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1.Ilias, Beginn

Ilias - Text

Wir kommen nun zu dem angekündigten Segment über Platon. Dieses Segment werde ich beginnen mit einer Äußerung Platons über die |Ilias des |Homer, über die wir haben ja schon ein wenig gesprochen haben. Um Sie hierauf einzustimmen habe ich zwei Schrift- und drei Tonbeispiele vorbereitet. |Dieses erste Schriftbeispiel erscheint zunächst für Sie als eine sonderbar klingende Inschrift. Zur allgemeinen Information sei vorweg gesagt: Die Ilias eröffnet mit der Aufforderung des Dichters an die Göttin (θεα), vom Zorn des |Achilles, des Sohns des |Peleus zu singen. Achilles ist wütend, da der „Generalstabschef“ des griechischen Heeres, welches die Feste Troja belagert, bei einer Plünderung nicht die richtigen Güter gewonnen und daher ein dem Achill zustehendes Gut diesem vorenthalten hat. Die Wut des Achills äußert sich darin, dass er sich dem Kampf entzieht, so dass die Griechen, die ihren besten Helden verloren haben, immer mehr in die Defensive gedrängt werden. Die Ilias ist zu einem großen Teil das Drama davon, Achill - wahrlich ein |Superman, wenn Sie wollen |Obelix, und dabei doch sterblich, wie |Siegfried - dazu zu bringen, für die Griechen zu kämpfen. Ich erzähle Ihnen dies, da sich daraus entnehmen lässt, um welch einen dramatische Thriller bzw. welch eine Helden- und Unterhaltungsgeschichte es sich hier handelt; was mir nun allerdings wichtig ist, und womit ich die Überlegungen zu Platon beginnen möchte, ist, Sie mittels dreier Hinweisen darauf einzustimmen, dass es sich hierbei – obwohl für uns schriftlich überliefert – um etwas wesentlich Mündliches handelt. Es handelt sich um etwas, das geschehen ist. Der Grund für die Niederschrift dieses Geschehenen liegt in einer mündlichen Praxis der Überlieferung durch wandernde Sänger, die von Hof zu Hof gezogen sind um dieses |Epos zu deklamieren. Man konnte sich dieses Epos nicht im Buchhandel bestellen, musste warten darauf, dass "someone is in town", so wie früher der Zirkus. Bevor es Fernsehen gegeben hat, Varietés, DVDs, Heimkino, was wir heutzutage für selbstverständlich annehmen, haben sich die Leute abends am |Spinnrad getroffen und Geschichten erzählt; und gelegentlich wurde ihre Unterhaltung um den zusätzlichen Aspekt bereichert, dass für sie von einem fahrenden Sänger "Zirkus" gespielt wurde. Dies konnte nur mündlich geschehen durch die Präsenz von jemandem, der diese Epen tatsächlich vortrug. Diese Form der Medialität hat sich in der humanistischen Bildung als ein ferner Abglanz noch erhalten. Ich denke nicht, dass jemand von Ihnen in derselben Situation gewesen sein wird, am Anfang des Griechischlernens bzw. nach dem Studium der Basisgrammatik und am Beginn der Homerlektüre, im zarten Alter von 14 Jahren, die ersten zwei Seiten der Ilias auswendig zu lernen und aufzusagen. Damals erschien mir das als ein sonderbares Unternehmen. Es tut mir leid im Nachhinein sagen zu müssen, dass die Idee so blöd nicht war - denn es hat sich eingeprägt. Es besteht noch heute eine Konstante, eine Gemeinsamkeit zwischen all den Leuten, die diese Prägung erfahren haben – vermutlich noch viel nachhaltiger als die Taufe, an die man sich, in aller Regel, nicht mehr erinnert. Es besteht ein geheimes Band, welches all jene, die in dieser traditionellen humanistischen Weise aufgezogen worden sind, zusammenhält. Dieses Memorieren geschieht nun nicht Buchstabe für Buchstabe, ganz nach dem Schema: μένις heißt Zorn, αείδε ist ein Imperativ, von Singen: "Den Zorn singe…" οΰλομενεν heißt Wüten, Entbrannt-Sein. Dies wäre die Buchstaben-Zugangsweise, um die es hier nicht zu tun ist, vielmehr um die über den Körper gehende Zugangsweise.

Ilias - Ton (1)

Ein Gedicht wird aufgesagt in der jeweiligen Performance. Um das zu demonstrieren verweise ich auf ein erstes Soundbeispiel, die Deklamation der ersten paar Verse der Ilias durch einen englischen Altphilologen.

|Stanley Lombardo

Sie erkennen relativ bald, dass die Betonung hier nach dem Satzbau erfolgt. Lombardo orientiert sich nicht am |Hexameter, sondern artikuliert so, dass syntaktisch-semantische Zusammenhänge sicht- bzw. hörbar werden. Und doch soll dies ein Gefühl für einen geregelten Rhythmus geben, ein Ablaufen, einen Strom von Worten nach einer bestimmten Regel. Das Wesentliche an dieser Stelle besteht in dem geregelten Ablauf, an den sich ein jeder, von Mal zu Mal, von Strophe zu Strophe zu halten vermag.

