Sind Datenbanken bildungsfeindlich? (BD14)

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Ein paar Verständnisversuche

Beitrag von --H.A.L. (Diskussion) 19:26, 2. Nov. 2014 (CET)

Wenn man mich ohne Kontext mit der Aussage konfrontiert „Datenbanken sind eine Antithese zur Bildung” und mich fragt, was das heißen könnte, dann fällt mir zunächst ein: Den Begriff Bildung assoziiere ich eher mit qualitativer Forschung, Datenbanken mit quantitativer; wer von Bildung spricht, denkt an das Individuen, wer sich mit Datenbanken beschäftigt, an Klassifikationen; ein Bildungsprozeß ist ergebnisoffen, wer eine Datenbank gestaltet, sollte vorher schon wissen, was sie nachher tun soll; etc. Damit hängt irgendwo auch diese Furcht zusammen, daß das Individuum auf einen Datensatz reduziert und damit seiner Einzigartigkeit beraubt wird. - Oder: Bildung ist ein Prozeß, eine Datenbank ist etwas Fertiges.

Nun kann bei einem Bildungsprozeß ein Ergebnis herauskommen. A vollzieht einen lebenslangen Bildungsprozeß und gießt schließlich ihre Einsichten in ein kluges Buch. Dann kommt B und bildet sich weiter, indem er das Buch von A liest. In diesem Sinn vollzeiht B einen Bildungsprozeß in der Arbeit an einem Ergebnis eines Bildungsprozesses. - Bücher, Bildungsinhalte, können datenbankmäßig erfaßt werden.

Oder ganz was anderes: „Bildung geht über die Verwendung solcher Artefakte hinaus.” Wenn sich eine Knospe bildet, heißt das, daß sie sich selbst verändert. Wenn ich ein Werkzeug verwende, verändere ich mich nicht. Ich habe eine Situation, in der ich ein Loch in der Wand möchte, in diese Situation setze ich die Bohrmaschine quasi ein. Dabei erwarte ich von meinem Werkzeug, daß es seinen Zweck erfüllt, ohne weiter in die Gesamtsituation einzugreifen. Wenn in einer Kundenrezension steht: „Seit ich diese Bohrmaschine verwendet habe, bin ich ein anderer Mensch”, dann ist das nicht das, was ich von einer Bohrmaschine erwarte.

Artefakte und Zwecke sind ein bißchen kompliziert. Einer Bohrmaschine ist in gewissem Sinn durchaus ein Zweck inhärent, nämlich der Zweck, Löcher zu bohren. Wie gesagt, steckt es nicht in der Bohrmaschine, ob das Loch in einem Brett oder einer Hand ist, aber vielleicht geht es darum gar nciht. In einer Pistole steckt der Zweck zu töten, aber sie hat den Zweck nicht aus sich heraus entwickelt, er ist quasi von außen in sie hineingelegt worden.

