"Tractatus", Informatik, Datenbanken (BD)

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Exzerpte aus: Heinz Zemanek: Philosophische Wurzeln der Informatik im Wiener Kreis. In: P. Schefe, H. Hasted, Y.Dittrich, G.Keil (Hrsgg.): Informatik und Philosophie. Mannheim 1993. S. 87ff

Die merkwürdige Entsprechung zwischen Tractatus und Computer

Der Wiener Kreis, dem Wittgenstein eher durch Verwandtschaft angehört als durch Mitgliedschaft, und der logische Positivismus vertreten die Welt der logischen Operationen, die nun im Computer zu Milliarden ausgeführt werden. Die Denkweise des Wiener Kreises beschäftigt sich nicht viel mit dem, was Wittgenstein das Mystische nennt; sie schweigt darüber nicht, wie er empfiehlt, sondern sie leugnet es. Für den logischen Positivisten könnte die Welt zu dem werden, was sich im Computer simulieren läßt. Kein Fachphilo­soph würde dergleichen vertreten. Aber der Informatiker neigt in diese Rich­tung und seine denkbequemen Zeitgenossen lassen sich ebenfalls in solche Ansichten hineinleiten; sie lesen nicht viel über den Wiener Kreis, aber sie sehen die logische Kraft des Computers und seine positivistische Funktion.

Das wird nicht zum Lehrgebäude, unterschwellig jedoch prägt es Ansichten und Verhaltensweisen. Dieser Beitrag will nicht nur den Wurzeln nachspüren, er will auch zum Nachdenken über die Situation und über die formende Kraft der Informatik anregen.

Eigentlich sprechen wir nicht von den Wurzeln, denn der Computer war eine Ingenieur-Schöpfung (auch dort, wo Mathematiker am Werk waren), son­dern von klärenden Denkstrukturen, die auf merkwürdige Weise dem Compu­ter vorausliefen, ohne auf seine Anfänge zu wirken. Computer-Ingenieure wie Aiken oder Shannon erfanden sogar die logische Algebra für Relaisschaltkrei­se neu – die Schaltalgebra. Konrad Zuse allerdings ging vom Lehrbuch der Logik von Hilbert und Ackermann aus. Daß der Computer auf diesem Weg die volle Universalität der Mathematik erhielt und zu dem Werkzeug wurde, das die Denkwege des Wiener Kreises zur praktischen Vorgangsweise machte, war erst in der Retrospektive feststellbar. Die ACM-Tagung von San Dimas 1965 war eine der frühesten Veranstaltungen, wo man den Wurzeln systematisch nachging.

In der vorliegenden Arbeit wird eine gewisse Kenntnis der Philosophie des Wiener Kreises und der Gedanken von Ludwig Wittgenstein vorausgesetzt was heute wohl zumutbar ist. Das Wesentliche wird immerhin gesagt und in einem der Abschnitte sind die Hauptsätze des Tractatus wiedergegeben. In meinen Arbeiten findet der Leser, der sich mit der Fülle der einschlägigen Literatur nicht auseinandersetzen kann, einen Zugang, freilich durch meine Sicht spezialisiert. Daß weit mehr von Wittgenstein die Rede ist als vom eigentlichen Wiener Kreis, hängt mit der Nähe des Tractatus zum Computer zusammen und mit dem wiederholt angezogenen Übergang zu der anderen Denkweise der "Philosophischen Untersuchungen" - meist durch die beiden Kurz-Bezeichnungen Wittgenstein I und Wittgenstein II unterschieden.

