SEYFRIED, Rolf (Arbeit1)

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DISKUSSION (1.Arbeit SEYFRIED, Rolf)

Keine Angst vor Schürhaken

  • verfasst von Rolf Seyfried


Eine Aushändigung


von Rolf Gregor Seyfried


Das Ziel ist ungewiß. Die Bedingungen unkontrolliert, an Zahl unbekannt. Keine Antwort im Hinterkopf. Kein Labor. Eher eine offene Weidefläche. Kein Experiment. Kein Materialobjekt, auf das sich der Autor stützen oder gar stürzen könnte. Ein Formalobjekt, eine gesicherte Methode – auch nicht. Eher ein Weg, aber noch verborgen, verschüttet von sich selbst – von jenen Worten, die ihn zugleich bahnen. Ein schöpferisches Paradox – vielleicht. Gibt es neben dem Zeugnis über die Lehrveranstaltung ein darüber hinausgehendes Worumwillen des Textes, das den Text „zu sich ziehend“ zu einem Ganzen werden läßt, dann könnte der Text gelingen, also glücken und aus dem Ge-Lücke, aus der erschriebenen, er-dachten Öffnung ein Sinn springen – wie das Kaninchen aus dem Hut, der Hase aus dem Pfeffer, der Boxhandschuh aus der Box. Kann aber dergestalt überhaupt ein sinnvoller Text entstehen, wenn der Autor im Prozeß des Schreibens eben nicht das Worumwillen seines eigenen Textes kennt, sondern immer nur den Überblick über die nächsten paar Schritte behalten kann, bis ihn eine Art von Nebelwand daran hindert, noch weiter zu sehen oder gar die ganze Wegstrecke, sofern es sich überhaupt um eine „Strecke“ im mathematischen Sinne handelt, ins Auge zu fassen? Wie auch immer: Das war der Beginn. Ich hoffe, daß mit dem Beginn auch etwas angefangen hat, etwas Ganzes ins Sein tritt, etwas Ganzes aus dem Nichts, dieses noch mit sich tragend, steigt, wobei das Ganze mit dem letzten Wort dieses Textes wohl nicht beschlossen, sondern eher angehoben sein wird. Vielleicht trifft dieser Anfang jenen Anfang im Sinne Hegels: "So muss der Anfang absoluter oder, was hier gleichbedeutend ist, abstrakter Anfang sein; er darf so nichts voraussetzen, muss durch nichts vermittelt sein noch einen Grund haben; ... es ist nur zu sehen, was wir in dieser Vorstellung haben. Es ist noch Nichts, und es soll etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts - oder ist das Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist."

Ausgehend von der Vorlesung, die Arno Böhler am 27. 11. 2008 gehalten hat und ausgehend von seinem Gedanken, daß das Denken ein künstlerisch-kreativer Akt sein kann – methodisch im wörtlichen Sinne des Sich-entlang-eines-Weges-Bewegens, metaphorisch im wörtlichen Sinne des Anderwohin-Tragens und nicht zuletzt unkontrolliert – hat also, wie bereits im ersten Absatz angedeutet, dieser Text mit einer „Entgleitung“ im Böhlerschen Sinne begonnen. Handelt es sich demnach in diesem Text um pure Willkür, um instinkthaftes Herumstromern durch zufällig mir Entgegenströmendes, um eine heitere Lust und eine unverbindliche Laune – nämlich dergestalt, daß ich diesen Text genau so und mit dem selben Recht nicht schreiben könnte? Wenn es so wäre, dann hätte mich Böhlers Vortrag nicht „angesprochen“ und damit etwas ausgelöst, von dem ich eben nicht so genau weiß, was es ist. Aber was heißt „mich ansprechen“? Was ist „mich“? Wer bin ich als der Angesprochene? Ich als der Philosophiestudent, der diesen Text auch schreibt, um ein Zeugnis zu bekommen? Sobald ich über mich nachdenke, entgleite ich mir selbst, sodaß ich nicht weiß, wer oder was tatsächlich angesprochen worden ist. Aber vielleicht ist das auch die falsche Spur, vielleicht geht es gar nicht um mich, zumal jetzt eine „Aushändigung“ meiner selbst stattfindet. Es könnte sein, daß es sich hier vielmehr um einen Raum handelt, in dem Böhlers Vortrag widerhallt, in dem nun auch widerhallen die eigenen Worte, zu deren Hörer ich selbst geworden bin. Aber was ist dieser Raum? Was ist ein Widerhall gewährender Raum, wenn doch ein solcher Raum Grenzen aufweisen muß, um überhaupt einen Widerhall zu ermöglichen? Woraus bestehen diese Grenzen und woher kommen sie? Der Prozeß des Schreibens im Sinne einer „Aushändigung“ beantwortet mir diese Frage im Augenblick nicht, sondern spielt mich – ich weiß nicht warum – folgender Geschichte zu, die ich im Buch „Ohne Schweigen, ohne Worte“ finde. „Hakuin pflegte seinen Schülern von einer alten Frau zu erzählen, die ein Teegeschäft besaß, und er rühmte ihr Verständnis des Zen. Die Schüler weigerten sich zu glauben, was er ihnen erzählte, und wollten zum Teeladen gehen, um selbst zu sehen. Wenn die Frau die Schüler kommen sah, so konnte sie sofort sagen, ob sie des Tees wegen kamen oder um ihr Zen-Verständnis zu prüfen. Im ersten Falle bediente sie sie freundlich. Im letzteren winkte sie die Schüler hinter den Ladentisch. In dem Augenblick, da sie gehorchten, schlug sie mit einem Schürhaken nach ihnen. Neun von zehn konnten ihren Schlägen nicht ausweichen.“