Ich möchte hier einwenden, dass der Zweck der Tötung eines anderen Menschen der Pistole in einem gewissen Sinne nicht nur von außen zukommt, sondern sich Mensch und Pistole für diesen bestimmten Zweck verbinden; ohne Mensch kein Schuss und ohne Pistole keine Tötung durch ein Projektil. Beide sind daran beteiligt, aber nur dem Menschen wird dafür „Verantwortung“ zugeschrieben. Ich habe die von anna erwähnte Trennung zwischen „verantwortlich“ und „verantworlich“ im rivalisierenden Sinn verstanden und hoffe, dass ich nicht unnötig stur wirke, wenn ich noch einmal die Frage stelle, inwiefern sich der „Endzweck“: Tötung durch Schussverletzung (der nur dem Menschen zugeschrieben wird) aus der Zusammensetzung der Zwecke beider beteiligter Akteure ergibt, also aus 1. dem Zweck einem Menschen das Leben zu nehmen und 2. dem Zweck der Waffe einen Schuss abzugeben, zusammengesetzt ist, was, so wie mir scheint, nicht so vorschnell voneinander getrennt werden kann. Ich bitte um eine eingehendere Darlegung der Notwendigkeit der rigiden Trennung zwischen Wirkung (Operation) und Zweck (Handlung) in diesem Beispiel. - Mir scheint, aber vielleicht macht mich hier der Wunsch blind für das Offensichtliche, dass eine solche Zweckzusammensetzung eine „Bildungsmaschine“ denkbar machen würde.
Der Name Bruno Latour wurde in der vierten Einheit der VO erwähnt. Es gäbe, die Thematik der „Zwecke“ betreffend, zwei kurze Texte des Autoren ([1] [2] die Texte sind im Original in fränzösischer Sprache verfasst, ich habe hier die englischen Übersetzungen angeführt, weil ich, ehrlich gesagt, dem Französischen nicht hinreichend mächtig bin, um ernstzunehmend in dieser Sprache argumentieren zu können), die ich – vielleicht für den Punkt: „Für Sie gelesen“? - aufbereiten könnte. Besteht hierfür bei den Beteiligten der Diskussion Interesse, oder führt diese Frage uns eher weg von unserem Bereich? Ich bitte um feedback zu dieser Frage.
--Euphon (Diskussion) 10:40, 2. Nov. 2014 (CET)
Hmm. Das klingt für mich, als hättest du es ungefähr so verstanden: In einer Bohrmaschine würde der Zweck, ein Loch zu bohren, quasi drinstecken, an die Pistole dagegen würde der Zweck zu töten von außen herangetragen. Bohrmaschine und Pistole sind hier aber analog gedacht. Der Unterschied ist, daß ich mir eine Pistole vereinfacht als etwas vorstelle, das ausschließlich zu einem, sagen wir, moralisch problematischen Zweck verwendet werden kann.
Die Bohrmaschine ist dazu da, ein Loch zu bohren. Genaugenommen ist die Bohrmaschine dazu da, schnell zu rotieren, aber stellen wir uns einmal vor, der einzig sinnvolle Zweck dieses Rotierens wäre Löcherbohren. Die Pistole ist dazu da, zu töten. Genaugenommen ist die Pistole dazu da, ein Projektil zu beschleunigen, aber stellen wir uns einmal vor, der einzig sinnvolle Zweck dieses Beschleunigens wäre Töten.
Tatsächlich werden Bohrmaschinen vielleicht nicht nur, aber doch vorwiegend dazu hergestellt, Löcher zu bohren, und Pistolen werden vielleicht nicht nur, aber doch vorwiegend dazu hergestellt, andere zu töten. Insofern erscheint mir diese Vereinfachung nicht allzu kraß.
(paar Kleinigkeiten nebenbei: Ich habe von Tötung gesprochen, nicht von Tötung eines anderen Menschen. Kleiner, wahrscheinlich irrelevanter Unterschied. - Wobei, das ist interessant, denn für andere Tiere nimmt man eher ein Gewehr. Pistolen sind ja wirklich meistens dazu gedacht, auf andere Menschen abgefeuert zu werden. - Ein Zweck ist ja nicht immer gleich ein Selbst- oder Endzweck. Zwecke und Mittel können gereiht werden. Das Gewehr habe ich, um eine Explosion zu verursachen, um ein Projektil zu beschleunigen, um einen Hirsch zu töten, um etwas zu essen zu haben. Es könnte wichtig sein zu betonen, daß ich, wenn ich von einem Zweck rede, nicht meine, daß der Zweck für sich steht. - Ansonsten kann man jederzeit ein Mittel auf einen anderen Zweck ausrichten, bei einer Starterpistole ist das Projektil zum Beispiel uninteressant. Und ich kann natürlich einen Zweck durch ein anderes Mittel erreichen. Da sind wir wieder beim kreativen Umgang. Aber das ist für das, was ich sagen wollte, momentan nicht wichtig.)
Die Bohrmaschine hat den Zweck, ein Loch zu bohren. Die Pistole hat den Zweck, jemand zu töten. Das Werkzeug hat aber den Zweck nicht aus sich heraus entwickelt, sondern der Zweck ist in sie quasi von außen hineingelegt worden. Aber der Zweck ist in die Pistole hineingelegt worden nicht von der Person, die sie abfeuert, sonder von der Person, die sie hergestellt hat.
