Virtualität (CP)

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Literaturbericht zur Virtualität

Digitale Informationsverarbeitung bestimmt zusehends den Alltag und die wissenschaftliche Praxis. Zahlreiche Neologismen bezeichnen eine Überschneidung zwischen traditioneller Begrifflichkeit und technischen Konstrukten: elektronische Post, Webforum, Surfen. Der Terminus Virtualität ist in diesem Zusammenhang besonders prominent. Er verweist einerseits auf den historisch wie systematisch eingeführten Themenkomplex potenziellen Seins, andererseits auf einen Sprachgebrauch von Ingenieuren.

Die Erörterung von Prinzipien möglicher Entwicklung von Welt und Lebewesen gehört seit den Griechen zum philosophischen Geschäft; sie stößt auf Redensarten wie virtuelle Maschine oder virtueller Speicher. In der Optik bedeutet virtuelles Bild eine Projektion, die nicht auf der tatsächlich vorliegenden Bildwand wahrgenommen wird (wie etwa Dias), sondern dahinter, z.B. im Spiegel. Adaptiert an den informatischen Gebrauch meint virtuell die ersatzweise Erfüllung einer Aufgabe durch entsprechende Software. Virtuelle Speicher sind, im Unterschied zu RAM-Chips, Sektoren der Festplatte, welche Funktionen des Arbeitsspeichers übernehmen. Das Aufeinandertreffen der beiden Assoziationsfelder verursacht begriffliche Turbulenzen, in denen sich die Orientierungsschwierigkeit bemerkbar macht, denen eine an Computern und neuen Medien interessierte Philosophie ausgesetzt ist.

Die Schwierigkeit entsteht dadurch, daß die Begriffspaare "wahr/falsch" sowie "wirklich/möglich" schlecht dazu geeignet sind, das Phänomen funktionsäquivalenter Lösungen im Erkenntnisbereich zu fassen.

Eine chirurgische Intervention, die auf der Basis digitaler Visualisierung von Ferne vorgenommen wird, ist eine tatsächliche Operation außerhalb der bekannten Umstände zur Beurteilung sinnlicher Wahrnehmung. Man spricht von "virtuellen Umgebungen", aber was heißt das genau? Der Ehrenvorsitzende eines Vereins ist nicht wirklich Vorsitzender, er trägt bloß den Titel. So verhält es sich mit "virtuellen Tätigkeiten" nicht. Andererseits verletzen sie wichtige Standards der epistemologischen Ur-Szene. Neuartige Fertigkeiten und Verrichtungen substituieren Abläufe, die bisher unersetzbar schienen. Darin liegt die Herausforderung der Informatik gegenüber der Philosophie. Ein "virtueller Freitag" ist, im Sprachgebrauch der Ingenieure, der Donnerstag einer Woche, deren Freitag auf einen Feiertag fällt. Die Funktion des letzten Tages in der Arbeitswoche ist je nach Umständen übertragbar. Läßt sich das Muster auf performativ-kognitive Leistungen menschlicher Wesen anwenden?


Edmund Husserl, Bernhard Waldenfels

Verhaltensweisen, die zum Teil seit Jahrhunderten eingespielt sind, werden angesichts der Entwicklungen im Datenverarbeitungs- und Telekommunikationsbereich revisionsbedürftig. Eine Hilfskonstruktion, um solche Herausforderungen bewältigen zu können, ist die phänomenologische Unterscheidung zwischen Fachdiskursen und der unvoreingenommenen Darstellung der betreffenden Erfahrungswelt in ganzer Breite. Es reicht nicht aus, die Programme zu studieren, die ein "virtuelles Haustier" hervorbringen. Die philosophisch relevanten Fragen betreffen den Unterschied zwischen dem Umgang mit den bekannten Lebewesen und jenen "Ersatz"-Lösungen, die uns die Technik anbietet. Das ist nicht mehr der motorisierte Teddy, sondern eine Erscheinung, die (im Grenzfall) vollständig in die durch Sinnesdaten erschlossene Umwelt eingepaßt ist. Ein digital produzierter Hund kann in die Abbildung einer faktischen Situation hineingerechnet werden und sich dort "verhalten", wie die Versuchsperson ihm aufträgt. Was hat es mit den Anführungszeichen auf sich, die sich in dieser Fragestellung häufen? Sie indizieren Auflösungserscheinungen eines früher klar umrissenen Begriffsprofils.

