Schiffbruch (LWC): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Philo Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche
 
Zeile 1: Zeile 1:
I SEEFAHRT ALS GRENZVERLETZUNG
+
== I SEEFAHRT ALS GRENZVERLETZUNG ==
 +
 
 
Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen. Das Repertoire dieser nautischen Da-seinsmetaphorik ist reichhaltig. Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Wind-stillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompaß und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen. Oft dient die Vorstellung der Gefährdungen auf der hohen See nur dazu, die Behaglichkeit und Ruhe, die Sicherheit und Heiterkeit des Hafens vorzustellen, in dem die Seefahrt ihr Ende finden soll. Nur wo das Erreichen eines Zieles ausge-schlossen werden muß, wie bei Skeptikern und Epikureern, kann die Windstille auf dem hohen Meere selbst die Anschau-ung des reinen Glücks vertreten.'
 
Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen. Das Repertoire dieser nautischen Da-seinsmetaphorik ist reichhaltig. Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Wind-stillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompaß und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen. Oft dient die Vorstellung der Gefährdungen auf der hohen See nur dazu, die Behaglichkeit und Ruhe, die Sicherheit und Heiterkeit des Hafens vorzustellen, in dem die Seefahrt ihr Ende finden soll. Nur wo das Erreichen eines Zieles ausge-schlossen werden muß, wie bei Skeptikern und Epikureern, kann die Windstille auf dem hohen Meere selbst die Anschau-ung des reinen Glücks vertreten.'
 +
 
Unter den elementaren Realitäten, mit denen es der Mensch zu tun hat, ist ihm die des Meeres ­ zumindest bis zur späten Eroberung der Luft ­ die am wenigsten geheuere. Für sie sind Mächte und Götter zuständig, die sich der Sphäre bestimmba-rer Gewalten am hartnäckigsten entziehen. Aus dem Ozean, der den Rand der bewohnbaren Welt umgibt, kommen die
 
Unter den elementaren Realitäten, mit denen es der Mensch zu tun hat, ist ihm die des Meeres ­ zumindest bis zur späten Eroberung der Luft ­ die am wenigsten geheuere. Für sie sind Mächte und Götter zuständig, die sich der Sphäre bestimmba-rer Gewalten am hartnäckigsten entziehen. Aus dem Ozean, der den Rand der bewohnbaren Welt umgibt, kommen die
 
mythischen Ungeheuer, die von den vertrauten Gestalten der Natur am weitesten entfernt sind und von der Welt als Kosmos nichts mehr zu wissen scheinen. Zum Unheimlichen solcher Art gehört auch, daß die den Menschen seit jeher unüberbietbar erschreckende der Naturerscheinungen, das Erdbeben, in die mythische Zuständigkeit des Meergottes Poseidon gehörte. In der halbmythischen Erklärung des ersten der jonischen Natur-philosophen, des Thales von Milet, wird sie mit dem Zittern des Schiffes auf dem Meere verglichen ­ und dies nicht nur meta-phorisch, denn für ihn schwimmt alles feste Land auf dem Weltozean.2 Der Protophilosoph schlägt damit auch die frühe-ste Brücke zum Verständnis der eigentümlichen Paradoxie, von der ich ausging, daß der Mensch als Festlandlebewesen den-noch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den Imagi-nationen der Seefahrt sich darstellt.
 
mythischen Ungeheuer, die von den vertrauten Gestalten der Natur am weitesten entfernt sind und von der Welt als Kosmos nichts mehr zu wissen scheinen. Zum Unheimlichen solcher Art gehört auch, daß die den Menschen seit jeher unüberbietbar erschreckende der Naturerscheinungen, das Erdbeben, in die mythische Zuständigkeit des Meergottes Poseidon gehörte. In der halbmythischen Erklärung des ersten der jonischen Natur-philosophen, des Thales von Milet, wird sie mit dem Zittern des Schiffes auf dem Meere verglichen ­ und dies nicht nur meta-phorisch, denn für ihn schwimmt alles feste Land auf dem Weltozean.2 Der Protophilosoph schlägt damit auch die frühe-ste Brücke zum Verständnis der eigentümlichen Paradoxie, von der ich ausging, daß der Mensch als Festlandlebewesen den-noch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den Imagi-nationen der Seefahrt sich darstellt.
Zeile 7: Zeile 9:
 
