Matthias Vogel: Diskussion: Gehirne im Kontext

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06/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie

Folgenden Absatz aus Singers Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung wird von Vogel kritisch kommentiert:

„Die Aufklärung der neuronalen Grundlagen höherer kognitiver Leistungen ist mit epistemischen Problemen behaftet. Eines folgt aus der Zirkularität des Unterfangens, da Explanadum und Explanans eins sind. Das Erklärende, unser Gehirn, setzt seine eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen, und wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann.“

Vogel meint dazu folgendes im Zusammenhang mit Unklarheiten und Verständnisschwierigkeiten zwischen Hirnforschern und Philosophen:

„Inwiefern liegt hier eine – womöglich vitiöse – Zirkularität vor? Inwiefern gibt es eine Identität zwischen Explanandum und Explanans? Eine problematische explanative Zirkularität läge vor, wenn eine Erklärung das zu Erklärende als gültig Erklärtes voraussetzt, aber diese Beziehung besteht zwischen dem Explanandum höherer kognitiver Leistungen und dem Explanans einer Theorie neuronaler Prozesse nicht, denn die Erklärung höherer kognitiver Leistungen durch neuronale Prozesse setzt nicht voraus, dass wir diese Erklärung bereits akzeptieren müssen, um uns der explanativen Aufgabe stellen zu können. Das Explanandum kognitiver Leistungen ist aber auch nicht identisch mit dem Explanans, weil das zu erklärende Phänomen nicht identisch ist mit einer Theorie – oder einer Menge wahrer Sätze – über neuronale Prozesse. Und schließlich, inwiefern sollte es mit Blick auf die Erklärung höherer kognitiver Leistungen ein spezifisches Erkenntnisproblem geben? Weil wir, wenn wir unsere kognitiven Fähigkeiten erklären wollen, uns unserer kognitiven Fähigkeiten bedienen müssen? Haben denn Lebewesen, weil sie leben, ein spezifisches Problem, das Phänomen des Lebens zu verstehen? Oder weniger polemisch und etwas genauer: Stellt es ein spezifisches epistemisches Problem dar, dass das Geben von Erklärungen, die die Realisierung höherer kognitiver Leistungen durch das Vorliegen neuronaler Prozesse erläutern, gemäß ebendiesen Erklärungen selbst durch neuronale Prozesse realisiert werden muss? Ich glaube, kaum. Natürlich ist unsicher, ob unsere Erklärungsversuche erfolgreich sein werden, aber das gilt für nahezu jede Erklärung in nahezu jedem Kontext.“


Roth schlägt eine begriffliche Differenzierung vor, um den Satz „das Gehirn entscheidet“ (und nicht die Person) rechtfertigen zu können:

„Dieser Differenzierung zufolge gibt es a) mentale Ausdrücke, die auf der Grundlage von Verhaltenskriterien zugeschrieben werden und somit den gleichen Zuschreibungsbedingungen unterliegen, wie Ausdrücke, mit deren Hilfe das Verhalten des Gehirns beschrieben werden kann. Zu diesen Ausdrücken gehört das Verb „entscheiden“, das man auf Personen, aber auch auf das Organ anwenden kann. Und es gibt b) mentale Ausdrücke, die der Autorität der ersten Person unterworfen sind, insbesondere solche des phänomenalen Erlebens, die nur auf Personen angewendet werden dürfen.

Obwohl wir Roth zufolge sowohl von Personen als auch von Gehirnen sagen können sollen, dass sie entscheiden, müssen wir dafür sorgen, dass „Entscheidungen“ der Gehirne nicht grundbegrifflich von den Entscheidungen abhängen, die von Personen getroffen werden. Wir müssen daher ausschließen, dass die Rede von Entscheidungen des Gehirns so gerechtfertigt wird, dass es sich um Gehirne von Personen handelt, die Entscheidungen treffen. Versuchen wir, diese Anforderung zu erfüllen: Wenn ein System S beobachtbare Verhaltensalternativen Vn angesichts des Eintretens gewisser Umweltbedingungen Un hat und beim Eintritt von U1 vom Verhalten V1 zu V2 übergeht, dann hat sich S für V2 entschieden. Doch diese Formulierung wird offenbar auch von folgendem Satz erfüllt: wenn ein Stück Eisen die Verhaltensalternative hat, stabil zu sein (V1) oder zu rosten (V2), und Eisen angesichts von U1 (Gegenwart von Sauerstoff und Feuchtigkeit) zu V2 übergeht, dann hat sich das Stück Eisen entschieden zu rosten.“

Vogel räumt in weiterer Folge ein, dass Roth vielleicht etwas anderes gemeint hat.