Rückruf (AB)
Plotin, Wittgenstein und Badiou ist ein striktes Verbot der Grenzüberschreitung gemeinsam. Keine Fraternisierung mit dem Einen bzw. der Logik. Doch das ist nicht das letzte Wort. Es gibt verschiedene Annäherungsversuche:
- Die Ausgestaltung. Plotins Eines öffnet sich schließlich doch in eigentümlicher Selbstentfaltung zur Welt.
- Das Einhalten. Wittgenstein beendet seine Überlegungen, wo er nicht weiterkommt.
- Ein Rückruf. Badiou statuiert ein fait accompli und rekonstruiert von ihm aus eine spekulative Vorgeschichte, die ihm erlaubt, von dem Bereich zu sprechen, der entsprechend seiner Grenzziehung unzugänglich sein sollte.
Die nachträglich eingerichtete Protogenese des Ist-Zustandes hat den Zweck, die revolutionäre Schärfe des Sprechverbots auf der Grundlage besprechbarer Umstände zu umgehen. Wittgenstein hat es so formuliert:
- Die »Erfahrung«, die wir zum Verstehen der Logik brauchen, ist nicht die, dass sich etwas so und so verhält, sondern, dass etwas ist: aber das ist eben keine Erfahrung.
- Die Logik ist vor jeder Erfahrung - dass etwas so ist.
- Sie ist vor dem Wie, nicht vor dem Was.
- Und wenn dies nicht so wäre, wie könnten wir die Logik anwenden? Man könnte sagen: Wenn es eine Logik gäbe, auch wenn es keine Welt gäbe, wie könnte es dann eine Logik geben, da es eine Welt gibt? (Tractatus 5.552 - 5.5521)
Zwar müssen wir eine Barriere zwischen dem Ganzen der Welt und der Logik aufbauen. Das Eine ist nicht (in der Welt). Doch damit laufen wir Gefahr, die Logik gänzlich von der Welt abzukoppeln; dann ginge überhaupt die Problemstellung verloren. Wittgenstein antwortet mit einem double bind: Die Logik kann sich, auch wenn sie noch so erhaben ist, nicht von der Welt losmachen, denn es gibt die Welt. Hätte Gott es unterlassen können, die Welt zu schaffen? Nun, er hat sie geschaffen und darum ist er dran.
Blankes Sein
Die Stelle, an der "Das Eine" philosophisch auftritt, wird verschoben. Bei Plotin erhält es einen Platz im Vorbereich des Seins, bei Badiou im Seienden, als Operation. Zählen-als-Eins ist benachbart den Wittgensteinschen Vorgaben. Gegebenheiten werden in Sachverhalten miteinander in Verbindung gebracht:
- Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.
- Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.) (Tractatus 2 - 2.01)
Es ist zu fragen, was es in diesem Zusammenhang, also angesichts gegebener Verhältnisse, mit "dem Sein" auf sich hat. Badiou ist, was seine Einheit betrifft, konsequent. Nachdem er ihm die Einheit abgesprochen hat, kann er ihm keine Mannigfaltigkeit zusprechen. Beide Kategorien verfangen nicht. Gesagt werden kann bloß: Sein ist sich präsentieren. Es zeigt sich. Sonst noch etwas? Hier wäre Gelegenheit zum Einhalten. Alles, was präsentiert ist, kann die Souveränität des Sich-Präsentierens nur verdecken. Die Einheit/Vielheit-Dialektik geht verloren. Wenn das Sein vom Einheitszwang befreit ist, fällt auch die Gegenkategorie Vielheit weg. Das wäre das Ende des Kapitels "L'Un et le Multiple". Der Rückruf beginnt.
retroaktiv
Das Sein ist von Einheit und Vielheit unaffiziert geblieben. Nächster Schritt: eine Definition von "Situation" und Auftritt der Mannigfaltigkeit. Sie ist präsentiert, das kommt vom Sein. Aber wo kommt die Vielfalt her? Badiou erläutert, es hänge an den "die Bedingungen[1] der betreffenden Mannigfaltigkeit". Das erklärt ihren Auftritt nicht, er wird einfach angenommen. Die Statuierung einer Struktur durch ein Zählen-als-Eins impliziert eine Vielheit, die der Zählung korrespondiert. Die wechselseitige Abhängigkeit Vielheit/Einheit funktioniert nach dem Muster des Verhältnisses zwischen dem Definitionsbereich und dem Ergebnis einer mengenbildenden Operation. Das ist die Welt nach logischen Prinzipien, ohne dass nach dem Verhältnis der Logik per se zu ihrer Anwendung in der Welt gefragt wird. Doch sie muss auch ins Boot geholt werden.
