Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus
Inhaltsverzeichnis
Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus
- 06/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 871-890
Einstieg
Ein Reduktionismus, indem mentale Verursachung als Schein und unser Freiheitsbewusstsein als Illusion erklärt wird, ist unvereinbar „mit dem alltäglichen Selbstverständnis handelnder Subjekte.“ Wir kommen nicht umhin uns gegenseitig eine verantwortliche Urheberschaft zuzuschreiben. Neuronale Determination kann dieses Selbstverständnis nicht in Frage stellen, eine naturalisierte Sprache des Mentalen besitzt keinen Anschluss an die Sprache der Alltagspsychologie. Das ist die Ausgangsproblematik bei Habermas, eine kritische Haltung zu gewissen naturalistischen Denkweisen und Interpretationen. Sein Anliegen ist es aber nicht den Naturalismus komplett zu widerlegen, sondern er versucht vielmehr einer „richtige[n] Weise der Naturalisierung des Geistes“ gerecht zu werden. Er vertritt einen nicht-szientistischen bzw. weichen Naturalismus. „Nach dieser Auffassung ist alles und das ‚real’, was in wahren Aussagen dargestellt werden kann. Aber die Realität erschöpft sich nicht in der Gesamtheit der regional beschränkten Aussagen, die nach heutigen Standards als wahre erfahrungswissenschaftliche Aussagen zählen.“
Libet, Handlungsgründe und Kausalerklärungen
Zunächst setzt sich Habermas mit den bekannten Libet-Experimenten auseinander. Er führt u. a. folgende Kritikpunkte an: die Versuchsanordnung ist auf willkürliche Körperbewegungen zugeschnitten, wobei der Zeitraum zwischen Absicht und Ausführung sehr kurz ist, daher stellt sich die Frage, ob daraus generalisierte Aussagen getroffen werden dürfen. Auch ist Möglichkeit offen, dass die Probanden in der Auseinandersetzung mit diesen Experiment sich „bereits auf Handlungsplan konzentriert [hat], bevor sie sich zur Ausführung der aktuellen Handlung entschließt.“ Dies würde aber dann nur die Planungsphase widerspiegeln. Ganz allgemein ist für Habermas die künstliche Situation der Experimente problematisch, denn im alltäglichen Leben ist eine Handlung das „Ergebnis einer komplexen Verkettung von Intentionen und Überlegungen“, im Labor hingegen werden diese Prozesse zeitlich zusammen gestaut, wo dann nur „Artefakte“ erfasst werden können, „denen genau das fehlt, das Handlungen implizit erst zu freien Handlungen macht: der interne Zusammenhang mit Gründen.“ Erst mit diesem Spielraum der Alternativen können wir überhaupt erst sinnvoll von freien Entscheidungen sprechen. Ein Wille beruht auf Überlegungen (die Willensbildung selbst ist bewusst und unbewusst), erst mit bewussten Überlegungen, begreifen wir uns als frei. „Der Handelnde ist dann frei, wenn er will, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig hält.“ Gerade dadurch fühlt er sich frei, hätte er nicht die Fähigkeit der bewussten, rationalen Entscheidungen, er würde sich seiner „Initiative beraubt fühlen.“ Es ist meine Ansicht, die ich habe und aus der ich Entscheidungen treffe (in diesem Sinne ist Freiheit notwendig bedingt), „die Determination meiner Entscheidung durch ein neuronales Geschehen“ wirkt verstörend, da nicht mehr das Ich bei den Entscheidungen dabei war, es ist nicht mehr meine Entscheidung. Nach Habermas kann nur „dieser unbemerkte Perspektivenwechsel von der Teilnehmer- zur Beobachterperspektive […] den Eindruck hervorrufen, dass die Handlungsmotivation durch verständliche Gründe eine Brücke zur Handlungsdetermination durch beobachtbare Ursachen baut.“ Solch ein Konzept widerspricht einem ontologischen Monismus, wo Gründe und Handlungen nur zwei Aspekte derselben Sache sind.
Aber rationale Handlungsgründe dienen nicht als bedingende Kausalerklärungen, da sie die Bindung an den Willen des Aktors voraussetzen – dieser muss sich sozusagen bestimmen lassen. Und daher ist die Aussage, dass „S aus einem Grund G die Handlung H ausführt nicht“ gleichbedeutend mit der Aussage „dass G die Handlung H verursacht hat.“ Nur die Angabe von Handlungsmotiven erklärt noch nicht ihre Prognose, es bedarf einen aktiven Initiative des Handelenden, er wir „zum Urheber“. Er muss nicht nur überzeugt sein, sondern die Handlung auch selbst ausführen. Das kann er deswegen, weil er einen Körper hat, mit den er sich identifiziert, bestimmen kann er sich daher (ohne Freiheitsverlust), weil „er seine subjektive Natur als Quelle des Könnens erfährt.“ Handlungsfreiheit ist dadurch nicht nur bedingte (durch Gründe), sondern auch „naturbedingte Freiheit“.
