Ideen nicht haben, aber verstehen
Was anderes: "Man muß die Ideen seiner Zeit, ich sage nicht haben, aber verstehen. Ich behaupte, daß man nur erträglich leben kann, wenn man sich dem Element verweigert, das sich als das schwächste erweist. Die Kultur, in der wir uns befinden, ist ein über alle sogenannten Urinstinkte errungener Sieg (ein unablässiger und stets siegreicher Krieg)." Flaubert in einem Brief an seine Geliebte Louise Colet, 1854. Also jetzt bezüglich alles Sub-sozio-politischen: Der schwächste Sieg die Toleranz? Keiner dieser Siege? Die Unbeständigkeit der Siege vorausgesetzt. Die Ideen gehen den Siegen voraus. Wir würden Abstrakta einsetzen für den Sieg dessen, das etwa eine Toleranz nach dem Wertschätzungskonzept erreicht... --wolfgan 21.01.06
@ Talkative:
"Betreffend deinem Extremfall, dass deine Identität auf unverrückbaren Grundsätzen aufgebaut seien: Nun, in diesem Fall würde ich klar meine Motive darstellen und ehrlich und nachvollziehbar meinen Standpunkt argumentieren – und so dem anderen die Tür zur Toleranz aufstoßen :) Vielleicht bietet bei unverrückbaren Positionen auch nur ein Kuhhandel einen Ausweg (ich kann hier nicht anders, aber ich biete dir dort das an). Wenn ich etwas möchte (und sei’s auch nur meine heilige Ruh’) muss ich eben auch etwas hergeben."
Ich befürchte, dass man nur allzu leicht dem Irrtum erliegt, dass man sich in jeder Situation einem anderen gegenüber verständlich machen kann. Natürlich ist es möglich, sofern ich eine Sprache spreche, die mein Gegenüber ebenfalls beherrscht, meine Standpunkte darzulegen, aber: Wenn es sich nicht um argumentierbare Meinungsverschiedenheiten sondern um gänzlich unterschiedlich erlebte Realitäten handelt, fängt die Sache an, kompliziert zu werden. Anders gesagt bedeutet das, dass ich - wie in der Vorlesung besprochen - ein gänzlich anderes, dem anderen vielleicht nicht einmal bekanntes Spiel spiele. Weit hergeholt? Ich denke nicht, denn Beispiele dafür gibt es in der Geschichte genug (siehe zum Beispiel die immensen Probleme, die dann auftraten, als Straßen oder Eisenbahnen durch Australien gebaut werden sollten: die dort ansässige Bevölkerung widersetzte sich dem Vorhaben vehement, weil die geplante Eisenbahnstrecke über / durch Objekte in der Natur führen sollte, die den Aborigines nicht nur heilig waren, sondern in direkter Verbindung zu ihrem Schöpfungsmythos standen. Verkürzt gesagt bedeuteten Eingriffe in die Natur in diesem Fall nicht nur ein Ignorieren einer spezifischen Sichtweise, sodnern sogar eine akute Bedrohung für die ganze Welt. Man versuche diese Problematik einem Ingenieur zu erklären, der für den Bau der Eisenbahn verantwortlich ist). Eine solche Situation zu erklären hätte wenig Aussicht auf Erfolg, die Parteien spielen jeweils ein anderes Spiel. Was ich mich frage: Wie ist ein solcher Konflikt lösbar, wenn auch nur theoretisch? Ist es mir möglich, ein anderes Spiel zu spielen um mein Gegenüber zu verstehen? Schließlich handelt es sich hierbei nicht einfach "nur" um intellektuelle Meinungsverschiedenheiten, sondern um deren Grundlage. Ismael - 25. Jan 2006 23.30
- "verständlich" und "nachvollziehbar" kann man in einem locker-relativistischen Sinn gebrauchen, der viel mit persönlicher Aufgeschlossenheit und Charakterqualitäten zu tun hat. Systematisch wichtiger ist die Frage, wie weit eine gemeinsame Sprache, auf die dabei Bezug genommen wird, gehen kann. Im Fall der Hasenente ist die Sprache der Linienführung gemeinsam, jene der Tierwelt nicht. Der nächste Schritt ist natürlich, darauf hinzuweisen, dass es einen Weg von hier nach dort gibt - eine gemeinsame Sprache als Prozess. Aber hier gibt es, wie mit recht gesagt wurde, auch Blockaden, die es nötig machen, zu sagen "Ich verstehe Dich nicht." Und wenn das in eine geteilte politische Umgebung fällt, haben wir das Problem. --anna 13:28, 6. Feb 2006 (CET)
Bei deinem Gleisbeispiel in Australien ist mir spontan Irland eingefallen, wo sie die Straßen versetzen, um Hügel der Feen und Kobolde nicht zu gefährden. So unverständlich scheinen die Spiele also doch auch nicht immer zu sein.