Mir scheint diese Geschichte hinzuführen auf die von Böhler angesprochene „leibliche Verfaßtheit des Denkens“ und könnte zudem eine der vielen Antworten sein (zumal es nicht nur Schürhaken gibt, sondern auch Nudelhölzer, Holzscheite, Kehrichtschaufeln, Besenstiele, Bücher, billige Laptops und anderes zuhandenes Zeug ) auf die von Böhler gestellten Fragen: 1. Können wir den eigenen Körper im Denken gebrauchen? 2. Können Thesen getanzt werden? Dazu möchte ich zwei Antworten geben: 1. Wir können den eigenen Körper im Denken veranschaulichend gebrauchen aber nicht, indem wir ihn instrumentell gebrauchen, d.h. verobjektiviert in Einsatz bringen. Es ist eher so, daß ein Gedanke in der Einheit von Geist und Körper, Leib und Seele unmittelbar, an eine Situation, an einen Ort gebunden, sich aktualisiert und damit zur Anschauung gebracht wird. Ein Gedanke, der eine Einsicht, eine Erkenntnis, eine Erfahrung sein kann. Das „Anschauliche“ ist freilich die körperliche Tat-Sache. 2. Thesen können demnach auch, gemäß Punkt 1, getanzt werden, aber nicht nur das, sie können auch, wie Hakuins Geschichte zeigt, geschlagen werden. Um die Antworten, die natürlich fragwürdig sind, besser fassen zu können, muß auch die Geschichte und der Umkreis dieser Geschichte erläutert werden. Dazu ein Auszug aus dem Vorwort des Buches, aus dem Hakuins Geschichte erzählt wird: „101 Zen-Geschichten geben die tatsächlichen Erfahrungen chinesischer und japanischer Zen-Lehrer aus einer Zeitspanne von mehr als fünf Jahrhunderten wieder…Der erste Zen-Patriarch, Bodhidarma, brachte im sechsten Jahrhundert die Zen-Lehre von Indien nach China. Laut seiner Biographie, wie sie im Jahre 1004 von dem chinesischen Meister Dogen aufgezeichnet wurde, verlangte es Bodhidharma nach neun Jahren in China nach der Heimkehr, und er versammelte seine Schüler um sich, um ihre Verständigkeit zu prüfen. Dofuku sagte: ‚Meiner Meinung nach ist die Wahrheit jenseits von Bestätigung oder Ablehnung, denn eben dadurch lebt sie.‘ Bodhidharma erwiderte: ‚Du hast meine Haut.‘ Die Nonne Soji sagte: ‚Meiner Ansicht nach ist sie wie Anandas Erblicken des Buddha-Landes – einmal gesehen, für immer gesehen.‘ Bodhidharma erwiderte: ‚Du hast mein Fleisch.‘ Doiku sagte: ‚…Meiner Meinung nach ist nichts die Wirklichkeit.‘ Bodhidharma kommentierte: ‚Du hast meine Knochen.‘ Schließlich verbeugte sich Eka vor dem Meister – und verharrte schweigend. Bodhidharma sagte: ‚Du hast mein Mark.‘…Hier sind Fragmente seiner Haut, seines Fleisches, seiner Knochen – aber nicht seines Marks, denn das war niemals in Worten zu finden.“