Ilias - Ton (2)

Das zweite Tonbeispiel von Ioannidis Nikolaos erachte ich deshalb als interessant, da hierdurch angedeutet wird, wovon ich schon in der ersten Stunde gesprochen habe und noch sprechen werde: Das Gedicht – bzw. die episch-lyrische Darstellung, d. h. dichterische Rede nicht im Sinne eines Romans oder Theaters – wird heutzutage gänzlich anders verstanden als noch zu Zeiten Homers. Wenn Sie z. B. |Ernst Jandl in Tonaufnahmen hören, so besteht hier keine Bindung an die homerische Form von repetitiver Rhythmik, sondern geht es vielmehr um Expression, um Artikulation. Auch bei |Gerhard Rühm, |Konrad Bayer , ist es um Gestaltung von Individualität zu tun. |Diamanda Galás, |Phil Minton, wirken mit ihrer Stimme, sind mündlich wirksam in einer Kunstperformance. Das ist weit entfernt von einer rhythmischen Regularität im homerischen Zusammenhang. Es ließe sich sagen: es ist modern individuell; es ließe sich aber auch sagen: es ist ziemlich verkünstelt. Was ich mit "verkünstelt" meine, deute ich durch die folgende Einspielung an, bei der es sich um die Wiedergabe derselben Verse wie vorhin handelt.

Ioannidis Nikolaos

Einwand aus dem Auditorium, die Betonung von Nikolaos sei sehr Neugriechisch!

Ja, gewiss, Nikolaos ist ein Neugrieche, der altgriechische Lieder singt. Ich bin keinerlei Experte dahingehend, inwiefern diese Darbietung im Kunst- oder Unterhaltungsbereich einzustufen ist, bzw. welche Einstellung die Griechen dem gegenüber haben. Meine einzige Pointe, auf die ich hinweisen möchte, ist die individualisierende Aneignung, die sich besser für unser Verständnis von griechischer Volksmusik oder alter Musik eignet.

Ilias - Ton (3)

Das dritte Tonbeispiel nun ist keine Ilias-Rezitation, allerdings Musik, die auf Rhodos aufgenommen wurde.

Ilias m. Top10

Sie können sich noch erinnern an Pirron und Knapp. Dies muss in unserem Zusammenhang immer mitbedacht werden, wenn es um Eingängigkeit, Rhythmus, Körperlichkeit des Mündlichen geht. Freilich ist dazu zu bemerken, dass auch die Mündlichkeit in der Performance der prähomerischen Sänger unterstützt war von entsprechend lauten und eindeutigen Rhythmuselementen. Worauf ich aufmerksam machen möchte ist, dass wir in der Überlegung dieses Übergangs von mündlich zu schriftlich einerseits in einer Tradition von Klassik-Studien stehen. Daher habe ich verwiesen auf das Auswendiglernen der ersten Strophen der Ilias als Bildungsgut, als etwas, was uns überliefert ist (bis zu Ihnen ist dieses Bildungsgut vielleicht nicht mehr ganz gekommen, ist vielleicht kurz zuvor gestrandet, bei mir allerdings ist es noch angelangt). Dieses Bildungsgut ist letztlich das, was noch heute an Universitäten gelernt und gelehrt wird - allerdings, und das ist entscheidend, über Texte und nicht über das Mündliche. Andererseits muss bedacht werden: Von diesem Bildungsgut können wir nur reden, da es uns in Texten überliefert ist; ohne eine solche Niederschrift gäbe es kein klassisches Altertum, keine Griechenlandforschung. Jenseits davon machen wir in unserer Lebenswirklichkeit wiederum die Erfahrung von Rhythmus, von Beat. Worauf das hinsteuert, und womit auch Platon konfrontiert wird, ist eine gewisse Schwierigkeit, diese beiden Dinge miteinander in Beziehung zu bringen. Ich referiere Ihnen das Entscheidende auf die kürzestmögliche, karikatureske Art und Weise, die fürs Erste das Wesentliche auf einen Punkt bringt: Platon hört sich derartige Rezitationen an und urteilt: "Das gehört doch nicht in die Schule!" Platon hatte zu reagieren auf eine Form von insistenter und repetitiver Rhythmik und von Performance, ähnlich Kinderreimen - um es in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen: Schlager; es sind dies Schlager, mit denen die Kinder von vornherein aufwachsen. In ihrem Heranwachsen wird ihnen dieses Musikgut mitgeteilt, und ineins damit die Inhalte, von denen die Rede ist. Ähnliches wird man heutzutage auch noch bei |Michael Jackson oder |Madonna finden. Worum es in diesen Schlagern geht, ändert sich natürlich mit den jeweiligen Generationen. Für die damalige Zeit galt dies aber nicht als Popkultur, sondern als Residuum der Volksweisheit. Die Kinder wachsen auf mit gesungenen Erzählungen, die die Fragen erfassen: "Wo kommen wir her?" "Wer sind die Götter?" "Was sind die Taten der Götter?" "Was ist in Troja passiert?" "Welche Großtaten hat dieser oder jener vollbracht?" Hiermit wachsen die Kinder auf, und hierin liegt der Kern des damaligen griechischen Erziehungsmodells.