Es steht uns nicht frei, das Leben in der Welt im Grenzzustand zu beginnen. Vor der Modalisierung der Umstände, die uns begegnen, liegt die Begegnung selbst. Husserl spricht von einer Urdoxa. Dieser Wirklichkeitsglaube verbindet sich mit einer Vertrautheit und Verläßlichkeit, die früher ist als jeder Versuch einer Vergewisserung. Experimente basieren auf einer derartigen Zuversicht; Wirklichkeitsexperimente sind allerdings philosophisch brisanter. Waldenfels weist den technischen Manipulationen im Cyberspace einen Platz zwischen den beiden Polen zu.

Elektronische Medien erschüttern die Unbedenklichkeit, mit der leibgebundene Erfahrungen als zentraler Bezugspunkt des Wirklichkeitsverständnisses angesehen wurden. Husserls Analysen zur Phänomenologie der leiblichen Eigenbewegung werden durch die Entwicklung von Fernbedienungen, Fernsehen und kybernetisch-perzeptuellen Regelkreisen auf die Probe gestellt. Telepräsenz scheint die Urdoxa, die eine Grundausstattung an psychophysischen Konditionalitäten voraussetzt, radikal zu subvertieren. Waldenfels antwortet husserlianisch: "Die Vervielfältigung von Gesichtspunkten der Erfahrung und der Lockerung der Bindung an das leibliche Hier heben die Kontingenz der Gesichtspunkte nicht auf." Wir selegieren schon im vortechnischen Alltag auf der Grundlage leiblicher Situierung zwischen Gegebenheiten, die wir zur Kenntnis nehmen, und Einflüssen, die ohne Wirkung bleiben. Daran ändern auch zusätzliche Geräte nichts. Ähnlich argumentiert Waldenfels im Fall der Virtualisierung. In cyber-theoretischen Experimenten wird die Leiberfahrung derart in eine künstlich geschaffene Umwelt eingekoppelt, daß sie ihre Ankerfunktion zu verlieren scheint. Das ist das Katastrophenszenario traditionsgebundener Technikkritik und andererseits die Inspiration visionärer Revisionisten. Waldenfels bleibt gelassen und notiert zwei gezielt divergierende Punkte. Einerseits ist die Andersartigkeit des Cyberspace nur unter Bezug auf die vorhandene Welterfahrung zu denken. Wenn sie unsere Urdoxa zerstört, hebt sie sich selbst als Modus der Welterfahrung auf. Aber es gilt auch: wer Individuen die Imagination "reiner Virtualitäten" wegnimmt, handelt ebenso restriktiv, wie gedankenlose Experimenteure, "denn Visionen sind nicht schon deshalb unwirksam, weil sie Visionen sind".


Tele-Epistemologie

Jeff Malpas beginnt seinen Beitrag "Acting at a Distance and Knowing from Afar: Agency and Knowledge on the Internet" mit dem Hinweis, daß Tele-Epistemologie die neuzeitliche Tradition fortsetzt, von der raum-zeitlichen Körperlichkeit erkennender Subjekte zu abstrahieren. Wissen, das als abstrakte Information verstanden wird, macht keinen Unterschied zwischen greifbaren Dingen und aus der Ferne abrufbaren Datenbeständen. Dementsprechend wäre es gleichgültig, ob das menschliche Sensorium aus der unmittelbaren Umgebung oder von Tele-Präsenzen affiziert wird. In beiden Fällen folgt der Skeptizismus der Reduktion auf dem Fuß. Das Cartesianische Modell eines Innenraums, in den hinein von außen Informationen gelangen, wird durch die Ausstattung des Arbeitszimmers mit Maus und Monitor bloß ausgeschmückt. "From the point of view of this Cartesian-Lockean model of knowledge, the technology of the Internet can be seen as simply expanding our capacities for knowledge in a way that is continuous with the capacities that we already possess." Malpas nutzt diese Ausdünnung der Überzeugungskraft der klassischen Theorie zum Plädoyer für eine phänomenologische Revision des Möglichkeitsspielraums, den sie eröffnet.