Die Mannigfaltigkeit ist im Nachhinein zu verstehen als dem Eins-Zählen im Vorhinein vorausgesetzt. Zwei Deutungsmöglichkeiten zur Platzierung dieses Mannigfaltigen ergeben sich:
- im Zusammenhang mit der Operation, die eine Domäne braucht
- im Zusammenhang mit der Domäne, die ihre Elemente von irgendwo beziehen muss
Nach [1] können wir zählen und das heißt auch, dass es etwas zu zählen gibt. Wittgenstein: Die Welt besteht aus Sachverhalten, das impliziert, dass es die Dinge gibt, aus denen sie bestehen. So ergibt sich die Klammer Einheiten/Mannigfaltigkeit für alle Umstände der Welt.
Bleibt [2], d.h. die Frage, was man über das Verhältnis des blanken Seins, das weder Einheit, noch Vielheiten kennt, zu den Situationen, in denen es sich zeigt, sagen kann. Wittgensteins zurückhaltender Standpunkt wäre, dass man vom Umstand, dass etwas ist, nicht dazu übergehen kann, was ist. Badiou operiert anders. Er läßt die Frage zu, wie sich das Zählen-als-Eins, zusammen mit der darin implizierten Mannigfaltigkeit, auf das Verständnis des blanken Seins auswirkt. Dazu unterscheidet er konsistente von inkonsistenten Mannigfaltigkeiten (Näheres weiter unten). Das Instrument, dessen er sich dabei bedient, ist die methodologische Klammer der Vorzukunft. In dieser Ausdrucksform wird, vom Standpunkt der Gegenwart aus, ein Zustand angesprochen, der einmal eingetreten sein wird.[2] Praktischerweise bleibt dabei unbestimmt, ob das in die Zukunft verlegte Ereignis bereits stattgefunden hat, stattfindet, oder stattfinden wird:
- Die Publikation von "Sein und Ereignis" wird auch 2050 (bereits) stattgefunden haben.
- Der aktuelle Satz über Badiou wird veröffentlicht worden sein, sobald ich ihn gespeichert habe.
- Das Arbeitstreffen zu Badiou wird noch in diesem Jahr stattgefunden haben.
In dieser Konstruktion nimmt die Sprechende eine Position jenseits der Geschichte ein. Sie versöhnt die Brüche, welche sich im Normalfall zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auftun. Sie kann auch die Grenze überspielen, die das Verbot der Rede vom Sein-als-Einheit zwischen Enthaltsamkeit und Redseligkeit errichtet.
"Was als Eins gezählt worden sein wird, weil es nicht Eines gewesen ist, erweist sich als mannigfach."
Zu unterscheiden sind diese Argumentationsschritte:
- Auf den Definitionsbereich des Zählens, woraus immer er besteht, sind die Prädikate "eins" und "vielfältig" nicht anwendbar.
- Insbesondere besteht der Definitionsbereich nicht aus einzeln identifizierbaren Elementen.
- Jedoch lassen sich diese Elemente als Eins zählen.
- Da solche Einheiten "retroaktiv" Vielheit voraussetzen, ergibt sich Mannigfaltigkeit ex post als Eigenschaft des Definitionsbereiches.
- Das blanke Sein ist also, vom Standpunkt der nachträglichen Zählung-als-Eins aus gesehen, vielfältig: "die reine Vielfältigkeit" (pure multiple)
An diesem Gedankengang fallen zwei Punkte auf:
- Der Drehpunkt ist Zählen-als-Eins. Von dieser Operation aus wird argumentiert. Die Beschaffenheit des Definitionsbereiches kann diese Aktion nicht erklären: Wie wird man seiner Elemente habhaft?
- Mit der Einführung des gezählten Einen ist die Möglichkeit verbunden, vom vorhergehenden Vielen zu sprechen. Aber diese Möglichkeit tritt in zwei Varianten auf:
- Auf der Ebene der Mengenoperation kann aus Einem vielfältig Anderes entwickelt werden
- Oder die Vielfalt springt auf die Domäne der Operation der Einheitsbildung über. Sie besetzt sozusagen hinter dem Rücken des Einheitsverbotes jenen Bereich, der weder Eines noch Vieles kennt.
Badious vorzukünftige Perspektive läuft also darauf hinaus: Was weder eins noch vielfach ist, ist vielfach in dem Sinn, dass es nicht Eines ist, wohl aber von der Eins-Zählung her betrachtet werden kann. (Da bleibt nur "vielfach" übrig.).
- "Wir haben dem Pförtner den Befehl gegeben, nur Leute mit Einladungen hereinzulassen und rechnen nun darauf, dass dieser Mensch, der hereingelassen wurde, eine Einladung hat." (Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik V,50)
Wir zählen als Eins und rechnen nun darauf, dass wir damit Zählbares erfasst haben.