Ich habe hier die hypothetische Bohrmaschine, für die noch keine sinnvolle Verwendung gefunden wurde, als Löcher zu bohren. Und da habe ich die hypothetische Pistole, für die noch keine sinnvolle Verwendung gefunden wurde als Tiere (inkl. Menschen) zu töten. (Nein, ich weiß auch nicht, warum ich in einer Hand eine Waffe und in der anderen eine Bohrmaschine halte. Wahrscheinlich Midlife-crisis.) Du hast etwas gesagt, was ich so aufgefaßt habe: Es steckt nicht in der Bohrmaschine, ob ich damit etwas Positives oder etwas Negatives mache (ob ich in ein Brett oder eine Hand bohre), deswegen ist die Bohrmaschine nicht verantwortlich. Dagegen habe ich entgegnet: Aber sieh dir diese Pistole an, damit kann ich ausschließlich etwas Negatives machen. Trotzdem gebe ich nicht der Pistole die Verantwortung, denn sie hat nicht entschieden, daß man damit etwas Negatives machen kann. Sie hat das Töten nicht aus sich heraus entwickelt, es ist von der Büchsenmacherin in sie hineingelegt worden.
Was ich sagen wollte, war, daß man von einem Werkzeug in gewisser Weise sagen kann, daß es einen Zweck in sich trägt; das macht das Artefakt aber nicht zu einem moralischen Agenten, also kann man ihm auch keine moralische Verantwortung zuschreiben. Deswegen werden Mordwaffen nicht verurteilt. In der Pistole steckt das Töten in einer Weise, in der es in der Bohrmaschine nicht steckt, aber vor dem Gesetz sind alle Werkzeuge gleich.
Soviel zum ersten Gliedsatz. Weiter im Text. Von meinem Verständnishorizont aus kann man auch nicht sagen, daß sich Mensch und Pistole verbinden oder daß es ohne Pistole keine Tötung gibt, denn als es keine Pistole gab, hat sie jemand erfunden. Erst kommt der Mensch, dann kommt die Absicht, Tiere zu töten, und dann baut der Mensch die Pistole. Daß die Pistole ein Artefakt ist, heißt ja, daß sie jemand hergestellt hat, und hergestellt hat sie jemand, um damit einen bestimmten Zweck zu verfolgen.
Ich sage auch nicht, daß der „Endzweck” Tötung durch Schußverletzung aus dem dem Zweck zu töten und dem Zweck zu schießen zusammensetzt. Also, eigentlich gibt es gar keinen Endzweck „Tötung durch Schußverletzung”, der Endzweck ist „Tötung”. Es heißt eben Tötung durch Schußverletzung, das „durch” drückt eine Zweck-Mittel-Relation aus. Der Zweck zu schießen tritt nicht neben den Zweck zu töten, er wird dem Zweck untergeordnet.
Wenn wir den Fall untersuchen wollen, wo ein Zweck mit einem Gegenstand zusammenkommt, dann sollten wir vielleicht von der hypothetischen Pistole weggehen und zu einem Gegenstand, der eben nicht zu dem Zweck hergestellt wurde, zu dem er verwendet wird. Ich kann einen Menschen auch töten, indem ich ihn mit dem Schürhaken erschlage. Es ist nicht der Zweck des Schürhakens, zu töten, auch wenn uns eine Agatha Christie das vielleicht weismachen will. Der Schürhaken ist nicht dazu gemacht worden, jemand zu töten. (Ich kann jemand sogar mit einem GEgenstand töten, der gar kein Artefakt ist und nicht als Werkzeug gemacht wurde.) Allerdings hat der Schürhaken gewisse Eigenschaften, die ihn dazu geeignet machen, jemand zu töten. Wenn ich den Schürhaken zum Töten benutze, dann könnte man das vielleicht so sagen, daß ich die Handlung zusammensetze aus dem von mir gesetzten Zweck und den Möglichkeiten, die in dem Schürhaken stecken.
(Wenn ich oben schreibe, man könne von einem Werkzeug in gewisser Weise sagen, daß es einen Zweck in sich trägt, dann meine ich mit „Werkzeug” nicht etwas, das zu einem bestimmten Zweck verwendet wird oder verwendet werden könnte, sondern etwas, das zu einem bestimmten Zweck hergestellt wurde. Ich bin aber notorisch schlampig in solchen Sachen, also Obacht.)
Eine Schwierigkeit besteht natürlich darin, daß ein Artefakt nicht nur ein Werkzeug ist, sondern auch ein Gegenstand der materiellen Welt. Die Pistole wurde hergestellt, um damit zu töten, aber jetzt wo es sie einmal gibt, ist sie einfach da, auch wenn gerade niemand jemand töten will. Die dem Gegenstand inhärenten Möglichkeiten korrespondieren mit dem intendierten Zweck (wenn es ein gutes Werkzeug ist), aber sie sind auch von den intendierten Zweck unabhängig geworden. (Deswegen ist es auch möglich, ein Werkzeug zu einem anderen als dem intendierten Zweck zu benutzen. Das ist die Grundlage des kreativen Umgangs. Und mehr noch: Mir scheint, der Spieltrieb selbst hat sich um der Arterhaltung willen herausgebildet, aber jetzt wo er da ist, taucht er auch ohne Bezug auf Arterhaltung als Zweck für sich auf.)
