"Beiträge aus Applied Ethics. Critical Concepts in Philosophy"

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Nora Kirchmayr über einen Text von Ruth Chadwick und Doris Schroeder



Die hier vorgestellten vier Beiträge stammen allesamt aus dem vierten Band Environment der 2002 von Ruth Chadwick und Doris Schroeder herausgegebenen Sammelkollektion Applied Ethics. Critical Concepts in Philosophy. Sie beschäftigen sich zum einen mit der Umwelt im „klassischen“ Verständnis der natürlichen Umwelt von Tieren, Pflanzen etc., und zum anderen mit dem weit weniger verbreiteten Verständnis von Umwelt als gebauter, konstruierter, nicht-natürlicher Umwelt, d.h. mit dem Lebensraum der Menschen, der heutzutage oftmals aus den Häusern und Straßen in einer Stadt besteht. Die Aufmerksamkeit der Autoren gilt vor allem der Begründung von umweltethischem Verhalten. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Standpunkte der Autoren dargelegt sowie in ihren teils gegensätzlichen Positionen konterkariert werden.

Der britische Moralphilosoph Richard M. Hare beschäftigt sich in seinem Artikel „Moral Reasoning about the Environment“ aus dem Jahre 1987 analytisch-schrittweise mit der Frage, welche Entitäten in umweltethische Überlegungen einzubeziehen sind. Seine Ausführungen sind dabei nicht nur erhellend, sondern beinhalten durchaus auch kontroverse Standpunkte. Ausgehend davon, dass umweltethische Überlegungen stets um einen Interessensausgleich bemüht sind, geht Hare der Frage nach, welche Interessen überhaupt in Betracht zu ziehen und in weiterer Folge einem für alle akzeptablen Ausgleich zuzuführen sind.

Aufgrund der moralischen Dimension umweltethischer Problemstellungen kann es nach Hare in umweltethischen Überlegungen nur um moralisch relevante Interessen gehen. Moralisch relevante Interessen zu haben bedeutet bei Hare Wünsche (über die Erfüllung der eigenen Interessen) zu hegen und Bedauern (bei der Nicht-Erfüllung der eigenen Interessen) zu empfinden, bzw. zumindest potentiell derartige Wünsche und Bedauern zu entwickeln. Das entscheidende Kriterium sei das Empfinden von Wünschen und Bedauern, was bewusste Erfahrungen voraus setzt. Mit dieser Definition schränkt Hare den Kreis der in umweltethischen Belangen zu berücksichtigenden Entitäten zunächst auf fühlende („sentient“) Lebewesen ein. Nur solche Lebewesen können Interessen haben und im umweltethischen Diskurs Berücksichtigung finden. Wenngleich für Hare klar ist, dass damit Pflanzen und niedere Tiere ausgeschlossen sind, ist für ihn die definitive Grenze zwischen „fühlenden“ und „nicht-fühlenden“ Lebewesen keineswegs klar gezogen. Eine weitere Problematik, die sich unmittelbar aus dieser Interessensdefinition ergibt, betrifft zukünftige Generationen. Denn wie soll mit Interessen umgegangen werden, die empirisch nicht nachweisbar sind, die also keinem existierenden Individuum zugeordnet werden können? Diese Frage bleibt bei Hare allerdings offen.

In einem nächsten Schritt erweitert Hare nun seine Konzeption von „Interessen“ und schwächt die harsche Ausschließung von Pflanzen und niederen Tieren in gewisser Weise wieder ab. Mit der Einführung der Relation der „Wertschätzung“ (B ist für A von Wert, daher hat A ein Interesse daran, dass B existiert) unterscheidet Hare drei Klassen von Entitäten. Die Klasse „Alpha“ umfasst Entitäten, die Wert haben, weil sie sich selbst wertschätzen. Dies gilt für die meisten Menschen und nach Hare vermutlich auch für höhere Tiere. Entitäten der Klasse „Beta“ haben Wert, weil sie von anderen Entitäten wertgeschätzt werden. Sie können sich selbst aber nicht wertschätzen. Diese Klasse umfasst beispielsweise Seen oder andere Naturerscheinungen, an denen sich Leute erfreuen und die für diese Leute von Wert sind. Entitäten der Klasse „Gamma“ schließlich haben für andere Entitäten instrumentellen Wert, wie etwa Getreide und andere Rohstoffe. Entitäten aber, die von nichts und niemandem wertgeschätzt werden, können, so Hare, auch keinen Wert haben.

