Swertz: Der Effekt der Transistorverstärker auf den Tanz

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3.2.3.5 Implosion durch digitale Atomisierung

Nachdem sich die hier verwendete Methode am Beispiel der Digitalisierung mit der Tastatur bewährt hat, werden nun weitere Effekte der Computertechnik auf den Bildungsprozeß dargestellt. Dazu wird in diesem Abschnitt auf die Analysen McLuhans zurückgegriffen. Die These ist, daß die Digitalisierung der Buchstaben das phonetische Alphabet überhitzt und zur Implosion bringt. Diese These greift auf McLuhans Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien zurück, die im nächsten Abschnitt eingeführt und weiterentwickelt wird. Diese Unterscheidung ergänzt den hier eingeführten Medienbegriff und erweitert damit das zur Verfügung stehende Instrumentarium. Anhand der Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien wird das neue didaktische Konzept heißer und kalter Methoden entwickelt. Ebenfalls im Anschluß an McLuhan wird dann die Explosion und die Implosion als Wirkung von Medien aufgegriffen und nachgewiesen, daß die Digitalisierung des phonetischen Alphabets mit Turingautomaten die Wirkung der Computertechnik von der Explosion zur Implosion verkehrt.

3.2.3.5.1 Heiße und kalte Medien

McLuhan nennt ein Kriterium, nach dem sich heiße und kalte Medien unterscheiden lassen:

"Ein 'heißes' Medium ist eines, das nur einen der Sinne allein erweitert, und zwar bis etwas 'detailreich' ist. Detailreichtum ist der Zustand, viele Daten oder Einzelheiten aufzuweisen" (McLuhan 19641992: 35).

Das zentrale Kriterium für heiße und kalte Medien ist der Detailreichtum. Dabei verwendet McLuhan die Begriffe relativ. Die Temperatur eines Mediums stellt er im Vergleich zu einem anderen Medium fest. McLuhan nennt eine Reihe von Beispielen, die hier aus dem Buch 'Understanding Media' vollständig zusammengestellt sind:


Heiße Medien Kalte Medien

                                                   

Radio Telefon 35

Fotografie Karikatur 35

Film Fernsehen 35

Phonetisches Alphabet Gesprochene Sprache 35

Phonetisches Alphabet Hieroglyphen 36

Phon. Alphabet Ideographische Schriftzeichen 36

Papier Stein 36

Buch Zwiegespräch 36

Stahläxte Steinäxte 37

Geld 37

Rad 37

Mechanische Medien Elektrische Medien 40

Netzseidenstrümpfe Nylons 43

Radio Zeitung 43

Atombombe Spiele 45

Plattenspieler Fernsehen 46

Klare Brillen Sonnenbrillen 46

Fotografie, Radio, Film Die Zeitschrift MAD 193

Fotografie, Radio, Film Comics 195

Radio Fernsehen 342

Buchdruck Comics 352

Buchdruck Fernsehen 352

Zeitung Fernsehen 353<A CLASS="sdfootnoteanc" NAME="sdfootnote1anc" HREF="#sdfootnote1sym">1</A>

Radio Fernsehen 356

Film Fernsehen 363

Buchdruck Handschrift 364

Hardcoverbücher Paperbackbücher 370

Limousinen Kleinwagen 371

Film [Stummfilm C.S.] Fernsehen 376

(Tab. 2: McLuhan 19641992: Seitenangaben hinter den Beispielen)

McLuhan wendet die Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien an, ohne sie zu definieren. Er liefert keine Bestimmung der Begriffe. Dadurch wird die Anwendung des Konzepts auf andere als die genannten Medien mindestens mühsam, wenn nicht unmöglich. Für die hier beabsichtigte Anwendung auf die Computertechnologie ist es daher notwendig, die Begriffe zu präzisieren. Dazu ist es zunächst zweckmäßig, ein Beispiel genauer darzustellen.

Eine Fotografie kann nur gesehen werden, vom Gehör, dem Tastsinn oder einem anderen Sinn kann sie nicht wahrgenommen werden. Die Fotografie spricht nur einen Sinn an. Dabei sind auf einer Fotografie in Relation zur Karikatur viele Einzelheiten sichtbar. Die Fotografie bietet dem Sehsinn hohen Detailreichtum. Da Fotografien nur einen Sinn ansprechen und detailreich sind, handelt es sich in Relation zur Karikatur um heiße Medien.