Frage aus dem Auditorium, ob die Ilias, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit vierhundert Jahren schriftlich niedergelegt war, zu Zeiten Platons in Schulen noch mündlich unterrichtet wurde.

Nach dem Zeugnis von Platon besteht hierin ein wesentlicher Teil der Erziehung der griechischen Jünglinge. Wir können die Situation Platons nicht mit der unsrigen vergleichen, in der wir nie auf den Gedanken kämen, ein Lehrbuch aus dem 17. Jahrhundert unserem Schulunterricht zugrundezulegen. Für die damalige Gesellschaft galt die Ilias aber gerade als eine ihrer Grundfesten.

Korrektur aus dem Auditorium, dass die Ilias zu Platons Zeiten nicht mehr gesungen wurde, sondern schon seit vierhundert Jahren niedergeschrieben war

Ja, aber in den Schulen wurde sie tatsächlich gesungen. Zugleich ist es richtig, wenn Sie ansprechen, dass es zwischen 800 und 400 v. Chr. zu einem sukzessiven Wandel in Richtung auf Schrifttechnologie kommt; Wenn es aber Niederschriften gegeben hat, so waren diese nicht zu kaufen, bestand ihr Zweck nicht darin, gekauft und auswendig gelernt zu werden.

In unserem Erfahrungsbereich ist es natürlich so, dass wir beim Auswendiglernen der Ilias den entsprechenden Text vor uns haben, zuhause lesen, vom Lesen ins Gedächtnis übernehmen und dann uns selbst testen können. In Griechenland hatte mit Sicherheit nicht jeder ein Schulbuch, nach dem er vorgehen konnte, sondern Lernen erfolgte durch Rezitieren in der Schule. Das ist der wichtige Punkt bei der Betrachtung des Mediums. Es ist zu vermuten, dass ähnliches in Schulen am afrikanischen Subkontinent noch immer stattfindet, in denen keine Schulbücher vorhanden sind. Wie geht man dort vor? Auch hier werden der gesamten Klasse im Miteinanderreden und -singen Inhalte eingeflößt, da es nichts gibt, worauf man sich separat davon beziehen könnte.

Überleitung

Im Folgenden sollen drei weitere Punkte angesprochen werden. Zunächst: "Platon gegen die Dichter", mit Bezug auf einige, ziemlich herzhafte Zitate Platons gegen das Treiben der Dichter aus der |Politeia. Diese Zitate sollen verbunden werden mit einer Überlegung |Eric Havelocks, der sich die Frage stellt, weshalb Platon dermaßen vehement gegen die Dichter, die Lyrik, die Musik auftritt. Der zentrale Punkt Havelocks besteht darin zu behaupten, die platonische Kritik an den Dichtern ließe sich nur unter Mitberücksichtigung des Auftretens Platons gegen die oben diskutierte Form mündlicher Erziehungspraxis verstehen. Platon vertrete eine neue Form der Zugangsweise zu gemeinschaftlich diskutierten Fragen und Wissen, die sich entschieden absetzt von einer Zugangsweise zu Wissen die in Verbindung steht mit der rhythmisch-gemeinschaftlichen, musikalischen Performance. Havelocks Buch trägt den Titel |"A Preface to Plato". Havelock will hier bestimmte medientheoretische Bedingungen dafür angeben, wie gewisse platonische philosophische Theoreme zustande kommen. Worauf er hinweist, und was ich selbst noch ausbauen werde ist, dass die uns bekannten platonischen Lehrstücke - insbesondere diejenigen über die die Seele anleitende Vernunft, die uns dazu führt, nicht nur einzelne Events wahrzunehmen, sondern uns auf εϊδος, auf Gestalten, auf |Ideen, auf Begriffe zu richten - wesentlich zu tun haben mit dem von uns besprochenen Switch in der Medialität. Zuletzt werde ich auf von Havelock interessanterweise nicht erwähnte Stelle eingehen, die allerdings für unsere weitere Vorlesung von großer Bedeutung sein wird. Es ist dies die berühmte Passage aus Platons |Phaidros, in der es um Vor- und Nachteile von Schriftlichkeit geht. Hier wird diskutiert, welche Komplikationen und Schwierigkeiten sich mit Büchern aus der Sicht von jemandem ergeben, der noch mit einem Bein in der Tradition der Mündlichkeit steht.