(In gewisser Weise ist auch ein Werkzeug zusammengesetzt aus einem Zweck und einem Möglichkeitsspielraum, der durch einen Teil der materiellen Realität eröffnet wird. In dem Moment, wo jemand den Zweck, zu töten, mit den Eigenschaften explosiver Substanzen und schnell fliegender Projektile verbindet, hat er eine Pistole erschaffen, und sei es auch vorerst nur in Gedanken. - Vielleicht so: Die Wirkung fliegender Projektile hat zunächst nichts mit der Tötungsabsicht zu tun, beide werden erst zusammengeführt in der Erfindung der Schußwaffe. Weil aber die Schußwaffe konstruiert wird, um damit zu töten, wird ihr dieser Zweck eingeschrieben. - Es ist natürlich ungenau zu sagen, daß der Zweck in die Pistole von außen gesteckt wird; es ist nicht so, daß erst die Pistole da ist und dann wird sie mit der Tötungsabsicht gefüllt, tatsächlich wird die Pistole erst auf die Tötungsabsicht hin gebaut. Mit „von außen” wollte ich nur darauf hinweisen, daß die Pistole nicht auf einem Baum wächst und in sich eine Tötungsabsicht heranbildet. Die Tötungsabsicht kommt vom Büchsenmacher, bzw. vom Auftraggeber, und der Büchsenmacher ist nicht Teil der Pistole. Es ist aber auch nicht so, daß sich Mensch und Pistole zur Tötung verbinden, denn die Pistole ist eben nicht da, ehe sie der Mensch erzeugt, um seine Tötungsabsicht zu realisieren.)
Noch ein paar Ideen zur Bildungsmaschine - Ich würde sagen, Werkzeuge, die zum Zweck der Bildung erzeugt und verwendet werden, sind nicht nur denkbar, sondern realisiert, und einige dieser Werkzeuge sind Datenbanken, zum Beispiel der Online-Katalog der Universitätsbibliothek. - Ich bin davon ausgegangen, daß eine Aussage wie „dieses Buch hat mein Leben verändert” oder „seit ich das gelesen habe, sehe ich die Dinge ganz anders” einen Bildungsprozeß beschreibt. Eine kommentierte Bibliographie kann dem Zweck dienen, Bildungswillige mit Texten zusammenzuführen, die sich im Eröffnen von Horizonten bewährt haben. - Man stelle sich eine gebildete Person vor, die ihr Kind nicht mehr kennenlernen wird können, ihm aber etwas hinterlassen kann. Sie richtet einen Computer ein, auf dem nicht nur ein Bibliothekskatalog liegt, sondern auch die Texte selber, dazu eine Reihe von Einführungen, Navigationshilfen, Gebrauchsanweisungen etc. - Wenn das Kind den Rechner zum erstern Mal aufdreht, kommt vielleicht eine Videobotschaft, in der es heißt: „Liebes Kind, wenn du das siehst, bin ich nicht mehr da und du bist alt genug etc. etc. - Ich habe dieses Gerät eingerichtet, um dir soviel wie möglich von mir mitzugeben. Das ist eine Bildungsmaschine.”
Wenn wir kreativen Umgang mit Dingen als Bildungserlebnis betrachten, könnte man sich einen Gegenstand vorstellen, der zum kreativen Umgang motiviert. Das ist ein gewisses Paradox, denn das heißt, daß der Gegenstand dazu gemacht ist, mit ihm auf eine Weise umzugehen, die bei der Herstellung nicht intendiert war. Das kann man umgehen, indem man einem Gegenstand einen intendierten Zweck mitgibt, diesen aber so gut versteckt, daß ein kreativer Akt nötig ist, um ihn herauszufinden. Interessanter ist aber die Methode, als Spielzeug ein Werkzeug für einen bestimmten Binnenzweck herzugeben, der wiederum auf verschiedene Endzwecke verwendet werden kann. Zum Beispiel kann man seinen Kindern Sprengstoff zum Spielen geben (nein, ich habe selber keine Kinder, warum fragst du?) und sie selber nach Dingen suchen lassen, für die man eine Sprengung verwenden kann. Das ist wiederum interessant für informatische Zusammenhänge, denn das ist eigentlich das Prinzip des Toolset, im Gegensatz zur Anwendung (für „End”anwender). Der Heimwerker von der Diskussionsseite wird mir zustimmen, daß es kein schöneres Spielzeug gibt als einen Werkzeugkasten.
Zu Latour: Ich weiß jetzt nicht, ob gerade diese Texte für unsere Diskussion die Vorlesung fruchtbar sind, aber am Thema Zwecke bzw. Zweck-Mittel-Relationen bin ich immer interessiert. Und ich denke, weder die Themen Bildung noch Spiele kann man ohne den Begriff Zweck so recht erörtern. Ansonsten ist mir jedes Mittel recht, die Diskussion beim Freiraum zu halten, Bereich oder nicht.
--H.A.L. (Diskussion) 19:26, 2. Nov. 2014 (CET)

Da wird es wiederum interessant. Eine Maschine zum Ändern des Lebens ist theoretisch vorstellbar. „Seit ich dieses Buch verwendet habe, bin ich ein anderer Mensch” ist zwar komisch formuliert, aber als Kundenrezension denkbar. Eine Datenbank kann ich mir als Bildungsmaschine vorstellen. --H.A.L. (Diskussion) 14:17, 31. Okt. 2014 (CET)