Lesen wir derlei Geschichten, dann sind wir vielleicht erstaunt, befremdet, vielleicht sogar abgeneigt. Doch das Staunen und das Befremden, selbst die Abneigung sind vermutlich kein zufälliger und schon nicht ein unerwünschter Nebeneffekt sondern der eigentliche Sinn dieser Geschichten. Gerade das Spielerische, Situative, Augenblickliche, das „Korporale“ einer zur Anschauung gebrachten Erkenntnis bestimmt die innere Substanz der Geschichten, bestimmt ihre Dramaturgie und legt ihre dramaturgischen Wendepunkte fest. Mir scheint hier eine Nähe zu existieren zu dem, was Böhler mit dem „performativen Akt“ andenkt. Zurück zur ersten Geschichte: Ist das Schlagen des Schürhakens ein intentionaler Akt oder ein performativer Akt? Performativ heißt kreativ darstellend, verkörpernd, veranschaulichend, heißt nicht kontrolliert. Ich erinnere, daß Böhler ausgeführt hat, daß mit einem kreativ-schöpferischen Prozeß eine „Entgleitung“ einhergehe. Es entgleitet der Körper, der sonst als Werkzeug unserer alltäglichen Intentionalität untersteht, er wird also gleichsam hergegeben, hingegeben, in den Prozeß, den Fluß, den „flow“ des Schaffens hineingeworfen. Soweit Böhler. Ob und wo der Körper wieder auftaucht, ob und an welches Ufer er gespült wird, das wissen wir freilich nicht. Was jedoch noch hinzuzufügen ist: Nicht bloß der Körper sondern der Mensch als Ganzer entgleitet sich selbst im schöpferischen Prozeß. Er selbst gibt sich her. Aber wie geht das? Wer gibt wen her? Und wer bekommt wen zurück, falls irgendwer irgendwas zurückbekommt? Und wo war derjenige, der weg war? Wo war derjenige, der zurückgeblieben war? Was bedeutet Wegsein? Ein inspirierender Rauschzustand? Eine Benommenheit? Lassen wir einen Künstler sprechen, keinen geringeren als den Bildhauer Auguste Rodin. "Die Inspiration! Hahaha! Das ist ein alte romantische Idee ohne Sinn und Verstand. Die Inspiration, das ist so eine Art von Blitzschlag, der plötzlich einen jungen Menschen von zwanzig Jahren dazu treibt, eine Figur aus dem Marmorblock herauszuhauen, ein Meisterwerk auf den ersten Anlauf zu schaffen, im Delirium seiner Phantasie! Das ist blödsinnig, um so mehr als man schlecht sieht, wenn man jung ist, man liebt die Arbeit nicht, weil man nicht zu arbeiten versteht. Alles, was man in der ersten Hitze bei großer Exaltation macht, muß man nachher zerstören."