Platon gegen die Dichter

Zunächst zu |Platon gegen die Dichter. Die hier gebrachten Passagen sind einigermaßen kunterbunt angeführt, ohne viel von der Textstruktur zu bewahren. Es handelt sich um Politeia 595, den Beginn des Zehnten Buches aus dem Staat, eine Stelle, an der Platon das Problem direkt anspricht:

„obwohl eine von Jugend auf an Homer mich fesselnde Liebe und Ehrfurcht mich abhält, 
zu äußern, was ich denke, es muß einmal heraus! Denn er ist offenbar von allen diesen 
feinen Theaterhelden der erste Lehrmeister und Anführer. Heraus muß es darum, was ich 
über ihn denke; denn eine menschliche Person darf nicht über die Wahrheit gestellt werden!“ 

Damit beginnt Platon explizit und im Rückgriff auf Homer eine Überlegung, die sich gegen ein Phänomen richtet, das im Griechischen |μίμησις heißt: "Nachmachen" bzw. "nachahmende Darstellung". Die nachahmende Darstellung – wiederum karikaturesk formuliert – besteht darin, einen Beat, einen Rave, den Rhythmus einer Band von der Bühne nachahmend in den eigenen Körperbewegungen darzustellen. Tanz ist eine klare Form von nachahmender Darstellung. Ebenso die Nachahmung von jemanden, der einen hysterischen Anfall oder einen Wutausbruch erleidet, oder, um den Bezug zu Homer herzustellen: die Nachahmung des Wütens des Achill in den entsprechenden Worten, die zur Darstellung von Wut zur Verfügung stehen. Platon verfügt in dieser Passage über eine umwerfende Ironie. Er schlägt vor, über Menschen zu sprechen, die etwas wirklich gut können. Diese tollen Typen können Schuhe machen, können Häuser bauen; nicht nur können sie Schuhe und Häuser machen, auch können sie Wiesen machen und Schiffe machen, können mit Schiffen auf der See fahren. Sie sind Tausendsassas, solche, die praktisch alles können. Wer ist das, von wem ist die Rede, und wieso können sie das alles? Es sind Maler. Sie können all das malen, all das darstellen. Oder aber sie sind Epiker, Dichter, wie Homer. Homer vermag selbst den |Hektor zu besiegen, vermag uns zu zeigen, wie man den Hektor besiegt. Der entscheidende Punkt ist der, dass in einer oralen Tradition die Reproduktion von bestimmten Sprachformen, Mustern, Gesten schon für sich selbst die Art der Überlieferung darstellt. Es gibt keine geschichtliche Tradition innerhalb einer solchen oralen Betrachtungsweise, die nicht darauf angewiesen wäre, dass Menschen körperlich einsteigen in in die eintrainierten Maße und Gleise des Nachmachens, der Perpetuierung dieser Art von Inhalten: Denn außerhalb davon, dass sie von jemandem gelernt werden, gibt es sie nicht, sind sie nicht vorhanden. An dieser Stelle lässt sich nicht anders als mit Mimesis operieren. In dem Moment jedoch, da es zu einer Form von schriftlicher Niederlegung kommt, ergibt sich eine neue Zugangsmöglichkeit. In einer präschriftlichen Umgebung - und das ist, nebenbei, die Umgebung, in der kleine Kinder bei uns noch immer leben – muss erlernt werden, wie man zu einem bestimmten Gegenstand sagt. Kleine Kinder lernen, zu diesem bestimmten Gegenstand "Sessel" zu sagen nicht durch das Studieren im Lesebuch, sondern indem ihnen gesagt wird: "Zu diesem bestimmten Gegenstand sagt man 'Sessel'". Hier zeigt sich noch die alte Form von mündlicher Überlieferung. Ebenso lernen Kleinkinder, in der Bezugsgemeinschaft, in der sie aufwachsen, zu bestimmten anderen Dingen nicht "Sessel" zu sagen. Hat ein Kind gelernt, zu diesem bestimmten Gegenstand Sessel zu sagen, und will es auch zu jenem anderen Gegenstand "Sessel" sagen, da man sich ebenfalls darauf setzen kann, so wird dem Kind erwidert: "Nein, das ist kein Sessel!" Es ist das eine Versuchsanordnung von Trial and Error, in der die Verwendung eines gesprochenen Wortes gebunden an die Lernsituation differentiell erlernt wird. Der wichtige Punkt besteht darin, dass die Lernsituation an dieser Stelle tatsächlich in der Kleingruppe stattfindet. In dem Moment aber, in dem Sie ein Wort niederschreiben (SESSEL) und jemanden lehren, dass diese Buchstaben eine Wiedergabe dessen sind, was man spricht, wenn man "Sessel" sagt, gerät das Wort in eine eigentümliche Unabhängigkeit, die es ablöst von diesen konkreten Lern- und Erfahrungssituationen. Es ist so, als würde das gesprochene Wort "Sessel", das Sie in der Lernsituation mit einem Recorder aufnehmen und 500 Kilometer südlich, westlich, östlich oder nördlich abspielen, so dass dieses gesprochene Wort Sessel nicht mehr in der entsprechenden Erfahrungssituation auftritt. Als erste denkbare Reaktion des Kindes erfolgt dasselbe Verhalten wie damals, als es lernte, das Wort "Sessel" zu verstehen; oder, als zweite Möglichkeit: es sieht ein, dass dies falsch ist. Diese andere, transferierte Situation, in der ein akustisches oder graphisches Zeichen wie "Sessel" auftritt, ist nun plötzlich nicht mehr eine Situation wie jene, in der das, was das Kind mit Sessel zu verbinden gelernt hat, auf entsprechende Weise funktioniert. Gegeben ist das graphische oder akustische Signal "Sessel"; dieses Signal ist nun plötzlich mobil und stellt uns vor die Frage, ob wir die Welt nicht mehr verstehen, ob wir das Wort "Sessel" uminterpretieren müssen, ob es zwei, oder noch mehr, Bedeutungen haben kann. Wir gewinnen durch die medientechnische Fixierung dessen, was in einer gesprochenen Lernsituation geschieht einen Unsicherheitsfaktor, eine mögliche Variabilität des Umgangs mit Zeichen in verschiedenen Kontexten, die uns vor einen neuen Typus von Frage stellt.