Eine Karikatur spricht ebenfalls nur den Sehsinn an. Sie enthält in Relation zur Fotografie weniger Einzelheiten. Dem Sehsinn werden nur wenige Informationen angeboten. Die Karikatur ist detailarm. In Relation zur Fotografie sind Karikaturen kalte Medien.

Das Beispiel deutet bereits an, daß McLuhan auch die angesprochenen Sinne bei der Beurteilung von Medien als heiß oder kalt berücksichtigt. Damit sind zwei Kriterien für die Unterscheidung heißer und kalter Medien genannt, die im folgenden Schema darstellt werden.


Detailreich

³

heißer

³

³

Ein Sinn     heißer       Å   kälter         Mehrere Sinne

³

kälter

³

³

Detailarm

(Abb. 3)

Dieses Schema läßt sich mit McLuhans Beispielen belegen. So ist der Film heißer als das Fernsehen, da das Bild mit höherer Auflösung und der Ton mit einem breiteren Frequenzspektrum präsentiert wird; der Tonfilm ist kälter als der Stummfilm, weil mehrere Sinne angesprochen werden; klare Brillen sind heißer, weil mehr Details gesehen werden, als mit Sonnenbrillen, die Details wegfiltern; Papier ist heißer als Stein, weil mehr Details wiedergegeben werden können; das Buch ist heißer als das Zwiegespräch, weil im Zwiegespräch mehrere Sinne verwendet werden; etc. Die Sinnesanzahl und der Detailreichtum sind die beiden wesentlichen Kriterien, die McLuhan bei seiner Analyse verwendet. Die Sinneszahl und der Detailreichtum werden hier daher als Grundlage für die Darstellung heißer und kalter Medien genommen.

McLuhans Interesse gilt der Botschaft, die von heißen und kalten Medien ausgeht. Diese ist ihrer 'Temperatur' entgegengesetzt: Während kalte Medien aufheizen, kühlen heiße Medien ab. Das ist an einem Beispiel zu verdeutlichen:

Die Schriftsprache in Form des gedruckten phonetischen Alphabets ist in Relation zum Fernsehen ein heißes Medium. Die gedruckte Schriftsprache ist mit der hohen Auflösung, in der die Buchstaben wiedergegeben werden, detailreich. Die detailreichen Buchstaben machen keine Ergänzung durch die Leserinnen und Leser erforderlich. Weil nur der Sehsinn angesprochen wird, müssen die Leserinnen und Leser andere sinnliche Wahrnehmungen aus sich heraus ergänzen, z.B. Geräusche und das Aussehen von Personen bei Szenen in einem Roman. Die Nicht - Sehsinne werden gleichsam abgetrennt. Weil sie viel aus sich heraus ergänzen müssen und die Informationen nicht vom Medium präsentiert werden, distanzieren sich die Rezipientinnen und Rezipienten vom Text. Der Abstand zum Medium wird groß, die Rezipientinnen und Rezipienten werden vom Medium distanziert. Diese Distanz ist auf die abkühlende, d.h. distanzierende Wirkung der heißen Schriftsprache zurückzuführen.

Das Fernsehen ist in Relation zum gedruckten phonetischen Alphabet ein kaltes Medium, da Hörsinn und Sehsinn angesprochen werden und das Fernsehen diesen Sinnen wenig Details liefert. Das Bild hat eine in Relation zum Buchdruck geringe Auflösung, es bietet also wenig Details. Das gilt auch für den Ton, dessen geringer Detailreichtum in Relation zum Radio hörbar ist. Wegen des geringen Detailreichtums müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer die Details selbst ergänzen. Sie müssen Bild und Ton vervollständigen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden gleichsam in das Medium involviert. Da das Fernsehen Hörsinn und Sehsinn anspricht, müssen kaum sinnliche Wahrnehmungen ergänzt werden. Weil das Medium vervollständigt werden muß und die Rezipientinnen und Rezipienten wenig Informationen aus sich heraus ergänzen müssen, werden die Rezipientinnen und Rezipienten in das Medium involviert. Dieses Involvieren ist auf die aufheizende Wirkung des kalten Fernsehens zurückzuführen.<A CLASS="sdfootnoteanc" NAME="sdfootnote2anc" HREF="#sdfootnote2sym">2</A>

Damit kann für hier beabsichtigte Einschätzung der Wirkung der physikalischen Dimension der Computertechnik festgehalten werden:

- Kriterien für die Einordnung von Medien als heiße Medien bzw. kalte Medien sind die Anzahl der angesprochenen Sinne und der Detailreichtum der Darstellung.