Das Sich-Hergeben, die „Entgleitung“ ist wohl nüchterner als es vorerst den Anschein hat, sie verlangt vor allem Arbeit. Geht es also doch nur um Kontrolle? Rodin sagt uns ein wenig versteckt, was er von der Arbeit hält: Er liebt sie. Was aber ist die Liebe anderes als Hingabe und Entgleitung seiner selbst? Auch der Körper spielt eine besondere Rolle, wenn er im Zustand des Entglittenseins nicht mehr als Besitztum angesehen wird; er gleicht eher einem Musikinstrument, auf dem aber weder ein sich mit diesem Instrument identifizierendes „Ich“ noch ein ein distanziertes „Ich“ sondern „Es“ spielt. Einmal sagte eine professionelle Sängerin zu mir. „Es singt durch mich!“ In diesem erstaunlichen Satz ist auf zwei Dinge zu achten. 1. auf das Rufzeichen (denn dieses war durchaus in der Art und Weise, wie sie gesprochen hat, zu hören) 2. auf die seltsame Verdoppelung: es und mich Das Rufzeichen ist hier nicht bloß ein Satzzeichen. Es deutet vielmehr auf die große Gebärde des Staunens hin, die sich in diesem Ausruf offenbart. Die Sängerin ist erstaunt, was da mit ihr passiert ist, und DASS etwas mit ihr passiert ist, sodaß sie hernach sagt: „Es singt durch mich!“ Wer staunt über wen? Wer singt durch wen? Sind der oder das Singende identisch mit dem hernach Staunenden, Ausrufenden? Handelt es sich hier um eine ästhetisch wirkungsvolle Persönlichkeitsspaltung? Haben wir das Feld der Pathologie betreten? Oder ist es die Kunst? Tatsache ist, daß offenbar nur jene Künstler diesen Satz sagen können, die sehr hart gearbeitet haben, sich über Jahre hinweg strengster Disziplin, einer Methode und einer Kontrolle sowohl durch einen Lehrer als auch durch sich selbst, also allen jenen Elementen unterworfen haben, die eigentlich das Gegenteil von Kreativität zu sein scheinen, aber nur, um genau jene spielerische Leichtigkeit und schöpferische Freiheit zu erlangen, die wir an ihnen bewundern. Wie ist dieses Paradox zu verstehen? Ist es das grundsätzliche Paradox der Kunst? Spiel und Widerspiel zwischen hart erarbeiteter Form und schöpferischer Neuwerdung im Schaffensakt? Straffe Bindung und unendliche Freiheit? Wie oft muß ein Schauspieler seinen Text lesen, bis er so selbstverständlich klingt, daß wir gar nicht mehr hören, DASS er ihn überhaupt geübt hat. Wie oft muß eine Sängerin das Lied üben und sich an die Anweisungen und Empfehlungen ihres Lehrers erinnern: Laß dieses und jenes. Mach dieses und jenes? – Wenn sie sich nicht an die Anweisungen hält, dann wird ihre Stimme nicht so, wie sie sein soll; hält sie sich an die Anweisungen, dann kann sie „bemüht“ wirken, sofern sie sich noch mitten in einem bestimmten Lernprozeß befindet. Wo ist der Ausweg? Wie kommt es zu jener Lücke, aus der ein frei schwingendes Werk, ein „oeuvre“ – ein Lied, eine Rolle, ein Text – diesseits und jenseits der Form, ihr verpflichtet und dennoch frei von ihr, hervorgeht, ja hervorspringt, als würde Es von selbst geschehen, unserer Kontrolle entzogen? Die Übung, so scheint es, je übender sie vollzogen wird, desto eher streift sie sich selbst ab, bis es zu jenem Wendepunkt kommt: Nachdem die Sängerin sowohl Übung als auch Erübtes so verinnerlicht hat, daß sie Übung und Erübtes vergessen hat und als Vergessende sich selbst vergessen hat, singt plötzlich – und sie wird uns davon berichten – nicht mehr sie sondern Es. Es ereignet sich durch sie, nachdem sie sich jahrelang, jahrzehntelang bemüht und gequält, gehofft und gezweifelt hat. Es ereignet sich in diesem Augenblick, an diesem Ort – leibhaftig! Böhler hat davon gesprochen, daß das Subjekt im Akt der Kunst resigniert. Aber würde das Subjekt bloß resignieren, dann hätte es noch immer zuviel Anwesenheit im Akt des künstlerischen Schaffens, der künstlerischen Her- und Vorbringung, eben als Resignierendes. Insofern würde ich die Formulierung verschärfen: Das resignierende Subjekt weiß nicht einmal, daß es resigniert. Wie ein Fahrkartenkontrollor, der irgendwie nicht mitbekommen hat, daß die Straßenbahn längst ohne ihn fährt, und die Straßenbahn weiß auch nicht, daß sie ihren Kontrollor irgendwo stehen gelassen hat. Niemand vermißt ihn. Aber was hat es mit dem Es auf sich? Ich denke, gerade weil Es geschieht und nur geschieht, ist Es als das Geschehen selbst zu denken und nicht als etwas Dinghaftes, überpersönlich Personhaftes, das wir mittels künstlerischen Aktes „channeln“. Also nichts Esoterisches. Ich will Es einfach dabei belassen, daß Es möglicherweise gerade jenes Öffnende ist, von dem auch Böhler gesprochen hat. Das Ge-lücke also, das dem Künstler glückhaft ereilt, dem der