Der Monitor ist auf andere Weise präsent, als das virtuelle Museum, durch dessen computer-generiertes Bild eine Benutzerin navigiert. Er verschwindet z.B. nicht durch eine Handbewegung. Seine physische Präsenz ist die Voraussetzung einer bestimmten Art der Abbildung. "It is not that representations cannot serve to provide knowledge such a claim would be absurd but rather that we cannot treat our fundamental access to the world in representational terms." Husserls Lebenswelt und Heideggers In-der-Welt-Sein beschreiben Prärequisiten, an denen sich Erkenntniserweiterung durch technische Geräte bemessen läßt. "This does not mean simply that we cannot treat our relation to the world in terms of the analogy with the room-bound knower connected to the outside by some combination of video, telerobotic, and other system. The ’theoretical’ conception of knowledge that views knowledge as seperated from agency and from location ... itself depends essentially on a view of our basic relation to the world as a mediated or representational one." Dagegen stellt die Phänomenologie differenzierte Beschreibungen der Kontextgebundenheit auch des telematisch ausgedehnten Raumes und seiner virtuellen Dimension.


Cultural Studies

Mit dem Instrumentarium der "cultural studies" nähert sich Katherine Hayles dem Problemkreis. Information hat ihren Körper verloren, aus diesem Grund koinzidieren menschliche und digitale Leistungen. Die Entstehung von Cyborgs und schließlich der Entwurf eines künstlichen Lebens führen die Linie weiter. Zielpunkt der Entwicklung ist eine eigenartige Fusion: "In the posthuman, there are no essential differences or absolute demarcations between bodily existence and computer organism, robot teleology and human goals." So will es die poetisch-utopisch-szientistische Auffassung, welche die neuzeitliche Rationalitätsvorgabe in Datenstrukturen extrapoliert, für die "das Fleisch" eine formlose biologische Masse darstellt. Hayles hält das für verkehrt. "My strategy is to complicate the leap from embodied reality to abstract information by pointing to moments when the assumptions involved in this move were contested by other researchers in the field and so became especially visible." Sie legt außergewöhnlich instruktive Kapitel über das Selbstverständnis der Pioniere der Kybernetik vor, wie es sich in den Protokollen der bahnbrechenden Macy-Konferenzen (1943-1954) darstellt.

Hayles’ Definition von Virtualität ist mit Bedacht breiter gewählt, als im fachphilosophischen Zusammenhang. "Virtuality is the cultural perception that material objects are interpenetrated by information patterns." Gezielt ist dabei die Materie erwähnt, die aus der Informationstheorie gerade ausgeklammert werden sollte. Zur Berechnung der Übertragungskapazität eines Kanals kann man mit Gewinn davon abstrahieren, welche Inhalte übertragen werden. Sie lassen sich zu Bitfolgen formalisieren. Informationsverarbeitung betrifft dann jede Art von Datentransport. "By suggesting certain kinds of experiments, the analogs between intelligent machines and humans construct the human in terms of the machine." Die zunehmende Rafinesse, mit der sich technische Regelkreise konstruieren lassen, färbt damit auf das Menschenbild ab. Die Bedienung eines Radar-Systems macht aus handelnden Personen maschinenartige Relais. Hayles merkt an, das sei in einem bestimmten Kontext durchaus nachvollziehbar; das Problem liege darin, daß anschließend vom Kontext abstrahiert wird. Um diese Tendenz umzudrehen, reicht die Berufung auf Körper im allgemeinen nicht. Die Steigerungsform "embodiment", Verkörperlichung. "Embodiment is akin to articulation in that it is inherently performative, subject to individual enactments, and therefore always to some extent improvisational. Whereas the body can disappear into information with scarcely a murmur of protest, embodiment cannot, for it is tied to the circumstances of the occasion and the person." Ein Augenzwinkern ist nicht auf Informationsgehalt reduzierbar. Die blasse Bedeutung von Körper, die im Cartesianischen Szenario systematisch den Kürzeren zieht, kann damit nicht gemeint sein.