Tugendhat: Überlegen (FiK)
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß unser ganzes waches Leben, soweit es immer wieder in Situationen gerät, die Entscheidungen erfordern, ganz egal, ob es sich um ganz kleine oder ganz wichtige Dinge handelt, durchsetzt ist von diesem Spielraum des Überlegens, für das immer charakteristisch ist, daß wir ihn mehr oder weniger wahrnehmen können. Natürlich gehören hier auch so einfache Fälle hin, wie daß wir Kindern nahelegen, daß sie, wenn sie die Straße überqueren, das überlegt tun mögen. Das Kind ist unüberlegt über die Straße gelaufen, und wir sagen ihm: Du hättest achtgeben können. Wir weisen es auf die Realität hin und die üblen Konsequenzen, die seine Unüberlegtheit für es haben kann. Diese Vorhaltung, wie ich es nennen möchte, ist nicht eigentlich ein Vorwurf, denn sie bezieht sich nicht auf etwas Normatives. Sie besagt einfach: Schade, du hast etwas getan, was ein Übel für dich zur Folge haben könnte, und was du, wenn du überlegt hättest, hättest vermeiden können. Im psychoanalytischen Jargon gesprochen, ist die Instanz, auf die hier Bezug genommen wird, die Instanz des Überlegens, das Ich, nicht das Überich.
Aus psychoanalytischer Sicht ist das sogar fast selbstverständlich: das Ich ist die Instanz der Freiheit. Aber in der philosophischen Diskussion hat die primäre Präokkupation mit den beiden anderen Bereichen, in denen Zurechnungsfähigkeit im Zusammenhang mit Moral und mit Recht gesehen wird, dieses Faktum eher verdunkelt. Ich finde es wichtig, diesen elementaren Bereich des Uberlegens im allgemeinen bei der Erörterung der Zurechnungsfähigkeit mit im Auge zu behalten, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß diejenigen, die (wie z. B. Pothast) dazu neigen, das Faktum der Zurechnungsfähigkeit deswegen zu leugnen, weil seine Anerkennung im Bereich des Strafrechts zu nach ihrer Meinung unberechtigten Folgerungen führt, es auch in diesem elementaren Bereich leugnen können. Denn es gehört einfach zum Sinn des Uberlegens, daß wir davon ausgehen, daß wir so und auch anders handeln können, und darin liegt dann auch, daß wir anders hätten handeln können, als wir faktisch gehandelt haben. Das ist auch wichtig für die Auseinandersetzung mit jenen Philosophen, die glauben, daß die Aussage, daß eine Handlung zurechnungsfähig ist in dem Sinn, daß die Person sie hätte vermeiden können, ein metaphysisches Faktum oder einen Indeterminismus voraussetzt. Für Kant war die Moral selbst etwas Metaphysisches, und so mag es bei ihm nahegelegen haben, das metaphysische Faktum der Moral an ein metaphysisches, übernatürliches Faktum von Freiheit zu binden. Aber diejenige Zurechnungsfähigkeit von der wir beim Überlegen Gebrauch machen und auf die wir uns beziehen, wenn wir uns entsprechende Vorhaltungen machen, ist ein empirisches Faktum unseres alltäglichen Lebens. Mit Bezug auf dieses Faktum erscheint es absurd, von einer »Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise« zu sprechen, wie es Pothast tut. Denn dieses Faktum muß nicht bewiesen, es muß nur aufgeklärt werden.
Dieses Faktum ist wohl auch für uns alle wertbesetzt. Menschen müssen ein Interesse daran haben, die Fähigkeit, überlegen zu können und die Überlegungen für das eigene Handeln wirksam werden zu lassen, auszubilden, da die Alternative wäre, daß jemand anderer für uns überlegen müßte, wir uns also unter Kuratel stellen lassen müßten, was wir ja tatsächlich mit denjenigen von uns, von denen wir überzeugt sind, daß sie unzurechnungsfähig sind, tun. Autonomie in diesem ganz schwachen Sinn, daß jemand die Fähigkeit hat, für sich selbst wirksam überlegen zu können, wird daher auch von vielen als Ziel — ja von vielen als das einzige Ziel — einer richtigen Erziehung angesehen. Jedenfalls ist die Meinung heute verbreitet, daß es nicht das Ziel der Erziehung ist, Kindern bestimmte normative Vorstellungen zu vermitteln, wohl hingegen, ihnen dabei behilflich zu sein, in dem eben bezeichneten schwachen Sinn autonom zu werden. Dasselbe gilt für die Selbsterziehung, die wir gegebenenfalls mit Bezug auf uns selbst anstreben, eventuell mit der Hilfe einer Psychoanalyse; immer geht es hier darum, den Bereich der Autonomie zu erweitern, d. h. die Möglichkeit, zu überlegen und die Ergebnisse des Überlegens, d.h. das von uns als für uns gut Angesehene für unser Handeln wirksam werden zu lassen; in dem Maße, in dem das nicht gegeben ist, sprechet wir von einem zwanghaften Handeln.
Die Zurechnungsfähigkeit, auf die wir in diesem dritten praktischen Bereich verwiesen werden, ist eigentlich die erste; die Zurechnungsfähigkeit, auf die wir in der Moral Bezug nehmen müssen, und die, die im Strafrecht vorausgesetzt wird, wurzeln in ihr. Denn die Gesichtspunkte der Moral und des Rechts sind für das Individuum einfach weitere Faktoren, die es als für sich gut oder für sich schlecht ansieht und die es genauso in seinen Überlegungen berücksichtigen bzw. zu berücksichtigen unterlassen kann wie alle anderen Faktoren der Situation, die für es gut oder schlecht sind. Identifiziert sich ein Individuum mit einer moralischen oder einer Rechtsnorm, dann heißt das, daß, was in ihr als an sich oder für die Gesellschaft gut bezeichnet wird, von ihm auf die eine oder andere Weise auch als für es selbst gut angesehen wird. Identifiziert es sich hingegen mit dieser Norm nicht, so muß es zur Kenntnis nehmen, daß die Verletzung dieser Norm mit einer Strafe verbunden ist, und diese Strafe wird es nun als ein weiteres mögliches Übel für sich in seine Überlegungen einbeziehen — wenn es zurechnungsfähig ist.
Ernst Tugendhat zum Begriff der Willensfreiheit, Artikel (FiK)
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Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)
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