Der Kulturkritik ist das Meer immer verdächtig gewesen. Was hätte den Schritt vom Land auf See sonst motivieren können, als der Überdruß an der kargen Versorgung durch die Natur und der eintönigen Arbeit des Landbaus, der süchtige Blick auf Gewinn im Handstreich, auf mehr als das vernünftig Notwen-dige, für das Philosophenhirne eine Formel leicht auf der Zunge haben, auf Üppigkeit und Luxus? Daß hier, an der Gren-ze vom festen Land zum Meer, zwar nicht der Sündenfall, aber doch der Verfehlungsschritt ins Ungemäße und Maßlose zuerst getan wurde, ist von der Anschaulichkeit, die dauerhafte Topoi trägt.
 
Der Kulturkritik ist das Meer immer verdächtig gewesen. Was hätte den Schritt vom Land auf See sonst motivieren können, als der Überdruß an der kargen Versorgung durch die Natur und der eintönigen Arbeit des Landbaus, der süchtige Blick auf Gewinn im Handstreich, auf mehr als das vernünftig Notwen-dige, für das Philosophenhirne eine Formel leicht auf der Zunge haben, auf Üppigkeit und Luxus? Daß hier, an der Gren-ze vom festen Land zum Meer, zwar nicht der Sündenfall, aber doch der Verfehlungsschritt ins Ungemäße und Maßlose zuerst getan wurde, ist von der Anschaulichkeit, die dauerhafte Topoi trägt.
 
Mit Sorge blickt schon Hesiod in den »Erga« auf den Bruder Perses, der sein Herz voll Leichtsinn von der Landarbeit weg auf die Chance der Küstenschiffahrt gerichtet hat, wie vor ihm der Vater im Drang nach besserem Leben häufig zu Schiff unterwegs gewesen war. Hesiod mißtraut dem fremden Element schon deshalb, weil es nicht vollends unter der Botmäßigkeit des Zeus steht, denn dort draußen waltet nach eignem Beschluß der Erd-erschütterer Poseidon. Deshalb der Rat an den Bruder, so schnell wie er könne nach Hause zurückzukehren und die gesetzten Grenzen der günstigen Jahreszeit nicht zu überschreiten. Die Regeln der Zeit scheinen das zu sein, was vom Kosmos für das Meer übriggeblieben ist. Hart tadelt Hesiod deshalb die See-fahrt unter den Ungewißheiten des Frühjahrs, sie sei hastig und dreist. Doch die Menschen, im Unverstand ihres Herzens, unter-nehmen auch dies.
 
Mit Sorge blickt schon Hesiod in den »Erga« auf den Bruder Perses, der sein Herz voll Leichtsinn von der Landarbeit weg auf die Chance der Küstenschiffahrt gerichtet hat, wie vor ihm der Vater im Drang nach besserem Leben häufig zu Schiff unterwegs gewesen war. Hesiod mißtraut dem fremden Element schon deshalb, weil es nicht vollends unter der Botmäßigkeit des Zeus steht, denn dort draußen waltet nach eignem Beschluß der Erd-erschütterer Poseidon. Deshalb der Rat an den Bruder, so schnell wie er könne nach Hause zurückzukehren und die gesetzten Grenzen der günstigen Jahreszeit nicht zu überschreiten. Die Regeln der Zeit scheinen das zu sein, was vom Kosmos für das Meer übriggeblieben ist. Hart tadelt Hesiod deshalb die See-fahrt unter den Ungewißheiten des Frühjahrs, sie sei hastig und dreist. Doch die Menschen, im Unverstand ihres Herzens, unter-nehmen auch dies.
 +
 +
Just bei diesem Tadel taucht zum ersten Mal die kulturkritische Verbindung der beiden durch Liquidität charakterisierten Ele-mente, des Wassers und des Geldes, auf: dieses sei wie Leben so

Version vom 8. November 2005, 10:52 Uhr

I SEEFAHRT ALS GRENZVERLETZUNG

Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen. Das Repertoire dieser nautischen Da-seinsmetaphorik ist reichhaltig. Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Wind-stillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompaß und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen. Oft dient die Vorstellung der Gefährdungen auf der hohen See nur dazu, die Behaglichkeit und Ruhe, die Sicherheit und Heiterkeit des Hafens vorzustellen, in dem die Seefahrt ihr Ende finden soll. Nur wo das Erreichen eines Zieles ausge-schlossen werden muß, wie bei Skeptikern und Epikureern, kann die Windstille auf dem hohen Meere selbst die Anschau-ung des reinen Glücks vertreten.'

