Tugendhat: Definitionen (FiK)
Hier lohnt es sich, Moores Ansatz etwas zu erweitern, indem man auf die Unterscheidungen zurückgeht, die schon Aristoteles getroffen hat, der zum ersten Mal auf dieses Können im Sinn von Fähigkeiten aufmerksam geworden war. Heute werden insbesondere sogenannte Dispositionsprädikate so definiert. Zum Beispiel:
(1) S ist zerbrechlich = Def. wenn die und die Umstände eintreten, zerbricht S.
Diese Umstände sind gerade bestimmte kausale Faktoren. Daß ein Ding zerbrechen kann, heißt: Es ist so konstituiert, daß es, wenn die und die kausalen Faktoren hinzukommen, (wirklich) zerbricht.
Bei menschlichen Fähigkeiten ist die Sache nach Aristoteles insofern komplizierter, als es bei ihnen nicht genügt, daß die Umstände eintreten, sondern die Person muß es auch wollen. Wenn wir z. B. den Ausdruck definieren »S kann Geige spielen«, so muß jetzt im Definiens zweierlei auftreten: sowohl daß bestimmte äußere Umstände gegeben sind, z.B. daß S Geige und Bogen in den Händen hält, darüber hinaus aber auch, daß S die Fähigkeit ausüben will. Das erlaubt nun folgenden weiteren Schritt: Wir definieren jetzt den Ausdruck »S kann das und das tun« in der Weise, daß wir die Umstände, die gegeben sein müssen, damit die Person es, wenn sie will, tun kann, als gegeben voraussetzen, d. h. im Beispiel: Es ist jetzt vorausgesetzt, daß S nicht nur die Fähigkeit hat, Geige zu spielen, sondern daß er auch Geige und Bogen in Händen hält, und dann betrifft das Können, das jetzt noch offen ist, nur noch denjenigen offenen Spielraum, der durch den Faktor bestimmt ist, ob die Person es will oder nicht, so daß wir definieren können (und damit komme ich auf Moore zurück):
(2) S kann H tun = Def. S tut H, wenn er will.
Ob er es tut oder nicht, hängt nur noch von ihm ab, das heißt nur noch davon, ob er es will. Dieses »kann« scheint nun tatsächlich dasjenige »kann« zu sein, das wir meinen, wenn wir jemanden für eine Handlung bzw. Unterlassung verantwortlich machen. Statt das Definiendum so zu formulieren wie eben (»S kann X tun«),können wir auch sagen »S hat die Verantwortung für x«, und dabei können wir dasselbe Definiens festhalten (»S tut x, wenn er will«), d. h., ob x geschieht oder nicht, hängt nur davon ab, ob S es will. Moore war vorsichtig genug, sofort zuzugeben, er wisse nicht, ob das, was in dieser Definition erfaßt ist, alles ist, was wir mit Willensfreiheit bzw. Verantwortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit meinen. Er gibt immerhin zu bedenken, daß diese Definition durchaus gut dazu paßt, daß wir Personen dann und nur dann tadeln oder loben, ihnen Vorhaltungen machen, sie strafen, wenn wir voraussetzen, daß sie in dem definierten Sinn verantwortlich sind, denn dies alles: Tadeln, Strafen usw. sind Verhaltensweisen, durch die wir auf den Willen des Subjekts einwirken.
Viele Autoren und schon Moore selbst sahen die Hauptschwierigkeit seiner Definition darin, daß sie nur die Frage betreffe, ob wir, je nachdem, ob wir wollten, verschieden hätten handeln können, daß damit aber die Frage offen bleibe, ob wir auch hätten anders wollen können, und das, so meint man, sei doch das eigentliche Problem. Dieser Vorwurf wird häufig so formuliert, hier werde nur Handlungsfreiheit, nicht Willensfreiheit definiert. Aber es scheint mir nicht ohne weiteres klar, was mit dieser Frage, ob man auch anders hätte wollen können, eigentlich gemeint ist. Welchen Sinn hat das »können« hier? Wenn es denselben Sinn hat wie vorhin, also das »kann« im Sinn von Fähigkeit gemeint ist, dann wäre die Beantwortung dieser Frage nicht besonders problematisch. Man könnte definieren:
(3) S kann H wollen = Def. S will H, wenn sein Wille entsprechend affiziert wird, z. B. durch Strafe oder Belohnung.
Eine solche Erklärung ist aber wohl kaum das, was von denjenigen vermißt wurde, die eine Erklärung des Wollenkönnens einklagen. Was ist es dann aber, was sie vermissen? Das können sie gewöhnlich nicht erklären, und deswegen kommen sie dann gegebenenfalls auf jene sinnwidrige metaphysische Freiheitsidee oder sie lassen alles im Vagen. Ich will versuchen, das von ihnen Vermißte zur Artikulation zu bringen, mache dazu aber einen Umweg über einen anderen Schwachpunkt von Moores Definition, den ich für den entscheidenden halte.