Während nun also bei Hare Beta- und Gamma-Entitäten weiterhin keinen direkten Eingang in den umweltethischen Diskurs finden, ist mit dem Konzept der Wertschätzung eine indirekte Inklusionsmöglichkeit geschaffen. Die Interessensberücksichtigung gilt weiterhin ausschließlich gegenüber fühlenden Wesen, kann aber über eine Wertschätzungsrelation auch Entitäten wie Bäume umfassen. Denn wenn ein Mensch etwa die Existenz von Bäumen entweder in sich oder instrumentell wertschätzt, so sind die Interessen dieses Menschen verletzt, wenn Bäume gefällt werden. Hare zufolge machen Umweltschützer allerdings oft den Fehler, Beta-Entitäten als Alpha-Entitäten auszugeben, ihre eigene Wertschätzung der Natur also mit einer in-sich-selbst-Wertschätzung der Natur zu verwechseln.

Hare schlägt nun im tatsächlichen Abwägen von Interessen ein Vorgehen nach der „Goldenen Regel“ vor: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu!“ Entscheidend ist, dass dieses Abwägen stets im Modus des jeweils betroffenen Lebewesens zu erfolgen hat. Es bleibt daher widersinnig etwa nach der Interessensabwägung Bäume betreffend zu fragen. Denn als Baum habe ich keine Empfindungen, folglich kann auch nicht von zugefügtem Leid die Rede sein. Bäumen fehlt die Ausstattung zum Denken, es kann ihnen nur egal sein, ob sie vergiftet oder abgeschnitten werden.

Gegen Hare ist an dieser Stelle einzuwenden, dass ein Hineinversetzen in andere Lebewesen und damit auch Lebensformen keinesfalls ohne weiteres möglich ist. Es ist alles andere als eindeutig, wie eine Kuh ihre Welt erlebt und ihre eigene Situation deutet (ebenso fraglich ist wohl, ob sie all dies überhaupt tut). Drastisch ist das bereits bei Ludwig Wittgenstein formuliert: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“ (1988: 568, Anmerkung XI).

Um in einem letzten Schritt seine Überlegungen zu einem fairen Interessensausgleich im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung mit Berücksichtigung von Wertschätzungsrelationen praktisch zu verdeutlichen, zieht Hare das Beispiel des Straßenbaus heran. Ob und wo neue Straßen gebaut werden sollen, ist ein anschauliches Beispiel für das Abwägen umweltethischer oder moralisch relevanter Interessen. Während Hare zunächst erläutert, dass in einem ersten Schritt jene moralisch relevanten Interessen ermittelt werden müssen, die durch den geplanten Straßenbau tangiert werden, um diese dann unparteiisch gegeneinander abzuwägen, mutet die darauffolgende Beschreibung dieser Interessen äußerst seltsam an. Hare argumentiert, dass die meisten Leute, würde die Straße nicht gebaut, den geplanten Weg gar nicht zurücklegen würden und dadurch Dinge nicht tun könnten, die sie gerne tun würden. Dies stellt für Hare sodann eine größere Interessensverletzung dar, als die Beeinträchtigung des ästhetischen Wohlbefindens eines Bewohners in unmittelbarer Nähe der neuen Straße.

Genau an dieser Stelle des praktischen, im Endeffekt doch recht einseitig dargelegten Beispiels, setzt der zweite, 1988 erschienene Beitrag ein. Donald Hill zählt in seinem Artikel „On Reasoning Morally about the Environment. Response to R.M. Hare” eine Vielzahl anderer Interessen auf, die durch einen Straßenbau geschädigt werden können. Unter dem prinzipiellen Interesse fühlender Lebewesen an Gesundheit subsumiert Donald das Interesse nicht umgebracht zu werden, das Interesse klare Luft zu atmen, das Interesse sich frei bewegen zu können etc. Obwohl er dem Artikel Hares grundsätzlich positiv gegenübersteht, sieht er in diesem einseitig präsentierten Beispiel seine größte Schwäche.

