SZ §§9, 45: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit (Code)

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Sein und Zeit, S. 42 f

Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene »Eigenschaften« eines so und so »aussehenden« vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das. Alles So-sein dieses Seienden ist primär Sein. Daher drückt der Titel »Dasein«, mit dem wir dieses Seiende bezeichnen, nicht sein Was aus, wie Tisch, Haus, Baum, sondern das Sein.

2. Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exem­plar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem. Diesem Seienden ist sein Sein »gleichgültig«, genau besehen, es »ist« so, daß ihm sein Sein weder gleichgültig noch ungleichgültig sein kann. Das Anspre­chen von Dasein muß gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: »ich bin«, »du bist«.

Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise zu sein. Es hat sich schon immer irgendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist. Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglich­keit. Dasein ist je seine Möglichkeit und es »hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes. Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen. Verloren haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit – diese Ausdrücke sind im strengen Wortsinne terminologisch gewählt – gründen darin, daß Dasein über­haupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist. Die Uneigentlichkeit des Daseins bedeutet aber nicht etwa ein »weniger« Sein oder einen »niedri­geren« Seinsgrad. Die Uneigentlichkeit kann vielmehr das Dasein nach seiner vollsten Konkretion bestimmen in seiner Geschäftigkeit, Angeregtheit, Interessiertheit, Genußfähigkeit.

Eigentlichkeit kann man hier zunächst parallel zur Diskussion des Zeichens nehmen: eigentliche Zeichen fungieren in einem Verweisungszusammenhang, eigentliches Menschsein verhält sich zu seinen Möglichkeiten. Das ist ein "Seinsmerkmal", das Heidegger durch das Wortspiel "sich zu eigen sein" verdeutlicht.
Es gibt eine wesentliche Eigentlichkeit, die darin liegt wählen zu können. Und es gibt eine Eigentlichkeit, die sich von der Uneigentlichkeit unterscheidet. Sie bezeichnet eine Wahl im Gegensatz zum durchschnittlichen Verhalten in der Welt.

Die beiden skizzierten Charaktere des Daseins: einmal der Vorrang der »existentia« vor der essentia und dann die Jemeinigkeit – zeigen schon an, daß eine Analytik dieses Seienden vor einen eigenartigen phänomenalen Bezirk gestellt wird. Dieses Seiende hat nicht und nie die Seinsart des innerhalb der Welt nur Vorhandenen. Daher ist es auch nicht in der Weise des Vorfindens von Vorhandenem the­matisch vorzugeben. Die rechte Vorgabe seiner ist so wenig selbstver­ständlich, daß deren Bestimmung selbst ein wesentliches Stück der ontologischen Analytik dieses Seienden ausmacht. Mit dem sicheren Vollzug der rechten Vorgabe dieses Seienden steht und fällt die Mög­lichkeit, das Sein dieses Seienden überhaupt zum Verständnis zu brin­gen. Mag die Analyse noch so vorläufig sein, sie fordert immer schon die Sicherung des rechten Ansatzes.

Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und d.h. zugleich in seinem Sein irgendwie versteht. Das ist der formale Sinn der Existenzverfassung des Daseins. Darin liegt aber für die ontologische Interpretation dieses Seienden die Anweisung, die Pro­blematik seines Seins aus der Existenzialität seiner Existenz zu entwickeln. Das kann jedoch nicht heißen, das Dasein aus einer konkre­ten möglichen Idee von Existenz konstruieren. Das Dasein soll im Ausgang der Analyse gerade nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens interpretiert, sondern in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt werden. Diese Indifferenz der Alltäglichkeit des Daseins ist nicht nichts, sondern ein positiver phänomenaler Cha­rakter dieses Seienden. Aus dieser Seinsart heraus und in sie zurück ist alles Existieren, wie es ist. Wir nennen diese alltägliche Indifferenz des Daseins Durchschnittlichkeit.

Für diese Durchschnittlichkeit gilt, wie in der Explikation des Zeichens, dass sich der Mensch in einem vielfältig geschichteten Sinnzusammenhang aufhält, bezüglich dessen es nicht wichtig ist, welcher Art die "Gegenstände" sind, die einen "leiten". Es gibt ein durchschnittliches Verhalten zu Regenwolken und zum Wecker.

Sein und Zeit, S. 232f

Eine ursprüngliche ontologische Interpretation verlangt aber nicht nur überhaupt eine in phänomenaler Anmessung gesicherte herme­neutische Situation, sondern sie muß sich ausdrücklich dessen versi­chern, ob sie das Ganze des thematischen Seienden in die Vorhabe ge­bracht hat. Imgleichen genügt nicht eine obzwar phänomenal gegrün­dete erste Vorzeichnung des Seins dieses Seienden. Die Vor-sicht auf das Sein muß dieses vielmehr hinsichtlich der Einheit der zugehörigen und möglichen Strukturmomente treffen. Erst dann kann die Frage nach dem Sinn der Einheit der Seinsganzheit des ganzen Seienden mit phänomenaler Sicherheit gestellt und beantwortet werden.