In reduktionistischen Programmen stehen nach Habermas die Gründe nur auf einer schwachen Position, ohne Bedeutung, da sie nicht in das strenge Bild von Kausalerklärungen passen. Ihre Roll ist darauf beschränkt, im Nachhinein die unbewusst ablaufenden Prozesse rational zu erklären, sie dienen also nur noch mehr einer Rechtfertigung unserer Handlungen anderer gegenüber (bzw. uns selbst). Warum aber hat sich im Laufe der Evolution überhaupt so ein Luxus entwickelt, wenn Gründe nicht verhaltensrelevant sind? Als Epiphänomen bliebe von den hohen Ansprüchen unseres Selbstverständnisses nicht mehr viel übrig, Gründe sind demnach überflüssig, aber Habermas argumentiert mit Searle, dass „[d]ie Prozesse der bewussten Rationalität […] ein so wichtiger Teil unseres Lebens [sind], daß es sich damit so anders verhielte als alles, was wir von der Evolution wissen, wenn ein Phänotyp dieser Größenordnung überhaupt keine funktionale Rolle im Leben und für das Überleben des Organismus spielen würde.“ Ein Reduktionismus, der die Kraft der (mentalen) Intervention bestreitet ist nach Habermas nicht weniger dogmatisch als ein Idealismus, der in allem das Geistige sieht.
Perspektivendualismus
Anhand dieser Überlegungen gewinnt ein Perspektivendualismus an Attraktivität, aber ein epistemischer Dualismus darf nicht „vom transzendentalen Himmel“ gefallen sein, er muss „aus einem evolutionären Lernprozess hervorgegangen sein und sich in der kognitiven Auseinandersetzung von homo sapiens mit den Herausforderungen einer riskanten Umwelt schon bewährt haben.“ Gemäß diesem Dualismus ist es nicht möglich die verschieden Sprachspiele und Erklärungsmuster aufeinander zu reduzieren. Eine jede Reduzierung mentalistischer Sprache hinterlässt einen „semantischen Rest“. Ob Materialismus oder Funktionalismus, sie scheitern weil sie entweder in ihren Erklärungen selbst wieder mentalistisches Vokabular verwenden oder ihre Übersetzungen unzulänglich sind und wichtige Inhalte „verfehlen“. Für Habermas ist dieses Resultat nicht verwunderlich, wissen wir doch schon seit Frege und Husserl, dass „sich propositionale Gehalte oder intentionale Gegenstände nicht im Bezugsrahmen kausal wirksamer, raumzeitlich datierbarer Ereignisse und Zustände individuieren lassen.“
Vielleicht, so Habermas, ist es notwendig, dass wir aus beiden Perspektiven die Welt gleichzeitig beobachten müssen, um sie zu verstehen. Es bedarf einer Verschränkung empirischer Beobachtungssprache und subjektiver, vergesellschaftlicher Erlebnissprache. „Wir sind Beobachter und Kommunikationsteilnehmer in einer Person.“ Die dritte Person entsteht erst in der Kommunikation, und mithilfe der Intersubjektivität entwickelt sich überhaupt erst die Überprüfbarkeit einer Objektivität der Natur. „In der komplementären Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive wurzeln nicht nur die soziale Kognition und die Entwicklung des moralischen Bewusstseins, sondern auch die kognitive Verarbeitung von Erfahrungen […].“ Der Mensch ist von Geburt an von sozialer Interaktion abhängig, die „soziale Existenz“ wirkt sich im hohen Ausmaß auf Kognition aus – Kognition und Lernen sind vergesellschaftlicht. Die Fähigkeit auch im Anderen ein intentional handelndes Wesen zu sehen, ermöglicht die kulturelle Entwicklung. Die Auseinandersetzung mit der physischen Umgebung ist „abhängig vom kognitiven Umgang miteinander.“ „Sozialisierte Gehirne“ sind so sozusagen abgekoppelt vom genetischen Mechanismus des Natürlichen. Das ich lässt sich zwar als soziale Konstruktion verstehen, aber „deshalb ist noch keine Illusion“ wie Habermas meint, denn erst im Ich-Bewusstsein „reflektiert sich gleichsam der Anschluss des individuellen Gehirns an kulturelle Programme, die sich nur über gesellschaftliche Kommunikation […] reproduzieren.“ Im öffentlichen Raum der Gründe erhält das Individuum Geltungsansprüche, muss zu diesen Stellungen beziehen und wird so ein verantwortlicher, d.h. freier Aktor.