Ich will hier zurückgreifen auf ein Beispiel aus dem vergangenen Semester: Das, was auf |diesem Bild gezeigt wird, ist ein Sessel. Es ist eine Realisierung von Sessel, und wir sind in der Lage, gegeben unsere Sozialisation, viele verschiedene einzelne Gegenstände als Sessel anzusprechen. In dieser Praxis liegt unsere Befähigung, nicht für jeden Sesel einen Eigennamen zu verwenden, nicht jedem Sessel einen eigenen Namen zu geben und sich damit zu behelfen, jeden einzeln zu identifizieren, sondern zu abstrahieren. Wir erkennen, dass alle diese Dinge, die da herumstehen, Instanzen von Sessel sind. Es gibt eine Klasse, es gibt eine Vorgabe für die Sesselheit, für das, was einen Sesel ausmacht; und dieses, was den Sessel ausmacht ist etwas Prinzipielleres, etwas Abstrakteres als die einzelnen Sessel, die die Auswirkung von diesem einen Sessel sind.

Wovon reden wir eigentlich?

Diese Betrachtungsweise wird an der Stelle interessant, an der gefragt wird nach dem Verhältnis zwischen den Einzelsesseln und dem, was allen diesen Einzelsesseln gemein ist. Was ist der Grund dafür, bzw. wie spreche ich über den Grund dafür, dass alle diese verschiedenen Sessel eine Gemeinsamkeit haben? Es ist dies die platonische Idee eines Sessels, und diese platonische Idee eines Sessels, die Ermöglichungsbedingung der Frage, was hinter all diesen Sesseln eigentlich steckt, hängt mit der Frage nach der Gemeinsamkeit aller Einzelvorkommnisse des Wortes Sessel zusammen. Alle diese Einzelvorkommnisse haben eine gemeinsame Substanz, welche sich nicht reduzieren lässt auf das, was wir jeweils greifen können, auf unsere Sinnlichkeit. Mit dem, was wir nun im Auge haben, mit dem Blick auf den Begriff, gelangen wir in die neue philosophische Dimension des |Wesens, welche es bis in unsere Gegenwart geschafft hat. Interessant im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen ist natürlich die weitere, wie |diese anderen Gebilde zu nennen sind, ob wir auch sie "Sessel" nennen können. In diese Fragesituation geraten wir, da wir ein Wort mit einer für uns bestimmten Implikation kennen, dieses Wort auch an anderer Stelle verwenden wollen, aber plötzlich vor der Frage stehen, ob eine solche Verwendung überhaupt zulässig ist. Ist dieses bestimmte Wort - in dem neuen Kontext - noch der richtige Ausdruck für das, was ein Sessel sein soll?

Die folgenden Ausführungen stammen aus Überlegungen zur Bildung, die an dieser Stelle deswegen relevant sind, da das platonische Bildungskonzept ein Konkurrenzkonzept zu demjenigen von Aneignung durch Nachmachen darstellt. Das folgende Experiment ist leicht nachzuvollziehen: Nehmen Sie das Wort "tapfer", speisen Sie es in eine Suchmaschine wie Google ein – und schon erhalten Sie zahllose Kontexte, in denen dieses Wort aufscheint:

ATX kämpft tapfer um das Wochenplus. 
Kuschelbären wollen tapfer sein. 
Tapfer lächeln. 
Tapfer aber chancenlos. 