Sowohl bei Hare als auch – implizit – bei Donald geht es also, um die Leitfragen hier noch einmal zusammenfassend zu beantworten, um das Schützen einer Umwelt, die durch die Interessen fühlender Lebewesen artikuliert werden kann. Im Konkreten ist anhand der „Goldenen Regel“ ein Interessensausgleich zu suchen, der über Wertschätzungsrelationen auch nicht-fühlende Elemente der natürlichen Umwelt, wie Berge, Seen, Felder und Bäume umfassen kann. Diese Auffassung von Umweltethik basiert letztlich auf dem spezifischen Verständnis von moralisch relevanten Interessen, die in den ethischen Diskurs um die Umwelt einzufließen haben.

Gegensätzlich zu dieser Position ist der im Jahre 2000 von Roger J. H. King erschienene Artikel „Environmental Ethics and the Built Environment“ zu werten. Darin möchte King für eine genauere Betrachtung der konstruierten Lebensräume des Menschen im Rahmen der Umweltethik argumentieren. Es geht ihm nicht so sehr darum, dass öffentliche Räume und Stadtgebilde in sich schützenswert sind, sondern dass diese ganz fundamental in umweltethische Überlegungen zu integrieren sind. Die zugrunde liegende Argumentation besagt im Wesentlichen, dass das unmittelbare Lebensumfeld des Menschen einen entscheidenden Einfluss darauf hat wie dieser die Umwelt wahrnimmt, ob er sie also als schützenswert einschätzt oder nicht. Zum einen soll daher eine intensive Beschäftigung mit den gebauten Lebensräumen des Menschen eine umweltfreundliche Kultur, und zum anderen eine umweltfreundliche Architektur, ein Gestalten der Lebensräume im Einklang mit der Natur, fördern. King liefert bereits vorab eine recht einleuchtende Begründung für die Beschäftigung mit der vom Menschen gebauten Umwelt: Die Dichotomie von Mensch und Umwelt, von Mensch und Natur, ist ein festgefahrener, aber im Endeffekt nutzloser Mythos. Denn das Narrativ der Menschen als Störenfriede in einem ursprünglich nicht-menschlich ablaufenden Prozess führt letztlich nur zur Tragödie sowohl für Mensch als auch Tier. Dieses Narrativ muss also umgeschrieben werden, um eine ökologische Lebensweise plausibel und durchhaltefähig zu machen.

Um sein Anliegen zu unterstützen greift King zunächst auf den Pragmatismus von Justus Buchler zurück. Dieser macht in der Gestaltung und Bauweise der uns umgebenden Umwelt ein „exhibitives“ Urteil fest, das unsere Einstellungen und Sichtweisen der Welt exponiert. Die „Gerichtetheit“, die sich in der Pluralität exhibitiver Urteile manifestiert, muss dabei erst erkannt werden, um sie zu ändern und auf einen umweltfreundlichen Pfad zu bringen. Entscheidend für Buchler ist, dass eine Umgestaltung der natürlichen Materialien durch den Menschen dessen Einstellung zu diesen Materialen reflektiert und zugleich auf seine zukünftige, moralische Einstellung der Umwelt gegenüber zurückwirkt.

Im nächsten Schritt präsentiert King eine phänomenologische Begründung für eine Berücksichtigung der gebauten, konstruierten Umwelt in der Umweltethik. Ausgehend von der phänomenologischen Grundthese, dass wir immer schon in der Welt sind und uns nur über ein Weltverständnis selbst begreifen können, wird die Bedeutung der gebauten Umwelt klar. Über die uns unmittelbar umgebende, gebaute Umwelt konstruieren wir unser Selbstverständnis. Da das, was sich tagtäglich in den städtischen Lebensräumen präsentiert, wenig Platz für Natur lässt, begreifen wir uns selbst nicht mehr als in die Natur eingebettet. Wir müssen daher, so die weitere Argumentation, Wege finden um unsere „mechanisierte“ Umgebung zu revidieren und zu verändern; die Erfahrungsberührungen mit der nicht-menschlichen Natur müssen bewusst gestaltet werden, um ein anderes Welt- und Selbstverständnis zu generieren, stets mit dem Ziel einer umweltfreundlichen Kultur vor Augen.

