Schiller zum Spieltrieb (BD14)

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Rekapitulation aus Freiraum (BD14)

Was sind die gemeinsamen Eigenschaften von "Knospenbildung", "Persönlichkeitsbildung", "Bildungsanspruch"?

  • Inhalte formen sich: ein Organismus, ein Charakter
  • in einem Zeitverlauf: als biologischer Prozess, durch einen Lernprozess
  • nach einer Zielvorgabe: ein Naturzweck, ein Menschenbild
  • die nicht ausserhalb des Prozesses liegt: eine funktionsfähige Vitalfunktion, Lebenserfahrung

In solchen Entwicklungen wird nicht einfach ein Material geformt, sondern die Formgebung wird selbst auf entwickelte Formen angewendet, z.B. Bodybuilding oder das Studium vorbildlicher kultureller Werke. Bildung ist Arbeit an Bildungen, d.h. ein Vorgang an Ergebnissen.

Friedrich Schiller legt einen Entwurf vor, in dem sich Naturvorgänge und Vernunfttätigkeit in einem Gesamtbild verbinden. Er konzipiert das als "Spieltrieb", der in der Lage ist, subjektfremde Momente mit freier Tätigkeit zu synthetisieren.

Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen

Aus dem 3. Brief

Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stille steht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Noth in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.

  • die Natur handelt am Menschen
  • die Natur nimmt ein Ziel des Menschen vorweg
  • Vernunft bezieht sich eigens auf den Evolutionsprozess
  • und macht aus physischer Notwendigkeit ein moralisches Gebot

Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her und findet sich – in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freiheit diesen Stand wählen konnte; die Noth richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden sein – und schlimm für ihn, wenn er es könnte!

  • ein Staat nach Naturgesetzen
  • das heißt: ohne vernünftige Zustimmung der Person

Er verläßt also, mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Nothwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freiheit von ihr scheidet, wie er, um nur ein Beispiel zu geben, den gemeinen Charakter, den das Bedürfniß der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So holt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit nach, bildet sich einen Naturstand in der Idee, der ihm zwar durch keine Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung nothwendig gesetzt ist, leiht sich in diesem idealischen Stand einen Endzweck, den er in seinem wirklichen Naturstand nicht kannte, und eine Wahl, deren er damals nicht fähig war, und verfährt nun nicht anders, als ob er von vorn anfinge und den Stand der Unabhängigkeit aus heller Einsicht und freiem Entschluß mit dem Stand der Verträge vertauschte.

  • Die Freiheit gegen blinde Notwendigkeit
  • bildet "einen Naturstand in der Idee"
  • und leiht sich einen Endzweck
Ein Vorentwurf der Natur wird vom Menschen, der seiner Freiheit gewahr wird, als erster Schritt zu einem vernünftigen Endzweck angeeignet. Ein Kreis schließt sich. Der Naturverlauf zielt, über die Schaltstelle "Freiheit", zur "hellen Einsicht".

Wie kunstreich und fest auch die blinde Willkür ihr Werk gegründet haben, wie anmaßend sie es auch behaupten und mit welchem Scheine von Ehrwürdigkeit es umgeben mag – er darf es, bei dieser Operation, als völlig ungeschehen betrachten; denn das Werk blinder Kräfte besitzt keine Autorität, vor welcher die Freiheit sich zu beugen brauchte, und alles muß sich dem höchsten Endzwecke fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt. Auf diese Art entsteht und rechtfertigt sich der Versuch eines mündig gewordenen Volks, seinen Naturstaat in einen sittlichen umzuformen.

Aus dem 14. Brief

Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken (es sei mir einstweilen, bis ich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.

Das eine ist der Ablauf in der Zeit, das andere ihre Aufhebung. Spielregeln sind Formen, welche jenseits faktischer Abläufe aufgestellt werden. In Spielabläufen werden sie auf Ereignisse in der Zeitfolge angewandt. Im Spieltrieb sind Sinnlichkeit und Verstand vermittelt.
"Die Zeit in der Zeit aufzuheben". Innerhalb des menschlichen Lebensverlaufes eine Zeitlosigkeit herzustellen. Eine Einklammerung des unweigerlichen zeitlichen Fortschreitens durch eine Form. Eine Art Entrückung.
Die Grundidee ist erstens, dass man sich beim Spielen in einer Welt bewegt, die in freier Wahl an materielle Voraussetzungen gebunden ist. Und zweitens, dass dieses Äquilibrium das Ergebnis eines Bildungsprozesses ist, in dem sich der Mensch durch Rekapitulation des Naturzwecks seiner kulturellen Bestimmung versichert.

Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.

Federball entsteht aus der Freude daran, sich flugfähige Objekte mit Hilfe von Schlägern zuschießen zu können. Der Spieltrieb macht daraus eine Synthese von Bewegungen und gestaltenden Eingriffe. Das Spiel gelingt, wenn die Geräte und die Regeln zusammenpassen.

Der sinnliche Trieb schließt aus seinem Subjekt alle Selbsttätigkeit und Freiheit, der Formtrieb schließt aus dem seinigen alle Abhängigkeit, alles Leiden aus. Ausschließung der Freiheit ist aber physische, Ausschließung des Leidens ist moralische Nothwendigkeit. Beide Triebe nöthigen also das Gemüth, jener durch Naturgesetze, dieser durch Gesetze der Vernunft. Der Spieltrieb also, als in welchem beide verbunden wirken, wird das Gemüth zugleich moralisch und physisch nöthigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nöthigung aufheben und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen. Wenn wir Jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die Nöthigung der Natur. Wenn wir gegen einen Andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnöthigt, so empfinden wir peinlich die Nöthigung der Vernunft. So bald er aber zugleich unsre Neigung interessiert und unsre Achtung sich erworben, so verschwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir fangen an, ihn zu lieben, d. h., zugleich mit unsrer Neigung und mit unsrer Achtung zu spielen.