Einschub: Wittgensteins Weltformel im Tractatus

4.1273 Wir können das allgemeine Glied der Formenreihe bestimmen, indem wir ihr erstes Glied angeben und die allgemeine Form der Operation, welche das folgende Glied aus dem vorhergehenden Satz erzeugt.
4.5 Nun scheint es möglich zu sein, die allgemeinste Satzform anzugeben: das heißt, eine Beschreibung der Sätze irgendeiner Zeichensprache zu geben, so dass jeder mögliche Sinn durch ein Symbol, auf welches die Beschreibung passt, ausgedrückt werden kann, und dass jedes Symbol, worauf die Beschreibung passt, einen Sinn ausdrücken kann, wenn die Bedeutungen der Namen entsprechend gewählt werden.
Es ist klar, dass bei der Beschreibung der allgemeinsten Satzform nur ihr Wesentliches beschrieben werden darf, - sonst wäre sie nämlich nicht die allgemeinste.
Dass es eine allgemeine Satzform gibt, wird dadurch bewiesen, dass es keinen Satz geben darf, dessen Form man nicht hätte voraussehen (d.h. konstruieren) können. Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so.
4.51 Angenommen, mir wären alle Elementarsätze gegeben: Dann lässt sich einfach fragen: Welche Sätze kann ich aus ihnen bilden? Und das sind alle Sätze und so sind sie begrenzt.
4.52 Die Sätze sind alles, was aus der Gesamtheit aller Elementarsätze folgt (natürlich auch daraus, dass es die Gesamtheit aller ist). (So könnte man in gewissem Sinne sagen, dass alle Sätze Verallgemeinerungen der Elementarsätze sind.)
4.53 Die allgemeine Satzform ist eine Variable.
5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.
(Der Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst.)
5.5 Jede Wahrheitsfunktion ist ein Resultat der successiven Anwendung der Operation(-----W)(ξ,....)auf Elementarsätze.
Diese Operation verneint sämtliche Sätze in der rechten Klammer, und ich nenne sie die Negation dieser Sätze.
5.501 Einen Klammerausdruck, dessen Glieder Sätze sind, deute ich - wenn die Reihenfolge der Glieder in der Klammer gleichgültig ist - durch ein Zeichen von der Form »(ξ)« an. »ξ« ist eine Variable, deren Werte die Glieder des Klammerausdruckes sind; und der Strich über der Variablen deutet an, dass sie ihre sämtlichen Werte in der Klammer vertritt.
(Hat also ξ etwa die 3 Werte P, Q, R, so ist
(ξ)=(P,Q,R).)
Die Werte der Variablen werden festgesetzt.
Die Festsetzung ist die Beschreibung der Sätze, welche die Variable vertritt.
Wie die Beschreibung der Glieder des Klammerausdruckes geschieht, ist unwesentlich.
Wir können drei Arten der Beschreibung unterscheiden: 1. die direkte Aufzählung. In diesem Fall können wir statt der Variablen einfach ihre konstanten Werte setzen. 2. Die Angabe einer Funktion fx, deren Werte für alle Werte von x die zu beschreibenden Sätze sind. 3. Die Angabe eines formalen Gesetzes, nach welchem jene Sätze gebildet sind. In diesem Falle sind die Glieder des Klammerausdrucks sämtliche Glieder einer Formenreihe.
5.502 Ich schreibe also statt »(-----W)(ξ,....)« »N(ξ)«.
N(ξ) ist die Negation sämtlicher Werte der Satzvariablen ξ.
6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [p, ξ, N(ξ)].
Dies ist die allgemeine Form des Satzes.
6.001 Dies sagt nichts anderes, als dass jeder Satz ein Resultat der successiven Anwendung der Operation N(ξ) auf die Elementarsätze ist.
6.002 Ist die allgemeine Form gegeben, wie ein Satz gebaut ist, so ist damit auch schon die allgemeine Form davon gegeben, wie aus einem Satz durch eine Operation ein anderer erzeugt werden kann.


