Tugendhat: Alternativen (FiK)

Aus Philo Wiki
Version vom 19. April 2007, 15:15 Uhr von Anna (Diskussion | Beiträge) (corr.)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Wechseln zu:Navigation, Suche

Kommen wir nun zu dem, was an der Zurechnungsfähigkeit so schwer verständlich ist, die Aussage »er hätte auch anders handeln können«! Die Frage ist, was hier mit »kann« gemeint ist, also welchen Sinn die Rede von einer Möglichkeit hier hat, und damit hängt natürlich unmittelbar zusammen die Frage, was der Gegenbegriff ist. Das habe ich schon angedeutet, als ich das zwanghafte Handeln erwähnte. So hat es schon Aristoteles gesehen. Freiwillig und d. h. zurechnungsfähig handeln wir nach Aristoteles, wenn wir a) wissen, was wir tun, und wenn wir b) nicht unter Zwang handeln. Dabei hat er im wesentlichen nur an äußeren Zwang gedacht. Unser heutiges Problem ist, daß wir auch dem Phänomen eines inneren Zwanges Rechnung tragen müssen.

In der Moderne kam es dann aber zu einer, wie ich meine, höchst unglücklichen Tradition (vertreten vor allem durch Kant), die auf die eigentümliche Vorstellung verfiel, mit dieser Möglichkeit sei nicht einfach Nichtzwanghaftigkeit gemeint, sondern daß die Handlung nicht notwendig sei in dem Sinn, daß sie nicht kausal verursacht sei. Leider ist die Vorstellung immer noch weit verbreitet, auch bei Strafrechtlehrern, sie ist aber auch von einigen zeitgenössischen Philosophen wie z. B. von Chisholm wieder aufgenommen worden. Diese Annahme, daß eine zurechnungsfähige Handlung nicht verursacht sei, läßt nur zwei Deutungen zu: entweder es heißt, daß sie indeterminiert ist im Sinn von zufällig, aber natürlich würden wir nie jemandem eine Handlung zurechnen, die eigentlich dem Zufall zuzurechnen ist; oder aber man meint (und das ist ungefähr Chisholms Auffassung), es sei nicht der jeweils frühere Zustand der Person, der die Handlung verursacht hat, sondern es sei »die Person selbst«. Diese Formulierung scheint gut dazu zu passen, daß wir, wenn wir eine Handlung jemandem zurechnen, auch sagen können, »er selbst hat es getan«, aber dieser Redeweise wird hier ein offensichtlich absurder Sinn unterstellt, weil es erstens nicht hinter dem natürlichen Geschehen eine solche Entität, genannt »die Person selbst«, gibt, und weil zweitens, selbst wenn es sie gäbe, eine Entität nie eine Handlung verursachen könnte; eine Handlung — und jede Handlung ist ein Ereignis — kann immer nur durch ein anderes Ereignis verursacht sein.

Ich meine also, diese ganze Tradition stellt einen Irrweg dar. Die ernstzunehmende moderne Tradition ist diejenige, die von Hume ausgeht und die die Auffassung vertritt, daß freies Handeln nicht etwas Übernatürliches ist, sondern eine bestimmte Art von natürlichem und d. h. kausalem Geschehen. Wir unterscheiden dieses Gesehenen von anderem Geschehen, bei dem wir nicht von Zurechnungsfähigkeit sprechen, durch empirische Kriterien, und die Frage ist einzig und allein, worin diese bestehen.

Die schönste Erörterung dieser Problematik innerhalb der Humeschen Tradition ist nach meiner Meinung das Kapitel über Willensfreiheit in G. E. Moores Ethics von 1912. Es scheint mir sinnvoll, von ihr auszugehen. Moore weist darauf hin, daß unser Wort »kann« offenkundig zweideutig ist. In einem bestimmten Sinn von »können« sagen wir von vielen Dingen, sie hätten geschehen können, obwohl sie nicht geschehen sind, und heben das ab von anderem, was in diesem Sinn von »können« nicht hätte geschehen können. Zum Beispiel: Ich hätte in diesem Sinn von »können« und »nicht können« heute morgen eine Meile in 20 Minuten laufen können, aber nicht 20 Meilen in 5 Minuten. Obwohl ich in diesem Sinn von »können« etwas hätte tun können, was ich nicht getan habe, ist gleichwohl alles, was ich getan habe, verursacht gewesen und war insofern notwendig und hätte also nicht anders sein können. Das ist ein zweiter Sinn von »können«, in dem ich nichts von dem, was ich nicht getan habe, gleichwohl hätte tun können. Worauf Moore hier sehr richtig hinweist, ist, daß es einen Sinn von »können« gibt, der nicht im Gegensatz zu Notwendigkeit, sondern im Gegensatz zu Unfähigkeit steht. Wir müssen dasjenige Können, das wir in der Rede von Freiheit meinen, aus dem Zusammenhang mit diesem Können verstehen, das sich auf Fähigkeit bezieht.


Ernst Tugendhat zum Begriff der Willensfreiheit, Artikel (FiK)

<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

<div class="nowiki2scorm">Valid XHTML</div></root>