrückung der fremden (falschen) Gründe durch die eigenen (wahren – denn in dieser Distribution scheint mir ein wesentliches Moment der Toleranz zu liegen: Wenn die Gründe des anderen nicht falsch und meine nicht wahr sind, bedarf es gar keiner Toleranz.) nicht auszunutzen, so verstehe ich nicht ganz, inwiefern die „Unterscheidung“ von Wahrheit und Macht vorausgesetzt ist. Vielleicht habe ich jedoch auch nicht recht verstanden, was Sie mit „Unterscheidung“ meinen. Könnten Sie das vielleicht erläutern? --Jakob 08:36, 15. Jan 2006 (CET)


D'accord: Behauptungen sind Ansprüche, die gesellschaftlich abgearbeitet werden können/müssen. Die Grenze zwischen jenen Ansprüchen, die sich durch Machtausübung durchsetzen (z.B. permanente Wiederholung im TV), und den anderen, für die "bloss" ihre Wahrheit spricht, ist vermutlich in den meisten Fällen fliessend. In meiner Sicht erlaubt der Unterschied zwischen "Das hat sich durchgesetzt, weil jemand 20 Millionen Euro gezahlt hat" und "Das hat sich durchgesetzt, weil die sachorientierte Diskussion zu einem Konsens geführt hat" einige Gedankenschritte, die mit der Verschleifung der Differenz verlorengehen.

Ist ein Wahrheitsanspruch immer mein Wahrheitsanspruch - und damit ein individueller Zug in einem Machtspiel? Ja und nein. Eine Person muss dahinter stehen, aber - vorausgesetzt meine Unterscheidung - spielt sie ein anderes Spiel, wenn sie, z.B. im Gegensatz zur Kandidatur für den Nationalrat, etwas behauptet. Toleranz würde ich nicht so definieren, dass es der Verzicht auf die mögliche Durchsetzung eines Wahrheitsanspruches (s.o.) ist. Auf die Regeln der "Durchsetzung" von Wahrheitsansprüchen kann man nicht verzichten - sie stehen nicht zur Disposition! Toleranz besteht aus dem Verzicht auf die herrschaftliche Unterbindung der Folgen "fremder" Wahrheitsansprüche in einem sozialen Setting.

--anna 11:36, 18. Jan 2006 (CET)


Meine Formulierung mit dem Wahrheitsanspruch war zugegebenermaßen unglücklich (nämlich weil ich erst erläutern hätte müssen, in welchem breiten Sinn ich Wahrheit hier zu verstehen geneigt bin). Was verstehen Sie unter den „Folgen“ von Wahrheitsansprüchen? Alles, was auf sie als Gründe rekurriert (also: „Folgen“ als Inferenzen)? Ich würde diese „Folgen“ neuerlich als Wahrheitsansprüche verstehen, insofern sie sich auf die Geltung des ursprünglichen Anspruches gründen und diesen damit gewissermaßen fortführen (nicht ganz aber doch auch im Sinne der inferentiellen Vererbung bei Brandom).

Ihre Definition „Toleranz besteht aus dem Verzicht auf die herrschaftliche Unterbindung der Folgen "fremder" Wahrheitsansprüche in einem sozialen Setting.“ würde ich - wenn ich sie richtig verstehe - nicht im Gegensatz zu meiner sehen, da ich die „herrschaftliche Unterbindung der Folgen "fremder" Wahrheitsansprüche“ selbst als einen Anspruch erachten würde (nämlich einen Wahrheitsanspruch, der sich gegen das taugliche Fungieren der fremden Wahrheitsansprüche als Grund für die sich darauf gründenden Folgeansprüche richtet). Folglich wären wir wieder beim Verzicht auf die mögliche Durchsetzung eines Anspruchs.

Daß man auf die Regeln der Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen verzichten könnte, habe ich glaube ich nicht behauptet (obwohl ich auch das nicht kategorisch ausschließen würde). Die „Durchsetzung“ eines Wahrheitsanspruches kann aber wie mir scheint sehr wohl – wenn auch meistens nur in einem relativ eingeschränkten Maß – zur Disposition stehen (allerdings kann und muß man, wie ich schon versucht habe zu erläutern, „Durchsetzung“ sehr unterschiedlich verstehen). So kann ich doch in einem „sozialen Setting“ (aus einer solchen Angabe des Kontextes zeigt sich schon ein wenig, was in diesem Kontext „Durchsetzen“ heißen kann) darauf verzichten, meinen Wahrheitsanspruch (daß der fremde falsch ist) gegen einen fremden Wahrheitsanspruch (oder dessen Folgen) durchzusetzen (was mir das „soziale Setting“ prinzipiell ermöglichen würde, weil ich etwa mit der Akzeptanz meines Anspruches rechnen kann). Oder habe ich da etwas mißverstanden? --Jakob 22:08, 19. Jan 2006 (CET)


Ich habe bei "Folgen" auch an Brandom gedacht. Mittlerweile bin ich durch die Diskussion etwas klüger geworden und würde das Thema "Toleranz zwischen Wahrheit und Macht" von den "fremden Gründen" her aufbauen.

  • Standpunkte sind Positionen in Inferenz-Zusammenhängen
  • solche Zusammenhänge besitzen interne Kriterien der Schlüssigkeit
    • Darin fungiert "Wahrheit" als operative Kategorie, während "Macht" eine Aussensteuerung bedeutet.
    • Man kann in beiden Fällen abstrakt von "Ansprüchen" reden.
  • "fremde Gründe" können sich zwischen solchen Standpunkten + Argumentationsketten ergeben
    • die betrachtete Argumentation wird vorweg als vernünftig betrachtet, aber dieser Vorentwurf bewährt sich nicht
    • "vernünftig" heißt hier: der Praxis des geordneten Überprüfens von Wahrheitsansprüchen angemessen
    • das meinte ich mit Regeln, auf die nicht verzichtet werden kann. Die Durchsetzung der Regeln zur Wahrheitsfindung ist etwas anderes als die (politische) Durchsetzung ihrer Ergebnisse. (Ich glaube, hier sind wir einer Meinung.)
  • Offen ist die Frage nach dem "eigentümlichen Zwang" (Habermas) des besseren Argumentes

--anna 10:10, 7. Feb 2006 (CET)




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