- Heiße Medien wirken distanzierend, sie kühlen die Rezipientinnen und Rezipienten ab; kalte Medien wirken involvierend, sie heizen die Rezipientinnen und Rezipienten auf.

An dieser Stelle lassen sich erste Konsequenzen aus der Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien für Bildungsprozesse ziehen.

[...]


3.2.3.5.3 Die Wirkung heißer und kalter Medien

McLuhan stellt die Wirkung von heißen bzw. kalten Medien auf die Gesellschaft in den Mittelpunkt. Dabei setzt er implizit voraus, daß ein bestimmtes Medium in einer Gesellschaft dominant ist, d.h. am häufigsten verwendet wird. Für unsere heutige Gesellschaft trifft das auf das Fernsehen zu. Die Gesellschaften, auf die die Medien wirken, bezeichnet McLuhan nach der Wirkung der dominanten Medien als explosive oder implosive Gesellschaften.

Die Unterscheidung wird von McLuhan nicht expliziert, sondern anhand von Beispielen eingeführt. Die Beispiele für eine explosive bzw. implosive Kultur in McLuhans Schrift 'Understanding Media' sind zahlreicher als die Beispiele für heiße und kalte Medien. Daher werden hier nur einige im Blick auf Bildungsprozesse ausgewählte Beispiele zur Illustration wiedergegeben; die für den ersten Teil von 'Understanding Media' vollständige Tabelle befindet sich im Anhang.


Explosive Kultur Implosive Kultur

Heißes Medium dominiert Kaltes Medium dominiert

                                                   

Ausweitung in den Raum Aufheben von Zeit und Raum 11

Aktion und Reaktion Aktion und Reaktion

nacheinander gleichzeitig 12
Distanzierte Rolle Tiefes Miterleben 12

Mechanisierung Automation 17

atomistisch, kontinuierlich 22 Gestalt, Bildsymbol 23

Uniformierung Aufhebung der Uniformierung 29

Vorlesung Seminar 36

mechanistische Weltanschauung organischer Mythos 38

Zentralisierung Dezentralisierung 51

Atomistisches Wissen Koordination des Wissens 51

Teilbarkeit von Prozessen organische Verflechtung 52

Lernen und Wissen

als Aufgabe des Menschen 76

Arbeit als bezahltes Lernen 76

Unterordnung unter die Unterordnung unter den

Willenskraft großer Männer eigenen Intellekt 89

Trennung von Denken Einheit von Denken

und Fühlen und Fühlen 202

Schriftliche Bildung Mündliche Bildung als Disputation 203

Trennung von Arbeit und Alltag Verbindung von Arbeit und Alltag 393

Einteilung von Lernstoff Beziehungen zwischen

in Gegenstände den Gegenständen 394

(Tab. 3: McLuhan 19641992: Seitenzahl jeweils am Ende der Zeile)

McLuhan beschreibt, das läßt sich aus den Beispielen extrahieren, als die herausragenden Eigenschaften einer Kultur, in der kalte Medien dominant sind, Ganzheitlichkeit und dezentrale Strukturen. Eine Kultur, in der heiße Medien dominant sind, tendiert dagegen zu Trennung und zentralen Strukturen. McLuhan nennt als Beispiel vor allem die Relation von Buchdruck und gesprochener Sprache.

Der Buchdruck ist ein heißes Medium und Vorbild für die Mechanisierung und die lineare Zeitauffassung. Das Alphabet ist nach McLuhan die Quelle dessen, was wir als zivilisierten Menschen bezeichnen:

"Man kann also behaupten, daß nur das phonetische Alphabet allein die Technik war, die zur Schaffung des 'zivilisierten Menschen' führte [...]. Getrenntsein des einzelnen, Kontinuität von Raum und Zeit und Einheitlichkeit der Kodizes sind die grundlegenden Merkmale einer zivilisierten und alphabetischen Gesellschaft" (McLuhan 19631992: 103).