Künstler dankt, dem der Liebhaber der Kunst nur noch staunend und freudig entgegenschweigen kann. Insofern „das Es“ (wir spüren das Problematische dieser Substantivform) das Geschehen und Ereignen des Offenen als Öffnendes durch den Künstler ist, braucht man sich auch nicht vor einer Verdoppelung der Persönlichkeit fürchten. Erstaunlich bleibt, daß das öffnend Offene vermittels der sich ihm ausgehändigten Sängerin tat-sächlich „zu singen“ imstande sein soll. Zurück zum Schürhaken. Warum hat die alte Frau die armen Zenschüler geschlagen? War sie beleidigt, weil man an ihrem Wissen zweifelte; oder war sich so zornig, daß sie das dringende Bedürfnis hatte, die Schüler ob ihres Zweifels zu bestrafen? Wohl nicht. Warum nicht? Was meiner Ansicht nach dagegenspricht, ist das tatsächliche Wissen der Frau, denn sie erkannte ja, wer wirklich Tee kaufen und wer sie bloß prüfen wollte. Dieses Wissen hat sie gehabt und gezeigt. Wissen-Haben und Wissen-Zeigen in einer Einheit, leibhaftig veranschaulicht, unter Beweis gestellt, bevor noch die Schüler fragen konnten und einen Beweis forderten. Ihre Fragen wurden somit beantwortet, ohne daß sie sie stellen mußten. Die Frau hat unter Beweis gestellt ohne bewiesen zu haben, ohne sich beweisen zu müssen, ohne unter Beweis gestellt worden zu sein. Sie hat im voraus Antwort gegeben. Sie hat geantwortet, ohne zu „antworten“. Sie war leibhaftige Antwort. Meine Vermutung, die sich aus dem Umkreis der Zen-Praxis und Zen-Philosophie nährt: Sie hat im Augenblick ihrer Erkenntnis, und die Erkenntnis war keine Feststellung, kein konstatierender Satz, zugeschlagen. Die Einheit von erkennendem Gedanken und Tat. Die Tat war der erkennende Gedanke. Eine lehrreiche „Performanz“, ohne zu lehren. Wir – als diejenigen, die im sicheren Hörsaal der Universität sitzen und unseren Tee aus noch sichereren Thermoskannen trinken, wissend, daß weder Herr Heinrich noch Herr Baldinger Schürhaken mit sich tragen, hoffen, daß die Zenschüler die Sache nicht persönlich genommen haben. Wenn nicht, dann haben sie den Schürhakenschlag begriffen. Ich komme zur Anfangsfrage zurück. Was ist jener Raum, in dem die Worte der Vorlesung widerhallen und nachhallen, derart, daß sie die Worte meines Textes auftönen ließen, zu denen ich im paradoxen Verhältnis stehe: einerseits als ihr Autor, andererseits als ihr Hörer? Wie bereits gesagt, nicht eine unverbindliche Laune hat mich hingesetzt, damit ich schreibe, sondern eine Art Notwendigkeit, die nur innerhalb eines zeitlichen Rahmens ihre Gültigkeit besitzt. Hätte ich diesen zeitlichen Rahmen überschritten, hätte ich statt zu arbeiten mir einen Film angesehen, dann wäre die Notwendigkeit, mich vor den Computer zu setzen und zu schreiben, verblaßt, der von mir vernommene Resonanz-Raum wäre auseinander gefallen bzw. in sich zusammengefallen, dieser Text wäre verstummt, bevor er noch seine Sprache bekommen hätte. So aber ist der von mir vernommene Resonanzraum, in den ich hineinspreche, erhalten geblieben, sich entfaltend als offener Dialograum, an dem jeder, der sich „angesprochen“ fühlt, Anteil nehmen kann. Die Grenze des Raumes, die es geben muß, da es sonst keinen Widerhall gibt, ist keine materielle Grenze wie der Hörsaal im Neuen Institutsgebäude, sondern ein Denkhorizont, in dem man sich im vorhinein befindet, bevor er als solcher sichtbar oder hörbar wird, und der dazu bestimmt ist, Manches „auftönen“ zu lassen, anderes jedoch zu verschweigen. Ich blicke auf den Prozeß des Schreibens zurück: Obwohl ich aufs Geratewohl losgeschrieben habe, mich umhorchend in diesem Resonanzraum, ohne Plan, ohne Ziel, ohne vorformulierte Antworten, bin ich auf Gedanken gestoßen, habe ich Dinge angesprochen, die mich schon seit langer Zeit nicht unberührt lassen, die mir vertraut geworden sind über die Jahre. Also nichts absolut Neues. Ich bin also nicht wie eine Jungfrau zu einem Kind gekommen. Und dennoch: Ich habe die Worte, die mir nicht unvertraut, zum ersten Mal ausgesprochen. Keine Formulierung war selbstverständlich. Jeder Satz war eine neue Entdeckung. Ist das wieder ein Paradox? Vertraut und doch fremd – der eigene Gedanke? Verhält es sich mit der Beziehung zu den eigenen Gedanken wie mit der Beziehung zu anderen Menschen? „Wir wissen so wenig, woher unser vertrautester Freund kommt, und wohin er geht, wie wir wissen, woher wir selbst kommen und wohin wir gehen. Wir haben keinerlei Kenntnis davon, wo der Mensch, der uns in diesem Augenblick vor Augen steht, in seinem Wesen bei sich selber ist. Er ist ursprünglich und wesenhaft für uns ein Unbekannter.“

