Tugendhat: Drei Bereiche (FiK)

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Der erste ist der moralische. Moralische Forderungen setzen Zurechnungsfähigkeit voraus. Die Art, wie wir uns moralisch zu uns selbst und zu anderen verhalten — man denke auch an die sog. moralischen Gefühle der Schuld, der Entrüstung und des Grolls —, impliziert immer, daß wir, wenn wir unmoralisch handeln, auch moralisch hätten handeln können. Kant und der Großteil der seitherigen Philosophie haben das Problem der Zurechnungsfähigkeit ausschließlich im Zusammenhang mit der Moral behandelt, so sehr, daß die Zurechnungsfähigkeit in der englischen Philosophie häufig geradezu als »moral responsibility« bezeichnet wird. Das bedeutet natürlich eine Verengung.

Der zweite praktische Bereich ist der des Strafrechts. Alles moderne Strafrecht setzt voraus, daß nur derjenige bestraft werden darf, der zurechnungsfähig ist. H. Hörster schreibt in einem Lexikonartikel zum Terminus »Schuld«: »Unser Strafrecht geht... davon aus, daß der Täter nur dann für sein Unrecht verantwortlich ist, wenn er es hätte vermeiden können ... Es ist die genaue Interpretation dieses >hätte vermeiden können<, die im Mittelpunkt des Streits um den strafrechtlichen Schuldbegriff steht. Häufig wird angenommen, nur ein mit einem indeterminierten Willen begabter Täter X >hätte anders handeln können<, als er tatsächlich gehandelt hat. Aus dieser Annahme folgern dann die Anhänger des Determinismus, allen Tätern fehle grundsätzlich die Schuldfähigkeit; die Übelszufügung der Strafe für vergangenes Tun sei daher schlechthin illegitim und durch erzieherische Maßnahmen mit dem Ziel der Resozialisierung des Täters zu ersetzen.« Im Bereich des Strafrechts ist also die Frage, ob und wie man den Ausdruck »er hätte auch anders können« verstehen kann, von eminenter Bedeutung, da davon abhängt, was man als den Sinn der Strafe ansieht und ob eine Strafe überhaupt berechtigt ist. Mit Recht ist daher von zwei der wichtigsten neueren Autoren zur Thematik der Zurechnungsfähigkeit — Anthony Kenny und Ulrich Pothast – das Problem vor allem in diesem strafrechtlichen Kontext behandelt worden.

Vielfach wird jedoch darüber hinweggesehen, daß es außer und vor den Bereichen der Moral und des Strafrechts noch einen dritten praktischen Bereich gibt, der auf den Begriff der Zurechnungsfähigkeit angewiesen ist, nämlich der der praktischen Überlegung überhaupt. Dieser Bereich weist bereits dieselbe Grundstruktur auf wie die beiden anderen – daß man etwas wählen soll, was man gegebenenfalls nicht wählt, aber hätte wählen können –, ohne doch durch die zusätzlichen Aspekte, daß das Gesollte etwas moralisch Gesolltes oder etwas rechtlich Gesolltes ist, kompliziert zu sein. Das psychologisch grundlegende Phänomen, daß man auch anders hätte wählen können, ist hier genauso gegeben wie in den anderen beiden Bereichen. Es kann daher hier am einfachsten untersucht werden, gewissermaßen unbelastet durch die möglichen starken Vormeinungen, die man über die Begründbarkeit von Moral und die Legitimität eines Strafrechts hat.

Wenn ich sage, auch in diesem elementaren Bereich der praktischen Überlegung geht es um etwas, was man soll, so hat das Wort »sollen« hier noch einen ganz schwachen, nicht-normativen Sinn. Alles Überlegen hat zum Gegenstand die Frage, was zu tun gut ist bzw., mit Bezug auf die in einer Situation vorgegebenen Alternativen, was zu tun das Beste ist oder das am wenigsten Schlechte. »Gut« und »schlecht« können wir jetzt, da wir vorerst vom Moralischen absehen, ganz einfach als »gut und schlecht für mich« verstehen. Man unterscheidet seit alters her das Gute und das Angenehme. Als angenehm bezeichnet man das, was mein Wollen unmittelbar positiv bestimmt; als gut dasjenige, was ich auf Grund eines Überlegens will. Man spricht auch vom rational bzw. begründet Gewollten, und in diesem (und nur diesem) Sinn kann man auch sagen, daß es das Gesollte ist. Zum Beispiel: Ich bleibe am Morgen wohlig im Bett liegen. Nach einiger Zeit stelle ich mit Bestürzung fest, daß ich das und das hatte erledigen wollen; daß ich es jetzt nicht tun kann, hat üble Konsequenzen für mich. Ich hätte also, sage ich mir nachher, daran denken sollen, und ich sage es, mir vorwurfsvoll, denn ich hätte ja, so unterstelle ich, daran denken können. Ein anderes Beispiel: Ich habe mir überlegt, mein Leben, z. B. mein Berufsleben, in bestimmter Weise zu ändern, ich kündige z. B. meine Professur, um eine andere Tätigkeit aufzunehmen. Nach der Entscheidung sage ich mir: Du hast nicht richtig überlegt, du hast Aspekte der Situation, die du durchaus schon damals hättest sehen können, nicht beachtet. Diese Selbstvorhaltung – oder es könnte auch die Vorhaltung eines Freundes sein – hat normalerweise zur Folge, daß ich das nächste Mal, wenn ich vor einer ähnlichen Situation stehe, eher überlegen bzw. besser überlegen werde; »normalerweise« sage ich, denn es gibt auch Fälle, wo wir nicht in der Lage sind, in dieser Weise aus der Erfahrung zu lernen. Wir sprechen dann von Zwanghaftigkeit. Die beiden Beispiele unterscheiden sich so, daß ich in dem ersten, dem Bettbeispiel, gar nicht überlegt habe, aber hätte überlegen können, in dem zweiten zwar überlegt habe, aber hätte anders, besser überlegen können.


Ernst Tugendhat zum Begriff der Willensfreiheit, Artikel (FiK)


<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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