Platon für Aufsteiger (BD)

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Die Zitate sind aus Politeia 5.Buch, 474 passim

ganz begehrlich

"Werde ich dich erinnern müssen, sagte ich, oder erinnerst du dich selbst, daß derjenige, von dem wir sagen sollen, daß er etwas liebe, wofern das mit Recht von ihm ausgesagt wird, sich als solchen zeigen muß, der nicht bloß das eine an demselben liebt, das andere aber nicht, sondern das Ganze lieb hat!"

"... geziemt es sich nicht zu vergessen, daß den Freund der Knaben und der Liebe alle jugendlichen Gestalten irgendwie ermuntern und reizen"
"Siehst du nicht, daß die Liebhaber des Weins es ebenso machen, indem sie jeden Wein unter jedem Verwände lieb haben?"
"Und auch von den Ehrliebenden siehst du, denke ich, daß sie, wenn sie nicht eine Feldherrnstelle bekommen können, Steueraufseher werden, und falls sie nicht von Größeren und Bedeutenderen geehrt werden, mit der Achtung von Kleineren und Geringeren vorlieb nehmen, weil sie überhaupt nach Ehre begierig sind."

"So bejahe oder verneine denn folgendes: Wem wir Begierde nach etwas zuschreiben, wollen wir von dem sagen, daß er alle Arten desselben begehre, oder nur die eine, die andere aber nicht?

"Alle, erwiderte er. So werden wir also auch von dem Philosophen, dem Freunde der Weisheit sagen, daß er nicht einen Teil der Weisheit begehre, den anderen aber nicht, sondern die ganze?"

Zwei unabdingbare Voraussetzungen für die "Deduktion" der "höchsten Instanzen" (aka Ideen), auf welche Philosophinnen ausgerichtet sind:

  • eine bestimmte Triebstruktur: Begehren, Wunscherfüllung, Ehrgeiz
  • ein Moment der Totalisierung: nicht dieses und jenes, sondern "auf's Ganze gehen"

schaulustig

"Den aber, der willig von jedem Lerngegenstand kosten mag und gern ans Lernen geht und darin unersättlich ist, diesen werden wir mit Recht einen Freund der Weisheit, einen Philosophen nennen, nicht wahr?

Da sagte Glaukon: Du wirst viele und wunderliche Leute dieser Art bekommen, denn die Schaulustigen alle scheinen mir von dieser Art zu sein, sofern sie am Kennenlernen Freude haben, und die Hörlustigen nehmen sich, unter die Freunde der Weisheit gerechnet, höchst wunderlich aus, sofern sie zwar zu wissenschaftlichen Gesprächen und derartiger Beschäftigung von selber nicht wohl Lust hätten zu kommen, dagegen, als hätten sie ihre Ohren verdungen, alle Chorgesänge zu hören, bei den Dionysosfesten herumlaufen und weder bei den städtischen noch bei den ländlichen fehlen. Werden wir nun diese alle und andere, die nach etwas dieser Art lernbegierig sind, und die, welche es in bezug auf die kleinen Künste sind Weisheitsfreunde nennen?"

Das Streben nach schönen Knaben und gutem Wein ist einigermaßen wohldefiniert. Das Streben nach Einsicht ist formal analog konstruiert, aber inhaltlich noch offen. Das ist eben die Frage: was wird von philo-sophen angestrebt? Platon stellt die Frage so: Was unterscheidet die Philosophinnen von den Neugierigen? Hier setzt die Totalisierung ein: Philosophinnen streben schlicht und einfach nach der Einsicht. "Ich will nicht irgendeine Antwort, sondern die Antwort."


eins, zwei, viele

"Welche nennst du aber die Wahren? fragte er.

Diejenigen, erwiderte ich, welche die Wahrheit zu schauen begierig sind.

Das wäre schon recht, versetzte er, aber wie verstehst du das?

Keineswegs leicht für einen andern, war meine Antwort, du aber wirst mir, glaube ich, folgendes zugeben.