In allen diesen |Beispielen kommt dieselbe Sequenz vor. Der entscheidende Punkt ist der: In einer mündlichen Tradition wird sich niemals die Situation ergeben, in der die unterschiedlichen Vorkommnisse der Sequenz "tapfer" vor einem liegen und zur Überlegung führen, was alle diese Vorkommnisse miteinander zu tun haben. In einer mündlichen Tradition kommt es nicht zum Vergleich dieser unterschiedlichen Kontexte. Aber in dem Moment, da es zum Vergleich kommt, ergibt sich eine neue Form von Problemstellung, in der wir uns nicht mehr darauf berufen können, etwas eingelernt zu haben, wir uns nicht mehr darauf berufen können, dass etwas so sein muss, weil es so gelernt wurde. Freilich sagen wir alle instinktiv, dass der Satz "ATX kämpft tapfer ums Wochenplus" eine uneigentliche Verwendung des Wortes "tapfer" beinhaltet. D. h. diese Art von Regulation des Vergleichens, davon, zu behaupten, welche von bestimmten Praktiken und Verwendungen die wichtigen und richtigen sind, nach welchen man sich orientieren müsse, um die richtigen Schlüsse in unserer Gesellschaft zu ziehen, um nicht übrig zu bleiben im darwinistischen Überlebenskampf, geht nahe zusammen mit dem platonischen Motiv, uns durch diese verschiedenen Vorkommnisse von "tapfer" nicht einschüchtern zu lassen; wir sollen nicht - und das ist ein zentraler platonischer Gestus - beobachten, in welchen Zusammenhängen das Wort tapfer verwendet wird und viele, viele Beispiele bringen, in denen gesagt wird, irgendjemand sei "tapfer". Tun wir dies, so verlieren wir uns in Belanglosigkeiten, geht uns die Ordnung verloren. Wir sollen eine Ordnung organisieren, indem wir ausgehen von der Frage, was "tapfer" eigentlich sei. Diese Frage lässt sich in der von Sokrates herkommenden Philosophietradition verstehen als Wesensfrage, als Frage nach der Idee, nach dem Begriff, nach der Form. Um einen etwas weniger belasteten Ausdruck zu wählen können wir auch fragen: "Worüber reden wir eigentlich, wenn wir tapfer sagen?" Jeder von uns kann das Wort "tapfer" gebrauchen, aber ist uns auch klar, wovon wir eigentlich reden, wenn wir es gebrauchen? Die platonische Vorstellung ist nun die, dass im Erziehungsprozess der Sinneswahrnehmung nicht das letzte Wort zukommen kann, sondern dass gefragt werden muss, woraufhin wir diese sinnlichen Wahrnehmung lesen: Wir lesen sie in Hinblick auf Ideen, auf μαθημα. Mathema, object of study, das Konstrukt der Untersuchung, ist etwas, was für Platon eine Episteme (ἐπιστήμη) im Gegensatz zur bloßen Doxa (δὀξα) ausmacht. Doxa betrifft das, was ich jeweils sehe, sinnlich aufnehme; Episteme hingegen betrifft das, wovon wir eigentlich reden. Episteme ist gebunden an ein abstraktes Objekt, Mathema. Hierin liegt auch der Grund, weshalb für Platon - worauf wir jetzt nicht näher eingehen können - in der Politeia Mathematik die zentrale Beschäftigung für Philosophinnen und Philosophen darstellt: sie geht nicht auf die Sinnlichkeit, sondern auf die hinter der Sinnlichkeit liegenden und sie bestimmenden Strukturen.

"And what is to be the mathema or object of study which shall produce
this effect of conversion? [Konversion meint hier die Hinwendung der Seele 
vom Sinnlichen auf das Allgemeine] As he seeks the answer to this question 
and proposes 'number and calculation', as the first item in his curriculum, 
Plato drops into a linguistic usage which reaffirms, over and over again, 
the conception of the psyche as the seat of free autonomous reflection and 
cogitation. It is the learning process associated with arithmetic which 
'leads to thought processes'. Sense experience per se 'fails to challenge 
the thought process to undertake inquiry' and 'the psyche of most men is not
compelled to put a question to the thought process'."

Dies ist Havelocks Art und Weise deutlich zu machen, dass Mathematik bzw. wissenschaftliche Systematik und Verfolgung von Wissensansprüchen in der platonischen Tradition sich ergeben aus der Möglichkeit, mit Schrift zu operieren. Die Konstruktion der menschlichen Seele, an den Dingen und am Körper zu hängen, macht zwar eine wesentliche Bedingung einer vorschriftlichen Kultur aus, jedoch kann dieses An-den-Dingen-Hängen aufgebrochen und in einen typisch platonisch-philosophischen Zusammenhang konvertiert werden in dem Moment, da man die Dinge loslässt. Und losgelassen werden sie, indem man sie niederschreibt. Ich kann, anstelle der Memorierung im Gedächtnis, im Körper, aufschreiben und vergessen, da es ja dieses aufgeschriebene Wort gibt, auf das ich nur hinzusehen brauche, um es wieder zu beleben.

Das Buch - Bedenken und Chance

Dies führt uns nun, im letzten Abschnitt der heutigen Einheit, zu Platons Phaidros. Hier wird gefragt werden, inwiefern diese Möglichkeit des Niederschreibens, um Vergessen und Wiedererinnern zu können, begrüßenswert ist.