Wenn Spiele Enklaven lokalisierter Zeitlosigkeit im Lebensverlauf sind, kann man sich Gedanken über des Status von Naturnotwendigkeit und Freiheit in diesem Zusammenhang machen. Eine kühne Wendung: die Synthese von Natur und Vernunft setzt die Zwangsläufigkeit beider Faktoren ausser Kraft. Eine Lesart: Solange man sich innerhalb eines Spiels befindet, gelten nur jene materiellen Vorkommnisse, die zu den frei erstellten Regeln passen. Der Zwang ist selbstverordnet, also nicht wirklich Zwang, und der freie Entwurf ist materiegebunden, als nicht voraussetzungslose Freiheit.

Indem uns ferner der sinnliche Trieb physisch und der Formtrieb moralisch nöthigt, so läßt jener unsre formale, dieser unsre materiale Beschaffenheit zufällig, das heißt, es ist zufällig, ob unsre Glückseligkeit mit unserer Vollkommenheit, oder ob diese mit jener übereinstimmen werde.

Für unsere Sinnlichkeit ist es egal, was wir tun sollen und für das Streben nach dem Guten können die sinnlichen Umstände keine Rolle spielen. Für (sinnliche) Erfüllungen ist es ein Zufall, dass sie auch moralisch wertvoll sind -- und umgekehrt.

Der Spieltrieb also, in welchem beide vereinigt wirken, wird zugleich unsre formale und unsere materiale Beschaffenheit, zugleich unsre Vollkommenheit und unsre Glückseligkeit zufällig machen;

Das ist eine plausible Spekulation. Man könnte von einer "Enklave lokalisierter Zeitlosigkeit" sprechen: die Vereinigung unserer Glückseligkeit und Vollkommenheit ist zufällig. Die Synthese des Spiels reicht nur soweit, wie seine jeweiligen Ingredienzien. Aber es geht weiter:

er wird also, eben weil er beide zufällig macht, und weil mit der Nothwendigkeit auch die Zufälligkeit verschwindet, die Zufälligkeit in beiden wieder aufheben, mithin Form in die Materie und Realität in die Form bringen.

In der "Enklave" verliert die Notwendigkeit ihren Zwang. Wird darum alles zufällig? Nein, denn das Geschehen ist auch nicht mehr zufällig, da es nicht an der Notwendigkeit gemessen werden kann. Form ist verschmolzen mit Materie, das Ergebnis unterliegt beiden Beschreibungskategorien nicht mehr.

In demselben Maße, als er den Empfindungen und Affekten ihren dynamischen Einfluß nimmt, wird er sie mit Ideen der Vernunft in Uebereinstimmung bringen, und in demselben Maße, als er den Gesetzen der Vernunft ihre moralische Nöthigung benimmt, wird er sie mit dem Interesse der Sinne versöhnen.

Dieses Resumee lässt sich bewusst unterkühlt oder in spekulativer Blüte auffassen:
  • Im Spiel passen wir uns aus freiem Willen dem Zwang natürlicher Abläufe an. Wir machen uns davon abhängig, dass Federbälle auf den Boden fallen.
  • Ein Spiel versöhnt Sinnlichkeit und Verstand. "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." (ÄE, 358 f)


Lars-Thade Ulrichs: Sind wir noch immer Barbaren?

in: Jürgen Stolzenberg, Lars-Thade Ulrichs (Hrsg.): Bildung als Kunst: Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche. S. 141f

Für Schiller ist nämlich das Gebiet des Ästhetischen der Ort, wo das antinomische Grundverhältnis des Menschen zu seinem adäquaten Ausdruck kommt, indem es innerhalb der Kunst spielerisch artikuliert wird. Das Spiel bringt die Antinomie von Stoff- und Formtrieb in die Schwebe: alles erscheint hier, wie Schiller sagt, „klein und leicht“; im Spiel der Kunst befinden sich Vernunft und Sinnlichkeit in Harmonie, im Spiel bin ich zugleich als Subjekt und Person beteiligt und aufgehoben und damit als ganzer Mensch angesprochen und beschäftigt. Der Spieltrieb übernimmt demnach die Aufgabe der Vermittlung zwischen den beiden Seiten des Menschseins, die Schiller mit den Begriffen Stoff- und Formtrieb beschreibt und die wir mit dem Hinweis auf das antinomische Grundverhältnis von Subjekt und Person näher zu erläutern versucht haben.

"Subjekt" bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das freie Individuum, "Person" auf ein historisch-kontingentes Sozialwesen.

„Durch den Spieltrieb werden die antagonistischen Triebe in ein Wechselverhältnis gebracht, in dem sie ‚zugleich subordiniert und coordiniert’ sind“ – heißt in der hier vorgestellten Interpretation: die beiden gleichursprünglichen Selbstauffassungsweisen des Menschen als Subjekt und Person kommen innerhalb des schönen Spiels der Kunst gleichermaßen zu ihrem Recht.

Erst indem sich der Mensch zugleich als bestimmt und bestimmend, als abhängig von der natürlichen, sinnlich gegebenen Welt und als freies und selbstbestimmtes Subjekt begreift, handelt er als ein ganzer Mensch. Diese schlechthin metaphysische Leistung vollbringt aber für Schiller allein die Kunst bzw. die ästhetische Bildung.