Was denn?

Daß Schön und Häßlich, weil sie einander entgegengesetzt sind, zwei seien.

Natürlich.

Und da sie zwei sind, so ist auch jedes von beiden eines?

Auch dies.

Und von dem Gerechten und Ungerechten und dem Guten und Schlechten und von allen Begriffen gilt dasselbe, daß jeder für sich eins ist, aber dadurch, daß er infolge der Mitteilung an Handlungen und Körpern und anderen Begriffen überall zur Erscheinung kommt, jeder viele zu sein scheint?

καὶ περὶ δὴ δικαίου καὶ ἀδίκου καὶ ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ καὶ πάντων τῶν εἰδῶν πέρι ὁ αὐτὸς λόγος, αὐτὸ μὲν ἓν ἕκαστον εἶναι, τῇ δὲ τῶν πράξεων καὶ σωμάτων καὶ ἀλλήλων κοινωνίᾳ πανταχοῦ φανταζόμενα πολλὰ φαίνεσθαι ἕκαστον.

Du hast recht, sagte er."

In dieser Passage sind die zentralen Voraussetzungen der Ideenlehre und der damit verbundenen Pädagogik in nuce enthalten. Plato ruft einige grammatische Gepflogenheiten in Erinnerung und macht aus ihnen eine hochwirksame hierarchische Organisation.

Es geht um die Auszeichnung des Wahren. Um sie zu begründen bedient sich Platon der Zweiwertigkeit. Das ist keine Naturkategorie. "Tag/Nacht", "männlich/weiblich", "oben/unten" kommen in der Natur nicht als klar definierte Oppositionspaare vor. Diese Dualismen gehören zur menschlichen Weltverarbeitung und insbesondere zur Sprachausstattung. Sätze über das Schöne und Häßliche sind einander entsprechend entgegengesetzt. Ein Bild, ein Musikstück, ein Roman tragen die Schönheit/Häßlichkeit nicht in sich, sondern sie erhalten sie zugesprochen.

Wir benötigen Sätze, um die genannten Gegensatzpaare zu artikulieren. Und Sätze unterliegen ihrerseits einem elementaren Dualismus: sie sind wahr oder falsch. Das unterscheidet sie von Namen, Prädikaten oder Attributen. Dieser Dualismus ist eine zentrale Vorgabe der griechischen Philosophie. Im Hintergrund von Platons Ausfürhungen steht Parmenides: wählte zwischen dem Weg des Seins oder des Nicht-Seins.

Die Bemerkungen über das Eine und das Zweifache sind inhaltlich, im Blick auf die Begriffe "Schönheit", "Gerechtigkeit" etc. formuliert. Aber die "technische" Grundlage dieser Überlegung ist die Zweiwertigkeit des Satzgebrauches. Von dieser Platon-Stelle führt eine direkte Linie zu Freges Wahrheitsfunktionalität.

Und nun die zweite wesentliche Vorgabe. Der wahrheitsfunktionale Satz als Instrument ergibt das Eine und/oder das Andere. Aber damit bleibt offen, was gesagt ist. Das Prinzip der Behauptung und Gegenbehauptung enthält keinen Hinweis darauf, dass sich diese Sprechakte auf Inhalte beziehen. Wie kommen die ins Spiel? Sie können nicht aus dem wahr/falsch herausgedröselt werden. (Hegels "Logik" hat das auf genialische Weise versucht.) Platon sagt, dass sie daher kommen, dass Mitteilung materialisiert sein müssen: an Handlungen und Körpern". Das ist der Grundstein zur Lehre von der "metexis", der Teilhabe der Welt an den Ideen.

Die beiden Faktoren sind untrennbar verbunden. Wenn es in einem Satz nicht um etwas geht, hat es auch keinen Sinn, ihn zu behaupten. Und wenn ein Inhalt nicht dem Urteil unterzogen wird, fehlt ihm die Satzfunktion. Ein "end user license agreement" stellt einen Vertrag dar, den Benutzerinnen akzeptieren müssen. Es besteht aus einem (meist langen) Textanteil und einer Klickbox. Die beiden Bestandteile sind konzeptuell und praktisch unterscheidbar, aber der beabsichtigte Effekt besteht darin, dass beide zusammenspielen.