Fortsetzung

Die Hauptformel des Tractatus [p, ξ, N(ξ)] - sie drückt die fortgesetzte Anwendung auf alle Werte von ξ aus und meint die fortgesetzte logische Ver­knüpfung aller Elementarsätze - ließe sich in LISP umschreiben und wäre dann, angewendet auf die Beobachtungsfakten der Naturwissenschaft, das Programm für eine formales, vollständiges Weltbild - mehr: für eine ewig unfertige, aber im Prinzip fertigstellbare wissenschaftliche Tatsachenbeschrei­bung der Welt, wie sie dem Tractatus vorschwebte. Ohne sich dessen bewußt zu sein, hält eine verbreitete positivistische Grundeinstellung diese Form der Weltbeschreibung für ausreichend und vollständig, geradezu für allein richtig die Wirklichkeit ausmachend. Der Computer erscheint in dieser Sicht als Werkzeug für die Ausführung dieses Programms. Die allgemein akzeptierte populärwissenschaftliche Version hält das Gleiche auf einer niedrigeren Ebene für zutreffend und begnügt sich damit. (Diese etwas plakative Darstellung wird in den späteren Abschnitten verfeinert werden.) Sicher ist, daß der Com­puter in seinen Arbeitsstrukturen den logischen Positivismus in einer Weise realisiert, die sich seine Protagonisten nicht hätten träumen lassen.

Die Tatsache, daß der Verfasser des Tractatus selbst über ihn hinausgreift und dann die zweite Hälfte seines Lebens lang über ihn hinausdachte, ist ein ernst zu nehmender Hinweis darauf, daß der Positivismus des Wiener Kreises eine unvollständige Antwort auf die philosophischen Grundfragen gibt und der Realität menschlicher Betrachtung und menschlichen Verhaltens (auch vor dem Computer) nicht entspricht. Damit liegt eine ungeheuer gewichtige War­nung vor, vom Computer - außer in der formalen "Tautologie" - endgültige, absolut verläßliche Antworten zu erwarten, oder bei ihm gar eine höhere Intel­ligenz als jene des programmierenden Menschen.

Das ist freilich nicht die Aussage eines Fachphilosophen und bleibt sicher leichter angreifbar als fachphilosophische Argumente. Aber es kommt von einem Computerpionier, der sich ein Leben lang nicht auf die Computerwis­senschaften beschränkte, der die mittlere Periode der Entwicklung der Pro­grammiersprachen aus der Nähe erlebt hat, vor allem in der Zeit, als die Metafragen drängend wurden: wie definiert man eine Programmiersprache, ein Programmiersystem, ein Anwendungssystem? Wer - wie ich - die Kyber­netik und ihre Erbin, die Künstliche Intelligenz, beteiligt verfolgt hat, und durch Jahre versuchte, der Spannung zwischen formal und informal, zwischen Bitwelt (der Welt der logisch-mathematischen Modelle, die wir konstruiert haben - der Informatiker ist ein Ingenieur für das Abstrakte) und Sprachwelt (der unausschöpflichen, unauslotbaren Welt der natürlichen Sprache) auf den Grund zu gehen - nicht auf einer abstrahierten akademischen oder philosophi­schen Ebene, sondern inmitten der industriellen Realwelt -, dem ist die Rela­tion zwischen Wittgenstein 1 und Wittgenstein II, zwischen Universal-Algo­rithmus und Sprachspiel nicht nur vertraut; er erkennt sie als Motor der Informationstechnik, als Wurzel der Erfolge und der Mißerfolge, der Erkennt­nis und der Irrwege. Mir ist sie zum roten Faden geworden, der mein Leben durchzieht und leitet.

...

Produkt und Werkzeug

Schon immer hat das Werkzeug auf Arbeitsweise, Produkt und Mentalität von Hersteller und Benutzer zurückgewirkt. Das gilt ja auch für die Mathematik. Abakus, billiges Papier, Logarithmentafel, Tischrechner und Computer hatten verschiedene Formen der Berechnung zur Folge und änderten die Einstellung zum Rechnen. Zwischen den Verfechtern des Abakus und den Verfechtern des Rechnens auf Papier, zwischen Abakisten und Algorithmikern gab es einen Gegensatz, der in dem bekannten Bild von Gregor Reisch (1503) festgehalten ist, welches häufig reproduziert wird — von F. L. Bauerz oder auf Prospekt und Plakat für die vom 21 bis 26 September 1992 in Freiburg stattfindende GI-Tagung "Informatik — cui bono". Entschieden wurde der Streit durch die Ver­billigung des Papiers; die Abakisten verloren: rasch hinschreiben wurde effek­tiver, und der Abakus hat keinen Zwischenspeicher.