Beim Eisenbahnbesipiel ist die bestimmende Größe wohl eher das Ziel, dass der Bauherr sich auferlegt hat undvon dem viel abhängt. Ob in Irland eine Straße nun zwei Kurven mehr hat ist relativ unerheblich, im Gegensatz dazu.
Ob in so einer Situation wie von dir beschrieben, Toleranz möglich ist ? Ich glaube schon. Wenn der Eisenbahner drüber nachdenkt wird er wohl die Fremden Gründe sogar nachvollziehen können und - tolerant (oder respektvoll) - die Gleise um das Heiligtum herumlegen. Ich denke, hier ist das Heraustreten aus dem eigenen Bezugssystem wichtig, dass ich in meiner Benutzerdiskusion angesprochen habe, sonst artet das ganze leicht in eine ideologische Schlammschlacht aus. --Uschebti 23:48, 25. Jan 2006 (CET)
In meinen Augen ist Australien ein hervorragendes Beispiel für Gründe, die ich nicht teilen kann, die mir aber in sich stimmig vorkommen, wenn man sie mir erklärt. Einem Ingenieur die Problematik zu erklären, dürfte nicht so schwer sein (wir verstehen sie ja auch ohne größere Probleme).
Wie etwa der archetypische britische Eisenbahningenieur auf so eine Zumutung reagieren würde, steht allerdings auf einem anderen Blatt. H.A.L. 23:05, 25. Jan 2006
Das kleine wörtchen „nicht“ ist uns wieder mal in die quere gekommen. „ich verstehe das nicht“ kann übersetzt werden mit
(a) „ich habe keine ahnung was du gerade für eigenartiges zeug von dir gibst“
(b) „ich kann zwar deiner argumentation folgen, stimme aber einer (oder mehreren) deiner prämissen nicht zu“.
a und b befinden sich (wie nicht bezahlt/nicht bezahlbar) auf verschiedenen ebenen. bei a fällt eine weitere sinnvolle dikussion scheinbar schwer, weil gar nicht verstanden wird wovon gerade die rede sein soll (siehe bier-donau-beispiel).
zu b: auf island werden strassen um steine herumgebaut in denen kobolde leben. Ein strassenbau-ingenieur aus england könnte dann dort sagen: „ich glaube zwar nicht an kobolde, aber es ist schon in ordnung wenn wir die strasse so bauen, dass wir den stein nicht verrücken müssen.“ Der strassenbau-ingenieur zeigt sich also tolerant (in sachen glaube an kobolde) und geht, was den ursprünglichen bauplan der strasse betrifft, einen kompromiss ein. Er geht keinen kompromiss in seinem nicht-kobold-glauben ein. Er berücksichtigt beim strassenbau den stein; das heisst aber nicht, dass er seinen standpunkt in sachen „ich glaube nicht an kobolde“ in irgendeiner form verändert hätte. Es scheint als hätten die argumente der leute, die an kobolde glauben, eine „tiefere begründung“, weshalb ihnen nachgegeben wird. Der ingenieur will seine strasse aus praktischen gründen möglichst gerade bauen, der kobold-stein darf unter keinen umständen weggenommen werden. Schwieriger wird es, wenn es nicht für eine der beiden parteien so leicht ist, einen kompromiss einzugehen, sondern wenn beispielsweise beide aufeinander zukommen müssen. Im hundebeispiel von jakob dürfte es schwieriger werden einen kompromiss zu finden, weil es scheint als hätten sowohl die, die an heilige kühe glauben, als auch die, die ihrem hunde-grill-brauch nachgehen möchten, gleich „tiefe beweggründe“. Ich glaube in der politik ist es ähnlich. Unterschiedliche politiker haben unterschiedliche standpunkte (die sich in einigen punkten widersprechen können). Wenn nun aber verschiedene politiker gemeinsam beispielsweise über eine gesetzesnovelle diskutieren wollen, sollten sie versuchen die argumentationsgänge der anderen nachzuvollziehen um dann auf kompromisse kommen zu können. Mir scheint toleranz ist eine voraussetzung dafür, dass man überhaupt einen brauchbaren (also für beide seiten akzeptierbaren) vorschlag für einen möglichen kompromiss machen kann. Politiker müssen zu kompromissen bereit sein, denn ansonsten stehen sich feste standpunkte einander gegenüber und nichts passiert mehr (feste, einander gegenüberstehende standpunkte würden natürlich auch nicht einander gegenüberstehen, wenn die standpunkte geändert würden. Der eigene standpunkt könnte sich z.b. so verändern, dass kein kompromiss mehr nötig ist, weil es keinen konflikt mehr gibt). Sarah 26. Jan 2006
"nicht" hat es sozusagen in sich.