Frage aus dem Auditorium, inwiefern nicht bei Platon der Dialog, selbst eine Form des Mündlichen, wenngleich von gänzlich verschiedenem Charakter als das Epos, eine entscheidende Rolle spielt.

Sie haben völlig Recht. Das gibt mir Gelegenheit auf einen Punkt hinzuweisen, den Havelock im Zusammenhang mit dem Dialog anspricht. Dem ist aber vorwegzuschicken: eine der zentralen Aspekte in diesen Überlegungen zu Platon besteht gerade darin, dass Platon Texte schreibt, angestoßen von der Tätigkeit von Sokrates, der selbst nichts geschrieben sondern bloß am Marktplatz mit Leuten geredet hat. Sokrates hat nicht geschrieben! Es war ihm wichtiger zu sprechen als das Gesprochene niederzuschreiben. Die Pointe besteht nun darin: Hätte es nicht jemanden gegeben, der die sokratischen Dialoge niederschrieb, so wüssten wir heute kaum noch etwas von ihm. Und andererseits hätten wir das, was Platon uns überliefert, nicht, wenn nicht Sokrates operiert hätte wie er faktisch operiert hat. Worauf Havelock nun hinweist - und das beantwortet Ihre Frage womöglich direkter – ist eine im sokratischen Dialog anzutreffende Art des Umgangs mit Worten, die nicht mehr in der Nähe des Epos, sondern bereits mit in der der Schriftlichkeit steht: den so genannten ελεγχος. Elenchos bezeichnet den geordneten Streit, das geordnete Streitgespräch über bestimmte Termini. Sokrates geht in einer fiktiven Situation auf den Markt und hört dort mehrere Male das Wort "tapfer" genannt. Darauf tritt er an einen der Sprecher heran und fragt: "Ich habe gerade gehört, dass du das Wort 'tapfer' verwendest. Was aber meinst du eigentlich mit 'tapfer'?" Es ist das eine andere Art des Sprechens als die epische, ist eine reflektierende Art und Weise, mit Sprache umzugehen, die der Technologie des Heraushebens einzelner Wörter bereits weit näher steht. Noch im Epos kommt es nicht vor, ein Wort derart herauszuheben. Am Rande vielleicht, aber das Epos funktioniert primär im Fluss, Worte können unter Umständen Nebeneffekte haben, etwas anstoßen, aber das Epos ist geradezu geschrieben dafür, sich nicht zurückzuwenden um über ein Wort reflektieren. Das hieße, aus dem Epos herauszufallen. Ein Dialog hingegen hat sehr wohl die Möglichkeit sich auf sich zu wenden, und steht daher dem Phänomen der Schriftlichkeit schon weit näher

Frage aus dem Auditorium, ob Platon seine Ideenlehre nicht ohne Ansätze einer vorhandenen schriftlichen Tradition hätte entwickeln können; ob er die Ideenlehre auf Grund der Schrift entwickelte, oder ob ihm das entsprechende Phänomen bloß an der Schrift aufgefallen ist.

Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich das nicht zu beurteilen vermag. Ich sehe es als einen genialen Vorschlag Havelocks, die Frage so zu betrachten; zu beantworten, wie diese Interaktion aber faktisch ausgesehen hat, überfordert mich ein wenig. Mir ist es wichtiger, Ihnen zu zeigen, dass man in diese Richtung denken könnte, nicht aber zu beantworten, ob nun das eine oder das andere der Fall ist.

Frage aus dem Auditorium, ob Platon irgendwo Stellung bezieht darüber, ob Sokrates die Schrift studiert habe, und erst von daher dazu gekommen sei, einzelne Worte zu reflektieren.