Platon arrangiert diesen untrennbaren Zusammenhang so, dass er eine Abstufung zwischen Eins/Zwei und Viele einrichtet. So etwas kann sehr unterschiedlich funktionieren. Im Supermarkt wird es gewöhlich positiv vermerkt, dass es viele verschiedene Weine gibt und nicht nur einen Weiß- und einen Rotwein. Wegweisend für die europäische Denktradition macht Platon aus dieser Abstufung einen Qualitätsunterschied.

natürlich selten

"Hiernach also, fuhr ich fort, unterscheide ich einerseits die soeben von dir genannten Schaulustigen und Kunstliebenden und aufs Handeln Gerichteten, und andererseits dann die, von denen die Rede ist, die allein man mit Recht Weisheitsfreunde nennt.

Wie meinst du das? fragte er.

Die Hörbegierigen und Schaulustigen, antwortete ich, haben doch wohl ihre Freude an den schönen Stimmen und Farben und Gestalten und allem, was aus dergleichen gearbeitet wird, vom Schönen selbst aber ist ihr Sinn unfähig das Wesen zu schauen und seiner sich zu freuen.

So verhält es sich allerdings, erwiderte er.

Die aber, die imstande sind, dem Schönen selbst sich zuzukehren und es für sich zu schauen, sind diese nicht selten?

Allerdings."

Die Schlussfolgerung aus Platons Konstruktion ist zu einer Formel ausgemünzt, die für das Selbstverständnis der Philosophie hochwirksam geworden ist: die einen streben nach den vielen schönen "Stimmen und Farben", die anderen "nach dem Schönen selbst". Worin besteht das? Nach den vorangegangenen Überlegungen hat es keinen materialen Inhalt. Es ist gleichsam ein spin-off der wahrheitsfunktionalen Satzverwendung.

traumhaft?

Wer nun zwar schöne Dinge annimmt, die Schönheit selbst aber weder annimmt noch auch, wenn ihn einer zu ihrer Erkenntnis hinleiten will, zu folgen imstande ist, glaubst du, daß der ein Traumleben führt oder ein wachendes? Zieh aber in Erwägung: Ist Träumen nicht das, wenn jemand schlafend oder wachend das einer Sache Ähnliche nicht für etwas Ähnliches hält, sondern für die Sache selbst, der es gleicht?

ὁ οὖν καλὰ μὲν πράγματα νομίζων, αὐτὸ δὲ κάλλος μήτε νομίζων μήτε, ἄν τις ἡγῆται ἐπὶ τὴν γνῶσιν αὐτοῦ, δυνάμενος ἕπεσθαι, ὄναρ ἢ ὕπαρ δοκεῖ σοι ζῆν; σκόπει δέ. τὸ ὀνειρώττειν ἆρα οὐ τόδε ἐστίν, ἐάντε ἐν ὕπνῳ τις ἐάντ᾽ ἐγρηγορὼς τὸ ὅμοιόν τῳ μὴ ὅμοιον ἀλλ᾽ αὐτὸ ἡγῆται εἶναι ᾧ ἔοικεν;

Ich wenigstens, versetzte er, möchte von einem solchen sagen, daß er träume.

Wie aber? Derjenige, der im Gegensatz hierzu das Schöne selbst für etwas hält und imstande ist, sowohl es selbst zu schauen als das an ihm Teilhabende, und der weder das Teilhabende für es selbst noch es selbst für das Teilhabende hält, scheint dir andererseits auch ein solcher ein Traumleben zu führen oder ein wachendes?