So wie Moore das freiwillige Handeln definiert, ist es nämlich für den Begriff des verantwortlichen, zurechnungsfähigen Handelns viel zu weit. Wenn alles Handeln verantwortlich wäre, das vom Wollen des Subjekts bestimmt ist, würden auch Tiere und Kleinkinder zurechnungsfähig sein. Auch Tiere reagieren auf Strafe, trotzdem halten wir sie nicht für zurechnungsfähig. Ebensowenig kann man mittels Moores Begriff zwanghaftes und zurechnungsfähiges Handeln unterscheiden. Auch die verminderte Zurechnungsfähigkeit z. B. eines Betrunkenen ist auf diese Weise nicht faßbar, denn auch beim Betrunkenen können wir sagen: Er tut, was er will, und wenn er anders gewollt hätte, hätte er anders gehandelt.
Der grundlegende Fehler von Moores Definition scheint also darin zu liegen, daß er nicht zwischen verschiedenen Arten des Wollens unterscheidet. Ich habe scon vorhin an den traditionellen und sachlich wohlfundierten Unterschied erinnert zwischen einem auf Überlegung beruhenden und in diesem Sinn rationalen Wollen, das sich auf das bezieht, was man für gut oder schlecht hält, und dem, was traditionell das sinnliche Wollen genannt wurde, das von Empfindungen — den Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen — bestimmt ist. Ich will das schlichte Wollen — und das ist dasjenige, von dem Moore handelt — als Wollen1, bezeichnen und das rationale Wollen als Wollen2. Auf dieser Grundlage läßt sich Zurechnungsfähigkeit folgendermaßen definieren:
(4) S ist zurechnungsfähig = Def. S hat a) die Fähigkeit zu überlegen und b) die Fähigkeit, das Ergebnis seiner Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen.
Eine kürzere Formulierung dafür wäre: S ist fähig zu tun, was er für das Beste hält. Oder auch: Er ist fähig zu einem Wollen2.
Zwei Aspekte dieser Definition müssen unterstrichen werden. Erstens: Es wäre natürlich falsch zu sagen, S sei zurechnungsfähig, wenn er überlegt usw.; er ist natürlich auch dann zurechnungsfähig, wenn er gerade nicht überlegt, solange er nur überlegen kann. Das zeigt schon, daß man hier nach einem Kriterium dafür fragen muß, wann wir von S sagen können, daß er überlegen kann. Darauf komme ich noch zurück. Zweitens: Es genügt natürlich nicht zu sagen: Er ist zurechnungsfähig, wenn er überlegen kann, denn wenn jemand nur überlegt, ohne zu Ergebnissen zu kommen, ist das eine Form von Zwanghaftigkeit; und wenn er zwar zu Ergebnissen kommt, aber diese nicht handlungswirksam machen kann, ist das der Fall, bei dem wir normalerweise von zwanghaftem Handeln sprechen. Es gibt also zwei Weisen von Nichtzurechnungsfähigkeit: Mit Willen begabte Wesen wie z. B. ein Tier oder ein Volltrunkener sind nicht zurechnungsfähig, weil sie nicht überlegen können. Demgegenüber ist jemand in einem anderen Sinn unzurechnungsfähig, wenn seine Handlungen zwanghaft sind, d. h. wenn er zwar überlegen kann, aber seine Überlegungen entweder zu keinem Ergebnis führen oder er das, was er für das Beste hält, nicht handlungswirksam werden lassen kann. Es gibt dann andere willentliche Kräfte in ihm, die sozusagen stärker sind als er, als »er«, d. h. als sein rationales Wollen. Das Wollen2 kann sich nicht gegen das Wollen, durchsetzen.
John Hospers hat in seinem Aufsatz »What means this Freedom?« eine Definition von Zurechnungsfähigkeit gegeben, die mit (4) im wesentlichen übereinstimmt. Er sagt: Ein Mensch sei in dem Grad verantwortlich, in dem sein Handeln »durch den Gebrauch von Gründen verändert werden kann«. Daß Gründe das Handeln eines Menschen beeinflussen können, ist ja ungefähr dasselbe wie daß Überlegungen sein Handeln beeinflussen können. Die Erklärung von Hospers enthält aber ein Element, das ich bisher nicht berücksichtigt habe und das sicher richtig ist, nämlich das der Gradualität. Zurechnungsfähigkeit ist ein graduelles Phänomen, daher die im Strafrecht wichtige Rede von verminderter Zurechnungsfähigkeit. (Jeder, der viel Alkohol verträgt, kann sich diese Gradualität an sich selbst veranschaulichen, indem er seinen Alkoholspiegel graduell erhöht.)
Ich kann jetzt zu Moore zurückkehren und das jetzt Gewonnene mit seiner Erklärung verbinden. Moore hatte definiert: S kann H tun = Def. S tut H, wenn er will. Dabei hat das Wort »will« den Sinn von Wollen1, (oder genauer: Es wird zwischen Wollen1, und Wollen2 nicht unterschieden). Das ist eine Definition von freiwilligem Tun. Soll jetzt das Tunkönnen im Definiendum Zurechnungsfähigkeit implizieren, so wäre ein erster Schritt folgende Definition:
(5) S ist verantwortlich für H (oder: zurechnungsfähig mit Bezug auf H) = Def. S tut H, wenn er H will2.