Das Ingenieursbeispiel gleicht der Hasenente darin, dass 2 Personen sich in derselben Landschaft bewegen, aber Unterschiedliches sehen. Es fügt einen neuen Aspekt hinzu: die differenten Begründungskontexte sind unterschiedlich kompakt, dringlich, "tief", kompromissfähig. Das weite Feld der Politik hat viele Spiel- und Verhandlungsformen, nur eine kleine Auswahl fällt unter den Toleranzbegriff. So hat der Bau einer Moschee in Telfs nichts mit Toleranz zu tun, sofern die Bauordnung eingehalten wird. Wenn es einen Ermessensspielraum über die Höhe von Schornsteinen, Kirchentürmen und Minaretten gibt, so ist der Spielraum gesetzlich geregelt - und damit gerät man in den Einzugsbereich des Themas. Gesetze werden von Personen angewandt, d.h. mit Urteilskraft. Und diese hat ihren Ermessensspielraum und ihre Grenzen.
Im gegenwärtigen Streit um die dänischen Karikaturen hat jemand geschrieben, die abgebildete Figur könne nicht Mohammed sein, weil es zu seiner Zeit noch kein Schießpulver gab. Das ist offenbar jenseits des Spielraums. --anna 13:59, 6. Feb 2006 (CET)
Als Argument ist die Aussage über karikiertes Schießpulver ja falsch; doch was ist der Witz mit dem Spielraum?
Zur Bauordnung wäre noch anzufügen, dass es vielleicht präziser ausgedrückt wäre, wenn man sagte: Die Abwicklung der Errichtung des Minarettes hat mit Toleranz nichts zu tun. Diese ist nämlich gesetzlich geregelt, und aus dieser Perspektive auch zu betrachten. Freilich ist zumindest in einem historischen Sinn ein "Bau einer Moschee in Telfs" in Termini der Toleranz diskutierbar. (Wenngleich es auch einen akutellen Sinn von Toleranz in diesem Zusammenhang gibt, was durch den öfteren Gebrauch eben dieses Wortes in den Medien streng bewiesen ist.) Gehen wir Jahrhunderte an Zeit zurück, so kann man in einem solchen Sinn sagen, dass der Bau von Synagogen dort weder vom Gesetz noch von sonst wem toleriert war. (Gilt natürlich auch für Moscheen, doch da ist so einer Assertion noch sinnloser, weil sich in der Umgebung von Telfs anno 1562 ohnehin keine Personen gefunden hätten, welche derlei Absichten haben hätten können.) --Georg 21:22, 19. Mär 2006 (CET)
Weiter oben wurde schon eher nebenbei angemerkt, dass das Einnehmen eines Standpunktes nicht automatisch intolerant sein müsse bzw. zu intoleranter Gesprächshaltung/ intolerantem Verhalten führen müsse, wenn der Standpunkt nicht eine Position beinhalte, die das Sich- Einlassen auf "fremdes" Denken schon im Vorhinein ausschließe. Das scheint mir eben der Punkt zu sein, warum Toleranz ein derart weitgehend unerreichtes bzw. unpraktiziertes Ziel darstellt: Viele Menschen vertreten aus verschiedensten, in Erziehung, Funktionsweisen der Psyche und anderen Ursachen begründeten Gründen (gutes Deutsch ;-) ) eben solche Positionen, die das Verständnis für andere Positionen ausschließen. Da hilft es auch nix, diesen Menschen die eigene, ihnen bis dato unverständliche Position stückchenweise so zu erklären/ verständlich zu machen, dass sie womöglich sogar bei den einzelnen Schritten/ Teilen der Position selbst zustimmen- wenn ein Standpunkt nicht verstanden werden will, wird das Gespräch durch ein jähes "Ich bin trotzdem dagegen" beendet. Wir sollten nicht vergessen, dass sture Standpunkte gegen Angst und Unsicherheit (zwei in unserer Gesellschaft sehr bedeutende Phänomene, wie ich glaube!) "helfen"! Was meint ihr?--Sophie 16:39, 26. Jan 2006 (CET)
Ich würde da lieber ein wenig differenzieren: Ich vermute, das Unverständnis für andere Positionen / die Weigerung, vom eigenen Standpunkt abzurücken ist tendentiell weniger in bestimmten Positionen angelegt als in der Wahrnehmung von Diskussionsprozessen durch die betreffenden Personsn, will sagen: Die Einstellung einer Person zu Diskussionsprozessen kann m.E. mehr oder weniger unabhängig von der Einstellung zu dem Thema sein, über das gerade diskutiert wird.
Edit 30.01.: Was ich meine, sind jene Leute, die es als eine persönliche Niederlage empfinden, wenn sich ihr Standpunkt nicht durchsetzt. Man kann von sich aus eine unterschiedlich große Bereitschaft mitbringen, sich auf einen Diskussionsprozeß einzulassen, das steckt in der Psyche drin und hat mit dem diskutierten Thema nciht (unbedingt) etwas zu tun.
-- H.A.L. 15:12, 28. Jan 2006 (CET)
PS: Was ist jetzt mit dem Rhetorikbegriff und der Vetter-VO? Soll man dazu eine eigene Seite einrichten? :-)
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