Diese Auswirkungen führt McLuhan auf Eigenschaften der gedruckten Schriftsprache zurück, die er in Relation zur gesprochenen Sprache herausarbeitet. Die gesprochene Sprache ist für ihn das kalte Medium der heißen Stammeskultur, die eine ganzheitliche Wahrnehmungsweise aufweist. Dagegen kühlt das heiße Medium des phonetischen Alphabets die Kultur, in der dieses Medium dominiert, ab. Das phonetische Alphabet führt zur Individualisierung, d.h. nach McLuhan zur Vereinzelung der Subjekte.

Die dabei ausschlaggebenden Eigenschaften des phonetischen Alphabets sind der Wechsel von der auditiven zur visuellen Wahrnehmung und die Zerlegung der Worte in einzelne Buchstaben. Die Betonung des Sehsinns ist der Effekt eines Medienwechsels. Mit der gesprochenen Sprache werden Laute an die Luft gebunden, d.h. der Hörsinn wird angesprochen. Dagegen handelt es sich bei der Schrift in Form eines phonetischen Alphabets um ein visuelles Medium, das den Sehsinn 'anschreibt'.

Mit der Schriftsprache werden die Worte der unmittelbaren gesprochenen Sprache in die Buchstaben der mittelbaren Schriftsprache zerlegt. Beim Übergang vom auditiven zum visuellen Medium werden zugleich Bild und Laut getrennt. Daher können die gleichen Buchstaben für jede Sprache verwendet werden. Der Wechsel von der Sprache zur Schrift ist ein Schritt der Universalisierung. Diese wird wie bei der Digitalisierung durch den Übergang von einer kontinuierlichen Skala (Töne) zu einer diskreten Skala (Buchstaben) möglich. Dieser Übergang kann für verschiedene Sprachen mit den gleichen Buchstaben erfolgen. Insofern ist die alphabetische Schrift gegenüber gesprochener Sprache universell.

Die Trennung des Gesehenen von der Bedeutung führt nach McLuhan z.B. zur inneren Aufspaltung in Vorstellungen, Gefühle und Sinne und zur äußeren Aufspaltung durch Trennung von Sippe und Familie. In der Kultur erzeugt die Trennung Gleichartigkeit, Einheitlichkeit und Stetigkeit (McLuhan 19641992: 102-107). Die Eigenschaften des an Papier gebundenen linearen phonetischen Alphabets heizen orale Stammesgesellschaften soweit auf, daß sie in eine Menge individualisierter Subjekte explodieren.

Das ist aus der Wirkung heißer und kalter Medien abzuleiten. Rezipientinnen und Rezipienten des heißen Buchdrucks ergänzen eigene Vorstellungen; sie werden nach innen, d.h. auf sich selbst verwiesen. Daher hat der Buchdruck individualisierende Wirkung. Dagegen werden die Rezipientinnen und Rezipienten des in Relation zum Buchdruck kalten Fernsehens oder der in Relation zum Buchdruck ebenfalls kalten gesprochenen Sprache in das Medium involviert, d.h. nach außen verwiesen. Daher haben Fernsehen und gesprochenen Sprache eine gruppenbildende Wirkung.

Die Reichweite des Sehsinns wird durch das Alphabet vergrößert. Dabei spielt auch hier, wie bei der Entwicklung der Computertechnik, die Verknüpfung mit politischen und militärischen Interessen eine Rolle:

"Das Alphabet bedeutet Macht und Autorität und Fernkontrolle der militärischen Anlagen" (McLuhan 19641992: 101).

Für die Vergrößerung der Reichweite sind zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen ist das Alphabet im Vergleich zur voralphabetischen Schrift leicht zu lernen. McLuhan begründet dies mit der großen Anzahl der Zeichen einer voralphabetischen Schrift, die zu lernen viel Zeit in Anspruch nimmt. Dagegen können die wenigen Zeichen einer alphabetischen Schrift in kurzer Zeit eingeübt werden. Zum anderen ist es, auf Papier geschrieben, leichter als Steine oder Ziegel transportierbar. Durch die vergrößerte Reichweite wird der Sehsinn aufgeheizt (McLuhan 19641992: 101ff.).

