Niels Gottschalk-Mazouz: Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft (BW)

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Exzerpte aus N. Gottschalk-Mazouz: Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft? Anforderungen an einen interdisziplinär brauchbaren Wissensbegriff

erschienen in: Abel, G. (Hg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie, 26.-30. September 2005 in Berlin. Sektionsbeiträge, Bd. 2, S. 349-360, Berlin 2005


Philosophischer Standardbegriff

Das Projekt, die Begriffe "Wissen" und "Rechtfertigung" zu analysieren, ist eines der Hauptprojekte der gegenwärtigen Erkenntnistheorie. So schrieb vor nicht allzu langer Zeit zumindest Ansgar Beckermann. Er, Beckermann, hält dieses Projekt jedoch für verfehlt und den Wissensbegriff für "inkohärent und irrelevant". Gemeint ist der philosophische Standardbegriff von Wissen, nämlich Wissen verstanden als wahre, gerechtfertigte Überzeugung. Während sich die gängigen Definitionsvorschläge von Wissen daran abarbeiten, wie "gerechtfertigt" zu lesen bzw. was, wenn überhaupt, an dessen Stelle zu setzen ist, möchte Beckermann auf zweierlei hinweisen: Erstens sei "Wahrheit das eigentliche Ziel unserer Erkenntnisbemühungen" und Rechtfertigung "ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen, oder ein Kriterium, mit dem nur wir herauszufinden versuchen, ob wir dieses Ziel erreicht haben"; "Wahrheit" und "Rechtfertigung" hingen also zusammen und seien je einzeln von Interesse, ob jedoch eine Überzeugung wahr und gerechtfertigt ist, spiele "unseren in Erkenntnisbemühungen aus guten Gründen keine Rolle". Zweitens ergebe sich, . wenn Rechtfertigung die genannten auxiliaren Funktionen hat, durch die genannte Definition ein "inkohärenter Hybridbegriff" denn es sei "prinzipiell nicht statthaft, ein Ziel und die Kriterien, mit denen wir überprüfen, ob das Ziel erreicht wurde, in die Definition ein und desselben Begriffs aufzunehmen" .


Andere Aspekte des Wissensbegriffs aus interdisziplinärer Perspektive


Praktischer Bezug

In den Sozialwissenschaften wird Wissen ganz anders als in der Philosophie bestimmt. Ein bekannter Definitionsversuch, im Zusammenhang mit der These von der Wissensgesellschaft vorgebracht, lautet: "Man kann Wissen als Fähigkeit zum Handeln, als Handlungskapazität definieren, als Möglichkeit, etwas in Gang zu setzen." Teilweise ähnlich liest man zum Wissensmanagement: ,, Wissen ist Information mit Wert; es führt zu Entscheidungen und Handlungen" . Beide Definitionsversuche sind natürlich nicht zufriedenstellend. So ermöglicht Wissen zwar Handlungen, ist aber nicht diese Möglichkeit. Auch ist zum Handeln mehr vonnöten als nur Wissen. Worauf diese Definitionsversuche aber aufmerksam machen will, ist ein praktischer Bezug von Wissen. Wissen hilft u.a., ein technisches Problem zu lösen, sich zu orientieren, eine Bewertung vorzunehmen, das eigene Selbstverständnis zu reflektieren, usw. Damit einher geht ein Bezug auf Situationen, Anwendungssituationen oder auch Aktualisierungssituationen. Nicht immer sind die Inhalte von Wissen explizit angebbar, es geht auch um ein knowing-how, man spricht von tacit knowledge, als "implizites Wissen" übersetzt, o.ä.

personalisiert / repräsentiert

In der Ökonomie z.B. wird Wissen direkt auf den ökonomischen Prozes bezogen. Seine möglichen Rollen sind vielfältig, so kann Wissen als Produktionsfaktor, als Kapitalform, oder als Teil der Infrastruktur einer Region angesehen werden. Oder als ein Gut, und zwar als öffentliches Gut oder als (und das mehr und mehr) privates Gut, als mehr oder weniger handelbar, als eines, das sich beim Konsum nicht verbraucht usw. Da über Rollen in ökonomischen Prozessen definiert, hat Wissen auch hier immer einen praktischen Nutzen (vgl. Merkmal 1). Es ist aber nun nicht mehr notwendig personengebunden. Wissen tritt dabei nun in zweierlei Form auf: Als personales Wissen (man sagt dann: "eine Person ist ein Wissensträger" "jemand weiß etwas", "jemand hat Wissen" usw.) und als Repräsentationen solchen personalen Wissens ("etwas ist Wissen" , "etwas enthält Wissen" Repräsentationen können schriftlich, bildlich, klanglich ). usw. sein. Nicht alles personale Wissen lässt sich repräsentieren. Repräsentation ist nicht schon Explikation, aber deren Voraussetzung. Aber auch nicht jede Repräsentation kann von jeder Person verstanden, d.h. in personales Wissen transformiert werden. Denn dazu braucht sie bestimmte, u.U. nicht repräsentierbare Fähigkeiten, weiteres Wissen, teils müssen auch institutionelle Voraussetzungen erfüllt oder bestimmte Mittel gegeben sein (und sei es nur eine Lesebrille).