Die universelle Anwendung des Computers mit seinen Routinen und Spei­chern, seinen Aufnahmeorganen und Effektoren muß eine Vielfalt von Rück­wirkungen haben. Im heutigen Zusammenhang geht es weniger um die handwerklichen Folgen als um die Einflüsse auf Denkweise und Weltsicht. Die Beherrschung mechanischer Vorrichtungen – ja bereits die Erkenntnis mecha­nischer Zusammenhänge – hat im 18. Jh. automatische Vorstellungen und ein mechanistisches Weltbild gefördert. Im 19. und 20. Jh. kommt es dem Denker auf solchen Linien gar nicht mehr zum Bewußtsein, daß er sich nicht durch Geist und Kreativität auszeichnet, sondern daß er eine werkzeugbedingte Denkgewohnheit zur Weltanschauung erhebt. Der Elektronik machte im 20. Jh. die Mechanismen flexibel und reduzierte den Graben zwischen Realität und Modell: kein Wunder, daß das Modell nun noch leichter mit der Realität verwechselbar ist. Wenn man den Marxismus von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, bleibt zwar ein Komplex von neuartigen Fragestellungen über, aber die Lösungen erscheinen als Produkte der mechanischen Werkzeugkiste des 19. Jahrhunderts: sehr zeitbedingt und technisch-trivial – was globale Wirkungen nicht ausschließt.

Dies alles gehört zum Thema, weil der logische Positivismus mit seiner Reduktion auf das Beweisbare und Berechenbare sein Modell der Welt mit der Realität zu identifizieren versucht. Wir werden zu überlegen haben, ob die Kunst der Informationsverarbeitung diese Identifizierungsabsicht fördert und bestätigt. Kurz vorweggenommen: sie fördert sie, aber sie bestätigt sie nicht. Die Informatik muß genau hinsehen, auf das Bit genau. Und genau hinsehen vermehrt das Unterschiedliche und reduziert das Gleiche. Computer-Detail­rechnung ist anders als Gehirn-Detailrechnung; und der Geist wird beim ge­nauen Hinsehen unsichtbar, so daß seine Wirkung, wenn man sie nicht leug­net (um es leichter zu haben), immer rätselhafter wird. Das Gegenteil des Positivismus ist nicht Negativismus, sondern Respekt für das Unergründbare (Wittgenstein hatte ihn), dem der Mensch unterinformiert gegenübersteht und gegenüberstand in all den Jahrtausenden, welche die Menschheit erfolgreich überstanden hat – ohne Positivismus.

Im zweistufigen Werk Ludwig Wittgensteins ist die Wende von der Perfek­tionshoffnung des Tractatus zum Sprachspiel der Philosophischen Untersu­chungen vorweggenommen. Man braucht bloß Wittgenstein am Computer zu spiegeln. Diese Spiegelung wird dadurch erleichtert, daß Wittgenstein kein klassischer Fachphilosoph war, sondern seiner Ausbildung nach Ingenieur und ein denkender Alleingänger, was er in der Einleitung zum Tractatus selbst klar sagt. Daraus ist keine Gewerbeberechtigung für mich ableitbar, aber eine Entschuldigung für mein Herumtreiben in fremder Fakultät.

Aber der Computer verspricht auch die Rückkehr zu Seele und Geist, weil er eine Informations- und Sprachmaschine ist. Zwar bleibt das Werkzeug Werkzeug, ohne Wissen und ohne Intelligenz, aber dieses Werkzeug bearbeitet Information.

...