Es ist festzuhalten:

- Ein weiteres Kriterium für heiße bzw. kalte Medien ist das Ausmaß der Aufteilung.

- Heiße Medien wirken explosiv, sie spalten Gemeinschaften auf. Kalte Medien wirken implosiv, sie führen Gemeinschaften zusammen.

Für die Frage, welche Temperatur die Computertechnik zuzordnen ist, muß noch ein weiterer Anspekt von McLuhans Ansatz dargestellt werden.

3.2.3.5.4 Das Kippen vom heißen zum kalten Medium

Heiße Medien können nach McLuhan überhitzen und wirken dann nicht mehr explosiv, sondern implosiv. Die These hier ist, daß Computertechnik ein überhitztes Medium ist und daher nicht explosiv, sondern implosiv wirkt. Das läßt sich daran belegen, daß Computertechnik durch Digitalisierung das heiße Alphabet überhitzt und so zum kalten Medium wird.

McLuhan demonstriert, daß es bei jedem Medium eine kritische Grenze gibt, an der das System plötzlich in ein anderes umschlägt (McLuhan 19641992: 49-56). Er formuliert den Ablauf allerdings nicht explizit, sondern erläutert ihn an einer Vielzahl von Beispielen. Der Kern der Beispiele ist: Ein Medium hat eine Eigenschaft und eine daraus resultierende Temperatur. Die Eigenschaft wird verstärkt, indem das Medium zur Botschaft eines anderen Mediums wird. Das löst einen Temperaturwechsel aus. Das heiße Medium wird zu einem kalten und umgekehrt.

Ein zentrales Thema bei McLuhan ist der Übergang vom mechanischen zum elektronischen Transport der Schrift. Die Schrift wird durch die Elektrifizierung beschleunigt. Farbe und Papier als physikalische Träger der Schrift müssen mechanisch transportiert werden, z.B. zu Fuß. Das nimmt einige Zeit in Anspruch. Wird nun Farbe und Papier durch Elektrizität und Kabel ersetzt, verkürzt sich die Transportzeit erheblich.

Das wird bei der Einführung des Telegrafen sichtbar. Ein Schiff braucht am Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Monate, um Texte nach Australien zu transportieren. Mit der elektrischen Telegrafie sind Texte in wenigen Stunden (verzögert durch Relaisstationen) am Ziel. Die Transportgeschwindigkeit der Schrift, die mit dem Wechsel vom Stein zum Papier schon gestiegen war, wird weiter erhöht. Dadurch wird das Medium aber nicht zu einem besonders heißen Medium, sondern zu einem überheißen Medium. Seine Wirkung kehrt sich um.

Diese Umkehrung ist am Telegrafen gut sichtbar. Das phonetische Alphabet mit Farbe und Papier löst, wie im letzten Abschnitt dargestellt, Gemeinschaften in getrennten Individuen auf. Ein Grund dafür sind die Transportzeiten. Es ist relativ viel Zeit nötig, um Papier von einem Ort zu einem anderen zu transportieren. Die Orte werden voneinander getrennt. Mit der Beschleunigung durch den Telegrafen kehrt sich der Effekt um. Ein Text ist relativ schnell an einem anderen Ort verfügbar. Dadurch rücken die Orte näher zusammen, ihre Trennung beginnt zu verschwinden.

"Es ist vielmehr der Umstand, daß jeder auf der Welt in nächster Nähe des anderen leben muß, weil wir, durch die Elektrizität bedingt, am Leben der anderen aktiv Anteil nehmen" (McLuhan 19641992: 51).

Die Beschleunigung, die mit dem Wechsel von Papier und Farbe zu Kabeln und Elektrizität verbunden ist, kehrt die Wirkung des phonetischen Alphabets um. Die Trennung wird überwunden und die Menschen näher aneinandergerückt. Der Telegraf bewirkt keine Explosion, sondern eine Implosion. Wegen der Aufhebung der Trennung ist der Telegraf ein kälteres Medium als der Buchdruck. Diese Umkehrung ist auch beim Übergang vom Buchdruck zur Computertechnik zu beobachten. Die Umkehrung wird durch zwei Eigenschaften der Computertechnik ausgelöst: Durch Digitalität und Universalität.