Das findet sich nicht, hierfür gibt Platon keinen Anhaltspunkt. Es dürfte auch eher unwahrscheinlich sein. Weitaus wahrscheinlicher ist, in diesem Zusammenhang eine andere Einflussquelle auf Sokrates zu berücksichtigen. Das Griechenland, insbesondere das Athen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts, unterscheidet sich vom Griechenland des Homer durch erste Ansätze von so etwas wie Globalisierung. Große Handelsstädte wie Athen sind plötzlich Umschlagplatz unterschiedlicher Sprachtraditionen. Das ist der Punkt des Auftretens der Sophisten, Wanderlehrer in modernem Sinne. Diese Wanderlehrer kommen aus Sizilien oder Kleinasien und bieten gegen Bezahlung bestimmte Praktiken und Betrachtungsweisen an. Sie bieten Lebenshilfe in allen Belangen an, Hilfe vor Gericht, Hilfe bei Verhandlungen, in der Familie; sie sagen einem, was man tun soll, bzw. was sinnvoll zu tun wäre, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen möchte. Das Bedürfnis nach solch einer Art von Lebenshilfe entsteht erst in Folge einer Erschütterung, in Folge des Zusammenbruchs einer bäuerlichen und adeligen Stabilität, einer Durchmischung des gesellschaftliche Gefüges durch Handel, Reisen, Information, Kunst, so dass sich die Frage, was man eigentlich tun solle, neu stellt. Der klassische griechische Terminus in diesem Zusammenhang lautet αρετή. Areté besagt: Tüchtigkeit, Lebensbefähigung, prestigevolles Leben. Die Frage lautet: "Wie muss ich mein Leben gestalten, um innerhalb der Gesellschaft Prestige zu erlangen?" In einem bäuerlichen oder adeligen Milieu ist dies im Großen und Ganzen bekannt – vielleicht auch heute noch in gewissen Kreisen, z. B. in Hietzing. Bestimmte Gesellschaftskreise in Hietzing definieren sich gerade durch ihr Wissen darum, was man zu tun und zu lassen habe, um Prestige zu gewinnen. In den Moment aber, in dem sich ein soziales Milieu durchmischt, bedarf es eines Lifestyleberaters – und diese Rolle übernehmen die Sophisten. Sie zeigen dir, welche Techniken anzuwenden sind, um mit Hilfe von Worten optimale Ergebnisse zu erzielen. Der klassische Fall ist das Verfahren vor Gericht. Wer einen lehrt, wie Tathergänge mittels Worten entsprechend zu schildern, ungünstige Nebenaspekte aber verschwiegen oder kleingeredet werden (in der Politik spricht man heute von spinning) kann für seine Dienste Geld verlangen. Und hiergegen tritt Sokrates auf. Sokrates, selbst schon als Produkt einer verunsicherten Gesellschaft, zugleich aber wehrhaft gegen die Tendenz, gesellschaftlichen Status durch den Einkauf rednerischer Kompetenz zu erwerben. Es ist das der Beginn der Philosophie. Sokrates‘ Herangehensweise, darauf zu zielen, was aus einem Gespräch durch Kommunikation und Kritik von Ansprüchen resultiert, ist der Anfangsschub für Platon. Und es ist gleichzeitig der Grund für Sokrates' Verurteilung zum Tode, weil er damit die Jugend verderbe. Die Athener seiner Zeit sahen nicht, wie wertvoll seine Herangehensweise ist; im Gegenteil: sie fühlten sich verunsichert, glaubten, Sokrates grabe an den Grundlagen der Gesellschaft, wo in Wirklichkeit doch die Sophisten diejenigen waren, die – so Platon - Athen in den Ruin führten. Es ist das eine der entscheidenden Ausgangsgegebenheiten der europäischen Philosophie.

Auf den letzten Punkt, Platons Phaidros, sei noch kurz hingewiesen. Vermutlich erfindet Platon an dieser Stelle den berühmten Mythos von Theut bezüglich der Erfindung des Buchstabens: Theut spricht zu König Thamus über den Buchstaben:

"Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen, 
denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden."

Thamus aber, der griechische König, an den dieses Angebot ergeht, erwidert: Nein, Theut, du machst mir falsche Versprechungen! Die Schrift ist in Wirklichkeit geradezu ein Gift, nicht aber eine Hilfe für die Erinnerung.

"So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil 
von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen 
derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern 
sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht 
von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern
für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden." 

Schrift stärkt nicht das Gedächtnis, sondern führt zu einer Auslagerung, die ihrerseits zu einer entsprechenden Verwahrlosung des Gedächtnisses führt. Das Ergebnis hiervon ist eine eigentümliche Waisensituation, Vater- und Mutterlosigkeit. Die Auslagerung ist eine Deponierung von Zeichen außerhalb ihres ursprünglichen Zusammenhangs – und das führt zu einer Hilflosigkeit der Schriftzeichen. Man ist mit Worten konfrontiert und weiß nicht, wie mit ihnen umzugehen sei, da das bloße Vorliegen der Worte keine Auskunft darüber gibt, wie sie richtig verwendet werden wollen. Vokabeln können vom Blatt abgelesen werden – wie es aber de facto zur Verständigung verwendet wird verrät mir das Wort auf dem Papier nicht. So möchte ich mit einer Passage schließen, die dermaßen hervorragend zu unserer gegenwärtigen Situation, zum Internet, zu diversen Plagiatsaffären passt, als hätte sie Platon bloß als Glosse auf all diese Ereignisse geschrieben:

„Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich.
Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da, wenn du sie aber etwas fragst, schweigen
sie sehr vornehm. Geradeso auch die Reden, du könntest meinen, sie sprechen, als verständen sie
etwas, wenn du aber in der Absicht, dich zu belehren, nach etwas von dem Gesprochenen fragst, zeigen
sie immer nur eines und dasselbe an. Und wenn sie einmal geschrieben ist, so treibt sich jede Rede 
aller Orten umher gleicherweise bei den Verständigen wie nicht minder bei denen, für die sie gar nicht
paßt, und weiß nicht, bei wem sie eigentlich reden und nicht reden soll, vernachlässigt aber und 
ungerecht geschmäht, hat sie immer ihren Vater als Helfer nötig, denn selbst vermag sie weder sich 
zu wehren noch sich zu helfen.“