τί δέ; ὁ τἀναντία τούτων ἡγούμενός τέ τι αὐτὸ καλὸν καὶ δυνάμενος καθορᾶν καὶ αὐτὸ καὶ τὰ ἐκείνου μετέχοντα, καὶ οὔτε τὰ μετέχοντα αὐτὸ οὔτε αὐτὸ τὰ μετέχοντα ἡγούμενος, ὕπαρ ἢ ὄναρ αὖ καὶ οὗτος δοκεῖ σοι ζῆν;

Gar sehr ein wachendes, antwortete er.

Das Denken des einen nun, als eines Erkennenden, werden wir mit Recht als Erkenntnis bezeichnen, das des andern aber, als das eines nur Meinenden, als Meinung?

οὐκοῦν τούτου μὲν τὴν διάνοιαν ὡς γιγνώσκοντος γνώμην ἂν ὀρθῶς φαῖμεν εἶναι, τοῦ δὲ δόξαν ὡς δοξάζοντος;

Nicht nur schöne Dinge sind zu sehen, sondern auch das Schöne selbst. Allerdings nur für bestimmte Personen, die Einsichtigen im Gegensatz zu den Vertretern der "doxa".

Es handelt sich um eine auffällige sprachliche Wendung. Als Vorbild könnte man nehmen: "Die Schwimmerin hatte einige Erfolge." -- "Sie hatte Erfolg." Oder: "Hast Du einige Minuten?" -- "Hast Du Zeit." Das Problem ist allerdings, dass sich mit Platons Formulierung eine drastische Einteilung der Bevölkerung verbindet. Man möchte wissen, was dahinter steckt. Damit fällt das Gewicht der sozialen Ungleichheit auf die Redewendung "das Schöne sehen". (Vergleiche: "Mir ist ein Licht aufgegangen.")

Freunde der

Von denjenigen also, die vieles Schöne wahrnehmen, das Schöne selbst aber nicht sehen, noch auch einem andern, der sie dazu führt, imstande sind zu folgen, und ebenso vieles Gerechte, das Gerechte selbst aber nicht, und so alles, von diesen werden wir sagen, daß sie alles meinen, aber nichts von dem, was sie meinen, erkennen.

τοὺς ἄρα πολλὰ καλὰ θεωμένους, αὐτὸ δὲ τὸ καλὸν μὴ ὁρῶντας μηδ᾽ ἄλλῳ ἐπ᾽ αὐτὸ ἄγοντι δυναμένους ἕπεσθαι, καὶ πολλὰ δίκαια, αὐτὸ δὲ τὸ δίκαιον μή, καὶ πάντα οὕτω, δοξάζειν φήσομεν ἅπαντα, γιγνώσκειν δὲ ὧν δοξάζουσιν οὐδέν.

Notwendig, versetzte er.

Was aber andererseits von denen, die jedes an sich betrachten und was immer auf dieselbe Weise gleichmäßig ist? Nicht, daß sie erkennen, aber nicht meinen?

τί δὲ αὖ τοὺς αὐτὰ ἕκαστα θεωμένους καὶ ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ὄντα; ἆρ᾽ οὐ γιγνώσκειν ἀλλ᾽ οὐ δοξάζειν;

Notwendig auch dies.

Also auch Wohlgefallen und Liebe, werden wir sagen, haben diese für das, wozu Erkenntnis gehört, jene aber nur für das, wozu Meinung gehört? Oder erinnern wir uns nicht, daß wir von diesen gesagt haben, sie lieben und betrachten die schönen Stimmen und Farben und dergleichen, das Schöne selbst aber lassen sie nicht einmal als etwas Seiendes gelten?

Wir erinnern uns.

Werden wir also wohl fehlgreifen, wenn wir sie eher Freunde der Meinung als Freunde der Weisheit nennen, und werden sie uns sehr zürnen, wenn wir so sprechen?

Wie werden die Schaulustigen zum "Schönen" geführt? Das ist im Dualismus Spektakel/Feststellung nicht expliziert. Es ist das Thema der Bildung. Das Problem kann durch eine Interpretation von Wittgensteins "Tractatus Logico-Philosophicus" verdeutlicht werden.


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