Tugendhat: Freiheitsspielraum? (FiK)

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Da ich hier nicht weiterkomme, möchte ich nur noch auf die Frage zurückkommen, was diejenigen wohl meinen müssen, die an Moores Definition die Frage vermissen, ob die Person es auch wollen konnte. Das ist jetzt zum Teil aufgeklärt, indem sich zeigte, daß man den Faktor, daß die Person die Fähigkeit haben muß, rational zu wollen tatsächlich in die Definition des Verantwortlichseins für H aufnehmen muß. Aber ich glaube nicht, daß der Skeptiker damit schon zufrieden wäre. Er wird darauf insistieren, daß der Handelnde doch einen wirklichen Freiheitsspielraum haben muß, daß er beide Möglichkeiten – das Ja und das Nein – verfügbar haben muß, und daß es dieser Aspekt ist, dem Rechnung getragen werden muß.

Ich meine, die Schwierigkeit kann in zwei Schritten geklärt werden. Erstens: Es ist gerade das Überlegen, in dem der Freiheitsspielraum des So-oder-so-Könnens für den Handelnden selbst geöffnet ist. Er steht vor einer Situation, in der es vom Ergebnis seines Überlegens abhängt, was geschehen wird. In diesem Sinn sind ihm beide Möglichkeiten verfügbar. Welche realisiert wird, hängt vom Ergebnis seines Uberlegens ab. Aber darin liegt natürlich nichts Akausales.

Wenn der Skeptiker nun zweitens weiterfragt und sagt: »Die beiden Möglichkeiten sind doch nicht erst im Überlegen verfügbar, vielmehr müssen sie doch schon vor dem Überlegen gegeben sein, ich mußte doch, auch wenn ich nicht überlegte und doch überlegen konnte, die Möglichkeit zu überlegen verfügbar gehabt haben«, so würde ich antworten: »Du hattest sie ebenso verfügbar, wie Du jetzt die Möglichkeit verfügbar hast, Deinen Fuß zu heben.« In beiden Fällen kann man sagen: »Du kannst es, wenn Du willst«, und hier hat »willst« den Sinn von »Wollen1«.

Damit scheint mir das begriffliche Problem trotz der empfindlichen Lücke, auf die ich eben hingewiesen habe (und trotz möglicher weiterer Ergänzungsbedürftigkeiten, vgl. Anm. 12), im Umriß geklärt. Ich schließe mit einigen Bemerkungen zu den strafrechtlichen Vorschlägen, die U. Pothast im Schlußkapitel seines Buches macht. Pothast geht davon aus – so lautet ja der Titel seines Buches –, daß die Freiheitsbeweise unzulänglich sind. Die Annahme, daß man hätte anders handeln können, sei unberechtigt; infolgedessen dürfe es kein Vergeltungsstrafrecht geben, und an seiner Stelle müsse man vom Rechtsbrecher erwarten, daß er sich einem »quasi-therapeutischen Prozeß« unterziehe, also: Strafvollzug als Resozialisierung. Dieser Gedankengang erscheint mir in mehrfacher Hinsicht abwegig.

Erstens ist unklar, wieso Pothast meint, die Annahme, der Täter hätte anders handeln können, führe zu einer Konzeption von Strafe als Vergeltung. Soweit ich sehen kann, bringt er das nur deswegen herein, weil unser gegenwärtiges Strafrecht, aber aus ganz anderen Gründen, noch Elemente dieser atavistischen Rechtskonzeption enthält. Wie Kenny in "Freewill and Responsibility" nach meiner Meinung überzeugend zeigt, führt die Annahme, daß die Handelnden zurechnungsfähig sind, vielmehr einzig zu einer Auffassung von Strafe als Abschreckung (Generalprävention). Wenn eine Gesellschaft erstens verhindern will, daß ihre Mitglieder bestimmte Handlungen tun, und wenn sie zweitens voraussetzt, daß diese Mitglieder zurechnungsfähig sind, ist es rational, Übel in Aussicht zu stellen, die die Mitglieder der Gesellschaft in ihre Überlegungen einbeziehen müssen, wenn sie versucht sind, diese Handlungen zu begehen.

Zweitens möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die Annahme, es bestehe keine Freiheit, bei Pothast wie bei allen anderen, die Freiheit in diesem metaphysischen Sinn verstehen, demzufolge es der Gegenbegriff zu Determinismus sei, dazu führt, den empirisch allein wichtigen Unterschied zwischen zurechnungsfähigem und zwanghaftem Handeln völlig zu vernachlässigen (Nur wo ein Handeln zwanghaft ist, ist ein Abschreckungsstrafrecht unberechtigt und auch gar nicht sinnvoll, weil der so Handelnde von seiner Handlung nicht durch Strafen abzuschrecken ist. Deswegen kann an dieser Stelle (aber auch nur an dieser Stelle) an eine Therapie gedacht werden (aber es ist eine weitere und nunmehr moralische Frage, ob es berechtigt ist, jemanden zu einer Therapie zu zwingen). Wie abwegig Pothasts Vorstellung von einer allgemeinen Ersetzung von Strafe durch Therapie ist, kann man sich an solchen Bereichen wie dem Verkehrsrecht, der Steuerhinterziehung und vor allem dem politischen Strafrecht klarmachen. Wer solche Straftaten begeht, begeht sie normalerweise zurechnungsfähig und im Bewußtsein des Inkaufnehmens des Risikos der auf sie gesetzten Strafen, und er würde sich in seiner Person – in seiner freien Entscheidung – mißachtet sehen, wenn er, statt bestraft zu werden, einer Therapie unterzogen würde. Auch bei verminderter Zurechnungsfähigkeit ist natürlich die einzige Rechtfertigung für eine Therapie die Restitution der vollen Zurechnungsfähigkeit als solcher und nicht das Andressieren der von der Gesetzgebung geforderten Verhaltensweisen, wie Pothast deswegen nahelegen muß, weil er die Möglichkeit der Zurechnungsfähigkeit leugnet.


Ernst Tugendhat zum Begriff der Willensfreiheit, Artikel (FiK)


<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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