McLuhan hat als eine Eigenschaft des phonetischen Alphabets die Zerlegung der Sprache in Buchstaben herausgearbeitet. Mit dem Übergang zur Computertechnik wird die Schriftsprache zur Botschaft eines anderen Mediums. Die Buchstaben werden nicht mehr an Papier gebunden, sondern an einen digitalen Turingautomaten. Dabei werden, wie im Abschnitt 3.2.3.2 gezeigt, die Buchstaben in einen digitalen Code zerlegt. Die gesprochenen Worte werden durch das phonetische Alphabet aufgetrennt; die Computertechnik trennt das phonetische Alphabet auf. Dadurch wird das heiße Alphabet weiter aufgeheizt, die kritische Grenze wird überschritten und das Medium Computertechnik wirkt implosiv.

Die implosive Wirkung der Computertechnik wird an der zweiten Eigenschaft der Computertechnik, der Universalität, sichtbar. Eine Eigenschaft des phonetischen Alphabets ist nach McLuhan die Trennung von (Schrift ) Bild und Laut, die zur Universalität des Alphabets führt. Das phonetische Alphabet ist universeller als die jeweilige Sprache, für die es verwendet wird. Das ist einer der Gründe dafür, daß Alphabete keine kalten Medien wie die gesprochene Sprache, sondern heiße Medien sind. Computertechnik ist nun universeller als das phonetische Alphabet. In den digitalen Code kann jede Schriftsprache, jede gesprochene Sprache, Musik, Bilder, Filme etc. übertragen werden. Da durch die Universalität viele Medien zur Botschaft der Computertechnik werden, können mehrere Sinne angesprochen werden. Das hebt die trennende Wirkung des Alphabets auf. Computertechnik wirkt implosiv.

Bei der Digitalisierung geht auch der Detailreichtum zurück. Das wird im Abschnitt 3.2.3.1 am Beispiel der Musik gezeigt. Da kalte Medien nach der hier vorgelegten Definition detailärmer sind oder mehr Sinne ansprechen als heiße Medien, ist der Rückgang des Detailreichtums ein weiteres Argument für die Einordnung der Computertechnik als kaltes Medium. Die Implosion des phonetischen Alphabets beim Übergang zur Computertechnik wird durch die digitale Zerlegung der Buchstaben und die Verbindung mit anderen Medien in der Universalität des digitalen Codes ausgelöst.

Die Verbindung mit anderen Medien ist nach McLuhan eine oft anzutreffende Ursache für Implosionen:

"Eine der gewöhnlichsten Ursachen eines Bruchs in irgendeinem System ist die gegenseitige Befruchtung mit einem anderen System, wie es beim Druck und der Dampfpresse der Fall war, oder beim Radio und Film" (McLuhan 19641992: 55).

Oder, so läßt sich das Zitat fortführen, beim phonetischen Alphabet und der digitalen Computertechnologie. Die Betrachtung der Computertechnik unter dem Aspekt der Implosion zeigt:

- Der Übergang vom phonetischen Alphabet zum digitalen Computer überhitzt das Alphabet.

- Digitale Computertechnik ist ein implosives Medium mit aufheizender Wirkung.

Nun ist Computertechnik nicht nur digitale Technik, sondern auch elektronische Technik. Diese Eigenschaft muß bei der Beurteilung der Computertechnik berücksichtigt werden.


[...]


3.2.5.3 Eine heiße Jugendkultur

Die heutigen Kinder und Jugendlichen vertreten eine durch das Fernsehen als dominantes Medium aufgeheizte Kultur. Daß das Fernsehen dominantes Medium der heutigen Kinder und Jugendlichen ist, zeigen empirische Untersuchungen. Groebel stellt fest, daß Kinder zwischen 6 und 13 Jahren 1993 täglich zwischen 100 Minuten in Westdeutschland und 125 Minuten in Ostdeutschland fernsehen. In 66% der Haushalte stehen mehrere Programme zur Verfügung, die von den Kindern auch genutzt werden (Groebel u.a. 1994: 76f.). Diese Zeitangaben sind zwar mit Vorbehalten verbunden, da verschiedene Studien zu recht unterschiedlichen Ergebnissen über die Nutzungsdauer kommen (Moser 1995: 112-116). Es besteht aber Einigkeit über den insgesamt hohen Konsum.