Jetzt aber, beim Wollen2, stellt sich wirklich und ernsthaft die Frage, ob S denn überhaupt H wollen2 kann. Wir müssen also (5) so vervollständigen:
(5a) S ist verantwortlich für H = Def. S tut H, wenn er H will2, und S kann H wollen2.
Nun ist diese Definition nur empirisch anwendbar, wenn wir für den zweiten Teil des Definiens ein empirisches Kriterium angeben können. Wie können wir feststellen, ob S H wollen2 kann? S kann H wollen (in diesem Sinn von »wollen«) heißt: Wenn S überlegt, kommt er entweder zu dem Ergebnis, daß er H will oder dazu, daß er H mit Gründen verwirft. Aber das setzt voraus, daß er bzgl. H Überlegungen anstellen kann bzw. daß er überhaupt überlegen kann. Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, daß eine operationalisierbare Definition von Zurechnungsfähigkeit voraussetzt, daß wir ein Kriterium dafür angeben können, daß S überlegen kann. Wahrscheinlich genügt es – insbesondere auch in bestimmten Fällen des Strafrechts – nicht, von einer Person nur zu sagen, sie sei zurechnungsfähig oder nicht, denn es liegt nahe, daß eine Person mit Bezug auf viele Arten von Handlungen zurechnungsfähig ist und nur mit Bezug auf einen bestimmten Typ von Handlungen unzurechnungsfähig. In diesem Fall müßte man auch die Fähigkeit zu überlegen (und mit dieser abgekürzten Rede meine ich immer die Fähigkeit zu überlegen und das Ergebnis seiner Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen) entsprechend spezifizieren. Bleiben wir aber zunächst bei dem einfacheren, globalen Fall der Rede von Zurechnungsfähigkeit bzw. Unzurechnungsfähigkeit schlechthin! Das heißt: Wir brauchen zunächst nur eine Definition von »S kann wollen2«, nicht von »S kann H wollen2«. Hier wäre nun ein einfacher Vorschlag:
(6) S kann überlegen = Def. S überlegt, wenn er will.
Diese Definition erfolgt nach dem Muster von Definitionen auch sonstiger menschlicher Fähigkeiten (vgl. oben die Definition 2), z. B.: S kann seinen Fuß heben = Def. S hebt seinen Fuß, wenn er will. Hier hat natürlich »will« den einfachen Sinn von »Wollen1«. Das muß selbstverständlich auch in (6) unterstellt werden, da diese Erklärung ja sonst zirkulär würde.
Nun haben solche Definitionen das Manko, daß sie nicht ein empirisches Kriterium an die Hand geben, denn wie stellen wir fest, ob S will? Natürlich werden wir immer, wenn er den Fuß tatsächlich hebt, sagen, er wollte ihn heben, und immer, wenn er tatsächlich überlegt, können wir sagen: Er wollte überlegen. Aber die Definition soll doch auch gerade die Fälle umfassen, wo er zwar kann, aber es nicht tut. Ich schlage daher eine andere Definition vor, die ein empirisches Kriterium enthält: S kann seinen Fuß heben = Def. in Situationen, die normalerweise erfordern, den Fuß zu heben, hebt er meist den Fuß. Entsprechend:
(6a) S kann überlegen = Def. in Situationen, die überlegungsbedürftig sind, also in denen S vor einer Wahl zwischen Vorteilen und Nachteilen steht, überlegt S gewöhnlich.
Kommen wir nun zu dem vorhin zurückgestellten Fall einer nicht verminderten, sondern eingeschränkten Unzurechnungsfähigkeit, einer Unzurechnungsfähigkeit mit Bezug auf einen bestimmten Typ T von Handlungen (bzw. auf einen bestimmten Handlungsbereich)! Während wir (6) natürlich ohne weiteres auf diesen Fall erweitern können, trifft dies für die empirisch gehaltvolle Definition (6a) nicht mehr zu. Die uneingeschränkte Zurechnungsfähigkeit ist gemäß (6a) leicht verifizierbar, weil man hier ausreichend variieren kann: Es gibt genügend einfache Fälle, wo die Vor- und Nachteile so eindeutig liegen, daß man sagen kann: Wenn S hier nicht überlegt handelt, kann er überhaupt nicht überlegt handeln. Aber gerade deswegen können wir dieses Verfahren nicht auf den Fall der auf einen bestimmten Typ T eingeschränkten Unzurechnungsfähigkeit übertragen. Wie können wir wissen, ob eine Person in einer bestimmten Situation nicht anders hätte wollen2 können, daß sie zwanghaft handelte, und nicht lediglich immer wieder nicht anders handeln will, wobei mit »will« durchaus das rationale Wollen gemeint ist? An dieser Stelle muß ich passen.
Ernst Tugendhat zum Begriff der Willensfreiheit, Artikel (FiK)
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<h level="2" i="1">== Kontext ==</h>
Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)
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