Unter den elementaren Realitäten, mit denen es der Mensch zu tun hat, ist ihm die des Meeres ­ zumindest bis zur späten Eroberung der Luft ­ die am wenigsten geheuere. Für sie sind Mächte und Götter zuständig, die sich der Sphäre bestimmba-rer Gewalten am hartnäckigsten entziehen. Aus dem Ozean, der den Rand der bewohnbaren Welt umgibt, kommen die mythischen Ungeheuer, die von den vertrauten Gestalten der Natur am weitesten entfernt sind und von der Welt als Kosmos nichts mehr zu wissen scheinen. Zum Unheimlichen solcher Art gehört auch, daß die den Menschen seit jeher unüberbietbar erschreckende der Naturerscheinungen, das Erdbeben, in die mythische Zuständigkeit des Meergottes Poseidon gehörte. In der halbmythischen Erklärung des ersten der jonischen Natur-philosophen, des Thales von Milet, wird sie mit dem Zittern des Schiffes auf dem Meere verglichen ­ und dies nicht nur meta-phorisch, denn für ihn schwimmt alles feste Land auf dem Weltozean.2 Der Protophilosoph schlägt damit auch die frühe-ste Brücke zum Verständnis der eigentümlichen Paradoxie, von der ich ausging, daß der Mensch als Festlandlebewesen den-noch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den Imagi-nationen der Seefahrt sich darstellt. Zwei Voraussetzungen bestimmen vor allem die Bedeutungs-last der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch: einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Un-ternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungs-widrigkeit. Bis in die christliche Ikonographie hinein ist das Meer Erscheinungsort des Bösen, auch mit dem gnostischen Zug, daß es für die rohe, alles verschlingende und in sich zu-rückholende Materie steht. Es gehört zu den Verheißungen der Apokalypse des Johannes, daß im messianischen Zustand kein Meer mehr ist (he thalassa ouk esti eti). Die Irrfahrt ist in ihrer reinen Form Ausdruck für die Willkür der Gewalten, die Ver-weigerung der Heimkehr, wie dem Odysseus geschieht, die sinnlose Umtreibung und schließlich der Schiffbruch, in denen die Zuverlässigkeit des Kosmos fraglich und sein gnostischer Gegenwert vorweggenommen wird. Der Kulturkritik ist das Meer immer verdächtig gewesen. Was hätte den Schritt vom Land auf See sonst motivieren können, als der Überdruß an der kargen Versorgung durch die Natur und der eintönigen Arbeit des Landbaus, der süchtige Blick auf Gewinn im Handstreich, auf mehr als das vernünftig Notwen-dige, für das Philosophenhirne eine Formel leicht auf der Zunge haben, auf Üppigkeit und Luxus? Daß hier, an der Gren-ze vom festen Land zum Meer, zwar nicht der Sündenfall, aber doch der Verfehlungsschritt ins Ungemäße und Maßlose zuerst getan wurde, ist von der Anschaulichkeit, die dauerhafte Topoi trägt. Mit Sorge blickt schon Hesiod in den »Erga« auf den Bruder Perses, der sein Herz voll Leichtsinn von der Landarbeit weg auf die Chance der Küstenschiffahrt gerichtet hat, wie vor ihm der Vater im Drang nach besserem Leben häufig zu Schiff unterwegs gewesen war. Hesiod mißtraut dem fremden Element schon deshalb, weil es nicht vollends unter der Botmäßigkeit des Zeus steht, denn dort draußen waltet nach eignem Beschluß der Erd-erschütterer Poseidon. Deshalb der Rat an den Bruder, so schnell wie er könne nach Hause zurückzukehren und die gesetzten Grenzen der günstigen Jahreszeit nicht zu überschreiten. Die Regeln der Zeit scheinen das zu sein, was vom Kosmos für das Meer übriggeblieben ist. Hart tadelt Hesiod deshalb die See-fahrt unter den Ungewißheiten des Frühjahrs, sie sei hastig und dreist. Doch die Menschen, im Unverstand ihres Herzens, unter-nehmen auch dies.

Just bei diesem Tadel taucht zum ersten Mal die kulturkritische Verbindung der beiden durch Liquidität charakterisierten Ele-mente, des Wassers und des Geldes, auf: dieses sei wie Leben so