Für die These der heißen Generation spricht auch der Umgang mit auditiven Medien. Zwar werden auditive Medien fast ebenso häufig genutzt wie das Fernsehen. Aber sie werden oft in Verbindung mit anderen Tätigkeiten verwendet, z.B. durch den Walkman beim Bahnfahren, das Radio als Hintergrund zu Schulaufgaben oder die CD zur Berieselung bei Treffen mit Freundinnen und Freunden (Moser 1995: 119f.). Dadurch werden die auditiven Medien abgekühlt.

Die kalte Nutzung auditiver Medien läßt sich auch am Tanz zeigen, der die heutige Jugendkultur ebenfalls als heiße Kultur ausweist. Eine Analyse jugendlicher Tanzkultur legen Buschmann und Koch vor. Nach ihrer Darstellung ist der Tanz eine individuelle Angelegenheit (Buschmann/Koch 1998: 4). Dies gilt insbesondere für die Jugendkultur und wird überzeugend belegt durch den Umstand, daß heutiger Jugendtanz ein Solotanz ist.

Der Solotanz hat erst in den 70er Jahren mit dem Aufkommen der Diskotheken den Durchbruch geschafft - ein Novum in der Geschichte des Tanzes. Zudem ist dieser Solotanz kein kodifizierter, einem exakten Reglement folgender Tanz, sondern eine wilde Angelegenheit äußerster Intensität (Buschmann/Koch 1998: 11ff.). Damit ist die Zuordnung zur McLuhanschen Temperaturskala eindeutig: Heutiger Jugendtanz ist individualisierter und involvierender Tanz, und damit heiß.

Nun wird das Medium, das den Solotanz ausgelöst hat, von Buschmann/Koch, die eine soziokulturelle Analyse vornehmen, nicht in den Blick genommen. Das kalte Medium, das solch einen heißen Tanz auslöst, ist der elektrische Transistorverstärker.<A CLASS="sdfootnoteanc" NAME="sdfootnote3anc" HREF="#sdfootnote3sym">3</A> Das wird an Techno - Partys besonders deutlich. In Relation zu einem Radio, das nach McLuhan ein heißes Medium ist, überhitzen die "mehreren 10.000 Watt Verstärkerleistung" (Buschmann/Koch 1998: 22), die bei einer Techno - Party zum Zuge kommen, das Medium derart, daß es implodiert und zu einem kalten wird. Die Folgen werden von Buschmann/Koch treffend beschrieben. Denn

"[...] durchlaufende Endlosschleifen mit Bässen so tief und eindringlich, daß sie physisch im Bauchraum zu spüren sind, halten Intensität und Exstase stabil" (Buschmann/Koch 1998: 22).

Die Eindringlichkeit und die hohe, mehrere Sinne ansprechende Intensität weisen extrem laut gehörten Techno als kaltes Ereignis aus. Das ist ohne entsprechende Verstärkertechnik nicht möglich.

Hohe Lautstärken sind im privaten Wohnbereich meist nicht möglich. Die Implosion durch die Verstärkerleistung macht ein Gruppenereignis erforderlich. Techno alleine und leise zu hören ist unterträglich. Die der Situation zu Hause angemessene intellektuelle Analyse bringt wegen der falschen Temperatur keinerlei Lustgewinn. Während klassische Musik selbst bei voller Orchestrierung noch ein heißes Ereignis ist, das von einer kalten Generation verstanden wird, und gut alleine gehört werden kann, ist ein Rave (wie die Techno - Partys genannt werden) ein kaltes Ereignis, das von einer heißen Generation verstanden wird und eine Gemeinschaft erfordert.