Ist die Informatik positivistisch ? (Zur Frage 3)

Man steht beim Computer vor einem seltsamen Widerspruch: seine Schaltkreise beruhen auf den ewigen Wahrheiten der Aussagenlogik (Wittgenstein weil sie tautologisch sind), und doch kann man das flüchtige, unverläßliche Phänomen Information mit ihnen übertragen, speichern und bearbeiten. Wir haben das schon gesagt. Sagen wir es noch einmal auf etwas andere Weise: neben der präzisen Ausführung von Berechnungen kann der Computer den Text obskurster Antiaufklärer aufnehmen, umsetzen und wiedergeben. Die Logik der Elementarfunktionen garantiert nicht die Klarheit der Information (auch nicht von Zahlenwerten). Und es ist gar nicht leicht, diesen Widerspruch bei der praktischen Arbeit im Auge zu behalten. Nur allzuleicht läßt man sich von der Hoffnung tragen, daß die Klarheit der Schaltkreise und der Program­mierregeln auch die Klarheit der Programme, der Ergebnisse und der Doku­mentation auf den verschiedenen Ebenen garantiert. Das tut sie nicht, und das ist nicht eine Frage des Beherrschens der formalen Sprachen, sondern eine Frage des Beherrschens der Alltagssprache, die ja immer wieder die Verbindung zur Realität der Computerverwendung herstellen muß. Der Niedergang der Sprachausbildung und Sprachdisziplin hat fürchterliche Folgen. Ich sage immer: ich möchte das Geld haben, das Industrie, Staat und Universität durch die schlechte Sprache der Programm- und Systembeschreibungen verlie­ren.

Das ist eine gewichtige Warnung. Wer die Eingeweide des Computers kennt, weiß das natürlich – ob er noch daran denkt, wenn er voll Arbeitseifer das Computersystem als Ganzes verwendet, ist eine andere Frage. Wie könnte er auch bei jedem Resultat an Widersprüche und Zweifel denken? Aber gele­gentlich zurücktreten und abwägen – das wäre schon angebracht, und dazu soll dieser Beitrag auffordern.

Die Informatik ist daher gleichzeitig als gigantische Realisierung des posi­tivistischen Grundgedankens anzusehen und als äußerst praktischer Grund, den positivistischen Kern der Bitverarbeitung in seiner Unvollständigkeit zu erkennen – nicht bloß auf einer philosophischen oder sonst theoretischen Ebene (was nur ein literarischer Effekt wäre), sondern als bittere und immer wieder kostspielige Erfahrung der Industrie, aller Berufe (denn fast alle werden am Computer sitzen oder mit Computerresultaten arbeiten müssen, selbst beim Freizeitvergnügen) und des persönlichen Lebens.

Die naive Periode des Computerpositivismus ist vorbei; man glaubt nicht mehr, daß man Lernfähigkeit oder Übersetzung natürlicher Sprachen im Schnellgang in den Computer bringt. Aber Künstliche Intelligenz und Exper­tensysteme durchlaufen eine raffinierte Periode des Computerpositivismus. Sie müssen erst ihre Niederlagen erfahren (der verallgemeinerten Problemlö­sung – dem General Problem Solver – ist sie schon passiert, die Neuronennetz­werkcomputer sind gegenwärtig an der Reihe), ehe sie die Begrenztheit auch ihrer Computerspiele erkennen. Und es wird noch eine Weile dauern, bis man sagen können wird, die Zukunft der Philosophischen Untersuchungen zur Überwindung der Grenzen des Computer-Tractatus hat begonnen - und natür­lich ist hier wie vorher nicht bloß von der Fachwelt der Informatik die Rede, sondern von einer Welt, die nicht nur vom programmierten Denken beeinflußt wird, sondern sie auch vorwegnimmt, etwa im politischen Denken und in der Kunst. Gewisse politische Richtungen ahnen diese Zukunft voraus, keine aber erkennt, worum es tatsächlich geht.

Die Informatik ist logisch und rational; sie braucht die vom Wiener Kreis und vom Positivismus angestrebte Sauberkeit des Denkens und die Klarheit verwendeter Strukturen.