normativ

Wissen hat also eine normative Struktur, d.h. bei "Wissen" handelt es sich genauer betrachtet stets um anerkannte Wissensansprüche. Die Anerkennungsstruktur scheint mir noch genauer als eine doppelte gefasst werden zu können: Sowohl der Anspruch darauf, Wissen zu sein, als auch, ob etwas diesen Anspruch erfüllen kann (nur dann ist etwas wirkliches Wissen), beruhen auf Anerkennung. Im ersten Sinne bezieht sich die Anerkennung auf den Anspruch (als Anspruch), im zweiten Sinne auf die Erfüllung des Anspruchs. Anerkannt im ersten Sinne ist ein Anspruch dann, wenn die "Einlösbarkeit" des Wissensanspruchs nicht bestritten wird, verstanden z.B. pragmatisch als mögliche Eignung des fraglichen Wissensbestandes zur Problemlösung (anerkannt im zweiten Sinne ist ein Wissensanspruch, wenn seine tatsächliche Eignung zur Problemlösung unterstellt wird). Anerkennung im zweiten Sinne geht nicht unbedingt Anerkennung im ersten Sinne voraus: Genauso wie es Ansprüche geben kann, die nicht anerkannt sind, kann es auch Anerkennung von etwas als Wissen geben, das gar nicht mit dem Anspruch auf ein solches aufgetreten ist (z.B. häufig bei implizitem Wissen). Geltungslogisch erfordert aber eine vorauseilende, explizite Anerkennung von etwas als tatsächlichem Wissen a limine auch die Anerkennung eines dazugehörenden Wissensanspruchs.

Diese Anerkennung ist etwas, das typischerweise nicht individuell, sondern durch Institutionen aufgebracht wird, an die Individuen dies delegiert haben. Solche Institutionen sind die Wissenschaft, die Kirchen, Parlamente, Gerichte usw., aber auch mehr informelle communities. Diese entlasten einerseits das Individuum von der eigenen Überprüfung der Plausibilität des Anspruchs oder seiner Einlösung und dienen andererseits der Vergewisserung der Individuen, wenn sie solch eine Überprüfung selbst vornehmen.

vernetzt

Mit interner Vernetzung meine ich, dass es sich bei einzelnen Wissensbeständen typischerweise nicht um nur eine einzige Proposition, einen Ton o.ä. handelt. Die internen Verweisungszusammenhänge können explizit oder implizit vorliegen: Bei mehreren Propositionen, aus denen ein Wissensbestand sich zusammensetzt, wird die Vernetzung durch Bindewörter wie "weil" usw. deutlich gemacht. Dass Wissensbestände sich typischerweise nicht als einzelne Propositionen darstellen, wird auch durch den erwähnten praktischen Bezug deutlich: Wissen ist typischerweise nicht auf die Lösung von genau einem Problem bezogen, sondern auf die Lösung von Problemen eines mehr oder weniger scharf eingegrenzten Typs.

bootstrapping

Voraussetzungsverhältnisse bestehen im Rahmen des sprachlichen Systems (Saussures "langue" und seiner begrifflichen Ordnungen ("Vokabulare" im Verfügen über syntaktische und semantische Regeln), bei der Identifikation von Wissen als Wissen ­und all das auch schon auf der Ebene einzelner Propositionen. Vorausgesetzt wird aber auch ­ als nicht-explizites Wissen ­das Sich-Auskennen mit einem Spektrum von Anmutungen, phänomenalen Erfahrungen u.ä. als Basis z.B. von Identifikation und Klassifikation. Wenn Begründung oder Begründbarkeit als wesentlich für Wissen angesehen wird, bestehen Voraussetzungsverhältnisse insbesondere und immer auch zwischen Propositionen. Zudem muss eine sinnvolle Begrenzung der Klasse möglicher Einwände vorausgesetzt werden. Wenn Zuverlässigkeit als wesentlich für Wissen angesehen wird, wird ein Wissen um die Zuverlässigkeit vorausgesetzt bzw. Zuverlässigkeit schlicht unterstellt. Weiterhin erfordert die Prädizierung von Zuverlässigkeit die Identifizierung eines Vorgehens als Vorgehen eines bestimmtes Typs, die sinnvolle Auswahl geeigneter Referenzklassen für die Beurteilung des Erfolgs dieser Methode usw. Die Zirkularität, die im "Wissen setzt Wissen voraus" zum Ausdruck gebracht wurde, ist damit deshalb kein fehlerhafter Zirkel, weil es sich dabei nicht um dieselben Wissensbestände handelt.

dynamisch

institutionell verankert

Institutionen wie Organisationen haben je spezifische Ermöglichungs- und Entlastungsfunktionen. Sie eröffnen bestimmte Möglichkeiten allererst, modifizieren den Möglichkeitsraum, und schließen ihn auch (reduzieren Kontingenz), sie haben Orientierungsfunktion. Für Wissen sind Institutionen, verstanden als Inbegriff individueller wie gemeinschaftlicher Regeln einerseits und der Praktiken andererseits, in diesem Sinne also als Kultur, insofern zentral. Erläutern wir diese zunächst am ersten Merkmal von Wissen, dem praktischen Bezug. Während Organisationen den Personen Handlungsmittel bereitstellen, die für die Aktualisierung von Handlungsoptionen nötig sind, beziehen sich Institutionen auf diese Optionen selbst: Institutionen wie etwa das Recht eröffnen bestimmte Optionen allererst, und das ganz real, ermöglichen z.B. Kooperationen unter rationalen Nutzenmaximierern. Institutionen eröffnen aber auch Optionen im übertragenden Sinn, wenn sie ­ z.B. in Form einer Umwelt-Aktivistengruppe ­ auf die Existenz von Alternativen aufmerksam machen. Eine weitere praktische Funktion von Institutionen ist schließlich, auch die Bewertungsmaßstäbe, nach denen zwischen Optionen gewählt wird, zu formulieren und kohärent fortzuschreiben (man denke etwa an die Kirche, den Bundespräsidenten, usw.). Eine weitere Institution ist der Markt: Auch er ­ einige würde wohl sagen: vor allem er ­ orientiert über praktischen Nutzen und damit über das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines praktischen Bezugs.





Diese Seite entstand im Kontext von: Besser Wissen (Vorlesung Hrachovec, 2006/07)

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