Gelten diese Worte des japanischen Philosophen Keji Nishitani auch für die Beziehung zum eigenen Gedanken: daß er als unser vertrautester Freund uns dennoch ein Unbekannter bleibt? Verhält es sich vielleicht sogar wie in einer Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen: Je vertrauter, desto fremder wird der Nächste? Jedesmal neu machen wir uns auf den Weg zu ihm hin, und er wird uns unauschöpflicher mit jedem Mal. Es ist immerhin erstaunlich, daß ich einen vertrauten Gedanken je immer neu sagen kann, wenn er nicht bloß verfügbarer Gegenstand meines Wissens, Besitztum meines intellektuellen Haushalts ist, den ich jederzeit und bei Bedarf präsentieren kann: „Seht her, dies ist der Gegenstand meines Denkens, und so sieht er aus: Er ist gestreift oder gepunktet, eckig oder rund, rauh oder poliert, lackiert oder glasiert und so weiter und so fort. Nein, so ist es nicht. – Vielleicht hat das Je-immer-neu-sagen-Können eines vertrauten Gedanken ebenfalls mit der Performanz zu tun, von der Böhler gesprochen hat. So komme zu meinem Schlußwort, über dessen Vorläufigkeit ich mir natürlich bewußt bin. Der Text, den ich geschrieben und der Leser gelesen hat, ist kein unverrückbares Postulat, sondern das Ergebnis eines kreativen Prozesses, dem ich selbst gefolgt bin, und der mir gleichsam immer einen Schritt voraus war. Mein Text ist demnach eine Entgleitung. Was dabei herausgekommen ist, ich weiß es nicht, ob er geglückt ist, vielleicht, es spricht einiges dafür, jedenfalls geblieben ist die Erfahrung, daß es gut ist, sich einem kreativen Denkprozeß anzuvertrauen, dem weitere und tiefere Fragen folgen mögen. Selbst wenn am Ende ein Schürhaken auf dem Schädel landet: Er könnte jene entscheidende Performanz sein, die einen schonungslos erleuchtet.

Quellenverzeichnis 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Wissenschaft der Logik, Frankfurt/Main: Suhrkamp

2 Reps, Paul (1977): Ohne Worte – ohne Schweigen. 101 Zen-Geschichten und andere Zen-Texte aus vier Jahrtausenden, Bern/München/Wien: O. W. Barth Verlag (2. Auflage)

3 A.a.O.

4 Rodin, Auguste: unsichere Quelle, vermutlich: Über Kunst, Zürich: Diogenes 1987

5 Nishitani, Keiji (1982): Was ist Religion? Frankfurt/Main


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