Das bedeutet aber nicht, daß sich der Informatiker (und besonders der Genie-Programmierer) logisch oder rational verhält - so mancher Vorgesetzte kann ein Lied darüber singen. Mit den Informatikern multipliziert erscheint die Informatik nicht so positivistisch wie ihre Arbeitsgrundsätze. Sie ist ein Spiel, ein Formal-Sprachspiel, welches den Philosophischen Untersuchungen ein weites Arbeitsfeld bietet.

Architektonische Klarheit

Die Klarheit positivistischer Strukturen und Systeme ist wertvoll und nützlich; sie in Form von Computerprogrammen und programmierten Computern anzuwenden, ist nicht nur ökonomisch, sondern auch reinigend - vorausge­setzt, es wird fehlerfrei und unter Respekt vor dem gesunden Menschenver­stand getan.

Klarheit ist leichter gefordert als in der Tagesarbeit erreicht. Bei Compu­terstrukturen wie bei Gebäuden hat Klarheit mit Architektur zu tun: mit Modularität (Zerlegung in überschaubare Einheiten), Orthogonalität (Vermei­dung unnötiger Verkopplungen), Kompatibilität (natürliches Zusammenfügen der Teile) und vielen andern Begriffen - die nur in einer längeren Arbeit dar­stellbar sind. Die Hauptforderung ist Konsistenz: Symmetrie nicht im geome­trischen, sondern im altgriechischen Sinn der gegenseitigen Anpassung.

Technische Architektur muß anders sein als biologische, aber sie kann viel von der organischen Architektur lernen. In Pflanzen und Tieren gibt es im Aufbau neben der Spezialisierung der Organe fundamentale Ähnlichkeiten und Verkopplungen, übergreifende Architekturzüge und Abwehr des Fremdge­bauten. Das hat mit Betriebssicherheit, Störfestigkeit und Selbstreparatur zu tun, mit Zügen, die man auch in der Technik anstrebt, aber auf grundsätzlich anderen Wegen. Es ist ein ungeheures, schwieriges Feld, das auch mit Erlernbarkeit, Wartungsleichtigkeit und Wiederverwendung zu tun hat. (Recycling ist in der Natur eine Selbstverständlichkeit, in der Technik ein kompliziertes, teures Problem.) Eine geschlossene Darstellung ist fast unmöglich.

Ich bin überzeugt, daß man Klarheit und Eleganz des Entwurfs nur durch professionelles Design erreichen kann, durch eine überlegte Theorie des Syste­mentwurfs, der außerdem eine (noch kaum begonnene) Theorie der Organisa­tion zur Seite stehen müßte. Zu beiden gehören dann die praktischen Seiten, Erfahrung, Normen und so weiter. Wie im Bauwesen wird es dann auch in der Informatik zwei Studienrichtungen geben: Computer-Bautechnik und Compu­ter-Architektur. (Die praktischen Anwendungen werden immer mehr in den Anwendungsfeldern untergebracht sein.)

Schlußwort: Wiedervermenschlichung durch Information

Wer auf dem Computer Konten führt oder Briefe schreibt, wird wenig Bedürf­nis nach einer Computer-Philosophie verspüren: ein Werkzeug wie andere auch. Aber die breitflächige Wirkung dieses Werkzeugs verändert nicht nur die technische Welt, sondern auch alle seine Anwendungsfelder und darüber hinaus die Mentalität von Benützern und Nichtbenützern. Im Unterschied zur Lokomotive sind Steuerung und Arbeit des Computers nicht beobachtbar; zu klein sind die Bauteile, zu schnell die Schritte. Wie aus eigenem Willen, eige­nem Wissen und eigener Kraft scheint der Computer zu handeln; er macht tatsächlich den Eindruck eines Partners – und ärgern tut man sich über den menschlichen Partner auch.