Entwuchs die vollzogene existenziale Analyse des Daseins einer sol­chen hermeneutischen Situation, daß durch sie die fundamentalonto­logisch geforderte Ursprünglichkeit gewährleistet ist? Kann von dem gewonnenen Ergebnis — das Sein des Daseins ist die Sorge — zur Frage nach der ursprünglichen Einheit dieses Strukturganzen fortgeschrit­ten werden?

Wie steht es um die bislang das ontologische Verfahren leitende Vor-sicht? Die Idee der Existenz bestimmten wir als verstehendes Seinkönnen, dem es um sein Sein selbst geht. Als je meines aber ist das Seinkönnen frei für Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit oder die modale Indifferenz ihrer. Die bisherige Interpretation beschränkte sich, ansetzend bei der durchschnittlichen Alltäglichkeit, auf die Ana­lyse des indifferenten bzw. uneigentlichen Existierens. Zwar konnte und mußte auch schon auf diesem Wege eine konkrete Bestimmung der Existenzialität der Existenz erreicht werden. Gleichwohl blieb die ontologische Charakteristik der Existenzverfassung mit einem wesent­lichen Mangel behaftet. Existenz besagt Seinkönnen — aber auch eigentliches. Solange die existenziale Struktur des eigentlichen Sein­könnens nicht in die Existenzidee hineingenommen wird, fehlt der eine existenziale Interpretation führenden Vor-sicht die Ursprüng­lichkeit.

"Diese Indifferenz der Alltäglichkeit des Daseins ist nicht nichts, sondern ein positiver phänomenaler Cha­rakter dieses Seienden." Hier wird nun Indifferenz und Uneigentlichkeit zusammengelegt. Zwei Betrachtungsweisen überschneiden sich:
  • Die Alltäglichkeit ist ein positiver Seinscharakter des Daseins. Sie stellt eine eigenständige Weise des In-der-Welt-seins dar. Sie ist nicht defizitär.
  • Die Alltäglichkeit ist doch defizitär. Gegenüber der Wahl der eigenen Möglichkeit handelt es sich um eine "Verlorenheit" an die Umwelt.
Alltäglichkeit ist einerseits eine gänzlich ernst zu nehmende Existenzweise im Rahmen des Sich-in-der-Welt-Verhaltens und andererseits eine spezifische, problematische, Wahl des Daseins.

Und wie ist es um die Vorhabe der bisherigen hermeneutischen Situa­tion bestellt? Wann und wie hat die existenziale Analyse sich dessen versichert, daß sie mit dem Ansatz bei der Alltäglichkeit das ganze Dasein — dieses Seiende von seinem »Anfang« bis zu seinem »Ende« in den themagebenden phänomenologischen Blick zwang? Zwar wurde behauptet, die Sorge sei die Ganzheit des Strukturganzen der Da­seinsverfassung. Liegt aber nicht schon im Ansatz der Interpretation der Verzicht auf die Möglichkeit, das Dasein als Ganzes in den Blick zu bringen? Die Alltäglichkeit ist doch gerade das Sein »zwischen« Geburt und Tod. Und wenn die Existenz das Sein des Daseins bestimmt und ihr Wesen mitkonstituiert wird durch das Seinkönnen, dann muß das Dasein, solange es existiert, seinkönnend je etwas noch nicht sein. Seiendes, dessen Essenz die Existenz ausmacht, widersetzt sich wesenhaft der möglichen Erfassung seiner als ganzes Seiendes. Die hermeneutische Situation hat sich bislang nicht nur nicht der »Habe« des ganzen Seienden versichert, es wird sogar fraglich, ob sie überhaupt erreichbar ist und ob nicht eine ursprüngliche ontologische Interpretation des Daseins scheitern muß — an der Seinsart des the­matischen Seienden selbst.

"in den themagebenden phänomenologischen Blick zwang" - das sagt viel über das Verhältnis zwischen Phä nomenologie und Seinsfrage.

Eines ist unverkennbar geworden: die bisherige existenziale Analyse des Daseins kann den Anspruch auf Ursprünglichkeit nicht erheben. In der Vorhabe stand immer nur das uneigentliche Sein des Daseins und dieses als unganzes. Soll die Interpretation des Seins des Daseins als Fundament der Ausarbeitung der ontologischen Grundfrage ur­sprünglich werden, dann muß sie das Sein des Daseins zuvor in sei­ner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit existenzial ans Licht ge­bracht haben.



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