Als dritte, Position führt King den Zusammenhang zwischen technologischen und sozialen Entscheidungen an. Demnach ist neue Technologie, neue Architektur, nicht bloß eine objektive Größe in der Welt, sondern eröffnet und verschließt zugleich zukünftige Chancen. In der vierten und letzten von King herangezogenen Position wird auf die Sozialität der Natur aufmerksam gemacht. Die Natur kann nicht als extern existierende Größe aus dem Nichts betrachtet werden, sondern muss stets als in den menschlichen Horizont eingebettet betrachtet werden.

Wenngleich hier also mit all diesen unterstützenden Positionen für eine Reflexion der gebauten Umwelt plädiert wird, ist dies nicht völlig konträr zu den Ansichten Hares. Die gebaute Umwelt wird schließlich nicht als in sich schützenswert präsentiert, sondern lediglich ihre Bedeutung für das Umwelt- und Selbstverständnis der Menschen wird herausgestrichen.

Anders ist die Lage im letzten hier zu behandelnden Artikel, der ebenfalls der gebauten Umwelt gewidmet ist. 1994 plädierte Avner De-Shalit in seinem Artikel „Urban Preservation and the Judgement of Solomon“ dezidiert für Erhaltung und Schutz städtischer Umgebungen. Als Fallbeispiel für sein Anliegen dient De-Shalit Jerusalem, das sich aufgrund massiver Zuwanderung gezwungen sah ältere Stadteile durch neue Bauten, Straßen und Infrastruktur zu ersetzen. Diese Entwicklungen möchte De-Shalit nicht gutheißen und bringt in Folge einige mögliche Begründungsmodelle für eine Erhaltung und Wahrung kulturell wertvoller Stadtgebiete, die er jedoch alle für problematisch hält. So wird von ihm etwa die Möglichkeit eines intrinsisch moralischen Werts von Gebäuden angesprochen, aber auch eine Form des Kosmopolitismus wird angeschnitten. Des weiteren werden das Modell des Rawls’schen Schleiers des Nichtwissens, sowie das Problem zukünftiger Generationen und die Begründung von Pflichten dieser gegenüber besprochen. Schlussendlich bemüht sich De-Shalit um ein eigenes Begründungsmodell abseits des bereits Bekannten. Im Rekurs auf die Bibelgeschichte des Urteils des weisen Salomon setzt De-Shalit die Bewohner einer Stadt mit der echten Mutter der Bibelgeschichte gleich. Die „echten“, genuinen Bewohner einer schönen Stadt müssen (in einem moralischen Sinne) um die Bewahrung ihrer schönen Stadt besorgt sein, so wie die echte Mutter vor König Salomon um die „Bewahrung“ ihres Babys besorgt war. Sind sie es nicht, so sind sie selbstsüchtig und moralisch degeneriert. Im Zentrum der Argumentation steht die Behauptung, dass (dem Fallbeispiel entsprechend) die Schönheit Jerusalems zum „Guten der Welt“ gehört und daher bewahrt werden muss. In diesem letzten Artikel wird der gebauten Umwelt also schließlich doch in gewisser Weise ein intrinsischer, moralisch guter Wert zugesprochen.

Wenngleich die in diesem Abschnitt präsentierten Positionen durchaus divergieren, ist dennoch ein spannender Bogen von einer Sorge um die natürliche Umwelt hin zu einer Sorge oder zumindest Reflexion über die gebaute Umwelt gespannt und sollte, so hofft die Autorin, Anregungen zu eigenen Überlegungen liefern.


Literatur:


Avner De-Shalit, "Urban Preservation and the Judgement of Solomon", Journal of Applied Philosophy, 11 (1) (1994), S. 3-13.

Richard M. Hare, "Moral Reasoning about the Environment", Journal of Applied Philosophy, 4 (1) (1987), S. 3-14.

Donald Hill, "On Reasoning Morally about the Environment. Response to R.M. Hare", Journal of Applied Philosophy, 5 (1) (1988), S. 101-05.

Roger J. H. King, "Environmental Ethics and the Built Environment", Environmental Ethics, 22 (2) (2000), S. 115-31.

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, (Hg. v. Gertrude E. Anscombe, Georg H. v. Wright u. Rush Rhees, Werkausgabe Bd. 1., Frankfurt am Main, Suhrkamp, 41988).