Besseres Wissen hilft da nicht viel, selbst wenn es zum Nachdenken kommt: auch wenn der Computer nicht aussieht wie ein Mensch (er sieht überhaupt nicht aus: er hat keine charakteristischen Züge) und sich in vielen Einzelheiten ganz anders verhält: etwas von einem Menschen muß er ja doch an sich haben, ist der Eindruck, und deswegen gehen Ausdrücke wie künstli­che Intelligenz und gespeichertes Wissen so leicht über die Lippen. Der Com­puter ist nicht ein Werkzeug wie andere – wo die Analogie von Knie, Gelenk und Finger offenbar begrenzt und symbolisch bleibt – sondern hat mehr menschliche Züge als das klassische Werkzeuge, und noch mehr menschliche Züge ist der Mensch bereit, ihm zuzugestehen.

Durch Jahrhunderte war die Sprache einfach Ausdrucksmittel des Men­schen, bis hinauf zur Philosophie. Erst die Verhaltensforschung und die Benützung formaler Sprachen für Grenzfragen der Mathematik machten die Sprache zu einem Zentralfeld der Philosophie; sie wurde quasi über Nacht nicht nur benützt, sondern auch betrachtet, erforscht und als mitbestimmende Komponente der Philosophie erkannt und demonstriert. Im Extrem wurde die gesamte Philosophie als Sprachphilosophie dargestellt. Computer und Informatik lösen nun eine analoge Entwicklung für die Infor­mation aus und werden bewirken, daß die Information zu einem Kernbegriff der Philosophie wird. Im Extremfall wird die gesamte Philosophie als Informa­tionsverarbeitung dargestellt werden.

Wittgenstein I war auf diesem Weg und Wittgenstein II erkannte die unumgehbare Notwendigkeit, das Umfeld, den Kontext, das "Sprachspiel" zum Ausgangsrahmen der Überlegungen zu machen, bei der Sprache und bei der Information. Wie gravierend der Kontext Computerwahrheiten relativiert, ist in diesem Beitrag mehrfach beschrieben worden. Das Schlußwort muß daher zum Begriff der Information zurückkehren.

Nur für die klassische Übertragungstechnik ist Information bloße Zeichenfolge oder ein Analogsignal f(t): weil sich die klassische Übertragungstechnik vom Inhalt, von der eigentlichen Information fernhielt. Nur ihre Oberfläche – Zeichen, Wellenform und Bildpunktanordnung – brauchte vom Sender zum Empfänger zu kommen, so wenig deformiert als möglich.

Das Addierwerk brachte den ersten Schritt, den Griff nach dem Inhalt, nach der Bedeutung. Der Empfänger erhält das Resultat, das aus den gesen­deten Angaben abgeleitet, errechnet wurde. Die Numerik wäre kontextfrei, was die Zahlenwerte anbelangt; schon die Algebra aber führt mathematische Semantik ein: ein Grundrechnungsoperator zwischen Brüchen kann andere Prozesse auslösen und andere Resultate ergeben als zwischen Dezimalzahlen. Stets aber gibt es eine logische Struktur, und diese erlaubt formale Semantik bis hinauf zur Sprachdefinition.

Die Physik löste die Semantik mit Hilfe der Dimensionen und Einheiten. In Gleichungen und Berechnungsvorschriften wird stets sichergestellt, daß die Dimension auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens dieselbe ist – damit redu­ziert sich die physikalische Gleichung auf eine numerische. In der Buchhal­tung redet man nicht von Dimensionen, aber die Semantik der Journalspalten ist stets wohldefiniert wie eine Dimension und es gibt daher keine Probleme in der numerischen Abwicklung.

Die Erweiterung auf informale Texte bedeutet den zweiten Schritt, den Griff nach dem Inhalt der informalen Sprache, wo aber die schützende Ord­nung der Zahlenreihe fehlt. Die Größe dieses Schrittes, der in das unendliche Universum der natürlichen Sprache führt, ist immer wieder unterschätzt wor­den. Kein Wort ist ohne Kontext, der im vollen Umfang erst im menschlichen Bewußtsein voll berücksichtigt wird, nach komplexer Verarbeitung durch Sin­nesorgane, Nervensystem und Gehirn.



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