Dabei wird mit der Gemeinschaft zugleich die Individualisierung forciert, wie Buschmann/Koch am Solotanz zeigen, und die auch durch den Umstand bewirkt wird, daß bei hohen Lautstärken eine Unterhaltung nicht mehr möglich ist. Nach Darstellung von Buschmann/Koch ist die Verbreitung des Solotanzes mit dem Aufkommen der Diskotheken in den 70er Jahren verbunden. Das weist den Solotanz als Folge der elektrischen Transistorverstärker aus. Denn mit der vergleichsweise kleinen Leistung der in den 60er Jahren üblichen Röhrenverstärker ist auch bei öffentlichen Ereignissen keine extrem hohe Lautstärke zu erreichen. Erst mit der Transistortechnik konnten in den 70er Jahren die Verstärkerleistungen und damit die Lautstärke erhöht werden, was zum Aufkommen des Solotanzes in Diskotheken beigetragen hat. In den 90ern wird die weitere Steigerung der Verstärkerleistung insbesondere im Bassbereich genutzt. Das macht die Musik auch mit dem Tastsinn erfahrbar und kühlt das Medium damit weiter ab. Mit den Raves der 90er wird dies auf einen Höhepunkt gebracht. Die extrem laute und monotone Musik zieht ganz in ihren Bann, die Tänzerinnen und Tänzer verfallen in Ekstase und werden bis zur Grenze der körperlichen Belastbarkeit aufgeheizt.

Diese Form von Fest ist für eine heiße Kultur akzeptabel, muß aber auf das Unverständnis einer kalten Kultur stoßen, die eine vergleichsweise heiße Aufführung klassischer Musik bevorzugt, und auf die kalten Raves mit bürokratischen Hindernissen oder Verboten antwortet - in England ausgerechnet mit dem heißen phonetischen Alphabet in Form eines Gesetzes (Buschmann/Koch 1998: 18, 20).

Ein weiterer Nachweis des Stellenwerts kalter Medien für die heutige Jugendkultur findet sich bei Spanhel. In einer empirischen Studie hat er einen Zusammenhang zwischen Fernsehen und Bildschirmmedien gefunden:

"Je länger Jugendliche fernsehen, desto ausgiebiger nutzen sie auch die Bildschirmmedien und umgekehrt. Von den Bildschirm-Bilderwelten scheint also doch für viele Jugendliche eine besondere Faszination auszugehen" (Spanhel 1990, S.116f.).

Eine Erklärung des Zusammenhangs zwischen Fernsehen und Bildschirmspielen findet sich bei Spanhel jedoch nicht. Eine solche Erklärung leistet die hier durchgeführte Medienanalyse: Jugendliche mit hohem Fernsehkonsum bevorzugen Bildschirmspiele, weil es sich bei computerbasierten Bildschirmspielen um ein kaltes Medium handelt.

Der Umfang der Fernsehnutzung, die Tanzkultur und die Nutzung der Bildschirmspiele zeigen: Viele heutige Kinder und Jugendliche repräsentieren eine heiße Kultur und bevorzugen kalte Medien. Welche pädagogischen Konsequenzen lassen sich aus diesem Umstand ableiten?



<A CLASS="sdfootnotesym" NAME="sdfootnote1sym" HREF="#sdfootnote1anc">1</A>Daß die Zeitung einmal als heißes und einmal als kaltes Medium beurteilt wird zeigt das relative Verständnis der Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien: Im Vergleich zum Radio ist die Zeitung kalt; im Vergleich zum Fernsehen dagegen heiß.

<A CLASS="sdfootnotesym" NAME="sdfootnote2sym" HREF="#sdfootnote2anc">2</A>McLuhan schreibt mit seinen unvollständigen, unpräzisen und unsystematischen Äußerungen einen für das heiße Medium Buch recht kühlen Stil, wodurch die Leserinnen und Leser mehr als bei anderen Büchern involviert und aufgeheizt werden - eine Erklärung für die Faszination, die von seinen Büchern ausgeht, die didaktisch für den Aufbau von Lehrbüchern genutzt werden kann, die McLuhans Texte für ein vom heißen Buch geprägtes kühles Publikum allerdings unverständlicht macht.

<A CLASS="sdfootnotesym" NAME="sdfootnote3sym" HREF="#sdfootnote3anc">3</A>Johannes Calvin (1509-1564) hat sich vehement gegen den Tanz und für Askese eingesetzt (Koch 1996: 7). Der Zusammenhang mit der aufheizenden Wirkung des 1448 erfundenen Buchdrucks, der 1452 auf die Bibel angewandt wird (Faulstich u.a. 1993: 368), ist frappant: Calvin wird dadurch so abgekühlt, daß er den in Relation zum Buchdruck heißen Tanz nicht ertragen kann.


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