III Ästhetik und Moral des Zuschauers

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Der früheste deutsche Reflex der Schiffbruch-Zuschauer-Kon-figuration scheint ein »Sinn-Gedicht« von Johann Joachim Ewald aus dem Jahre 175 5 zu sein, betitelt »Der Sturm«48:

Es wird auf einmal Nacht, die Winde heulen laut, Und Himmel, Meer und Grund wird wie vermengt geschaut. Das Schiff fliegt Sternen zu, stürzt wieder tief herab, Läuft unter Wellen fort, sieht um sich nichts als Grab, Hier blitzt, dort donnert es, der ganze Äther stürmt, Die Fluten sind auf Flut, und Wolk auf Wolk getürmt, Das Schiff zerscheitert itzt, und mir . . . ist nichts geschehn, Weil ich dem Sturme nur vom Ufer zugesehn.

Die ästhetisch unangefochtene Situation des poetischen Ich wird für den Leser als Pointe hergestellt, dem Erwachen aus einem Angsttraum nachgebildet. Diese Ungleichzeitigkeit von Erleben und Sprechen privatisiert die Konfiguration. Erst nachträglich wird man dessen versichert, daß die Zuschauer-stellung gegenüber dem wildesten Unheil nicht verlassen wor-den ist und gehalten werden kann. Das Miterleben des Zuschauers wird als so intensiv vorausgesetzt, daß er an seine Unbetroffenheit gleichsam erst erinnert werden muß; insofern ist die Überraschung des Lesers das artifizielle Korrelat der fingierten Erfahrungsdichte des Autors. Man hat nochmals an die Ode 114 des Horaz zu denken, in der das vom Seesturm elend zugerichtete, aber noch nicht vollends zerbrochene Schiff vom zuschauenden Dichter ahnungsvoll und warnend vor weiterem Abenteuer zur Heimkehr in den Hafen gemahnt wird: 0 quid agil?Fortiteroccupaportum!Dort aber ist der Zuschauer nur deshalb gerechtfertigt, weil er eingreifen,

zur Umkehr rufen kann, als der, der die Lage und den Zustand des Schiffes von außen deutlicher wahrnimmt als die, die es führen.40 Die Position des Zuschauers ist bei Horaz auf andere Weise die des Betroffenen: wer mehr sieht, trägt mehr Last. Schon darin ist die Bildstellung >politisch< disponiert, wenn nicht gemeint, sollte auch Quintilians Entschlüsselung des de-solaten Kahns als Allegorie des Staatsschiffs nicht unzweifel-haft sein Insofern mag der Dichter nicht empfunden und gemeint haben, was sein Kommentator ihm zuschreibt: er habe gegenüber sei-ner griechischen Vorlage Alkaios den Angstausbruch des wogenum-brausten Seh ers abgeschwächt zur Reflexion des teilnehmenden Zuschau-ers, der vom Ufer aus das gegen die Elemente ankämpfende Fahrzeug beobachtet.5I Die Identifizierung des Dichters mit dem Schiffer

und seiner Bedrängnis im Fragment des Alkaios war als blinde Betroffenheit nicht ohne weiteres auch >stärker< als die warnen-de Klage des >sehenden< Zuschauers. Deren Intensität besteht im Willen zur Abwendung des Unheils, die nur >von außen< kommen und durchdringen kann. Genauer betrachtet, war der Schiffer des Alkaios >mehr< Zuschauer seiner Bedrängnis gewe-sen als der bei Horaz Redende. Jener nimmt nur das Gegen-wärtige als Verlust und Verstellung jeder Orientierung wahr, während dieser den gegenwärtigen Zustand trügerischer Ruhe nach dem Sturm als die unabwendbare Hilflosigkeit für jede künftige Probe erkennt. Die Frage nach der Intensität des poetischen Subjekts dort und hier steht im Zusammenhang mit dem poetisch beschworenen Zeitbezug. Man wird Alkaios nicht deshalb ins Präteritum ver-setzen dürfen, weil dessen >Ich< offenkundig den Sturm über-lebt hat, sonst nämlich kein Gedicht machen könnte. Das hieße, den Dichter mit seinem fiktiven Ich zu identifizieren. Dieser Ansatz muß im Vergleich bei Horaz zur Verkennung des futurischen Zeitbezugs führen, dem das akut Wahrgenommene nur zum Indiz für ein von den anderen nicht gesehenes Ver-hängnis wird.52 Die Möglichkeit des Zuschauers, wie >politisch< er immer seine Wahrnehmung der Unheilsdrohung verstehen mag, war bei Horaz die Voraussetzung dafür, daß er die Ima-gination des Griechen überhaupt übernehmen konnte. Es ist wohl nicht ganz zufällig, wenn auch ohne nachweisbaren Nexus, daß Ewalds Gedicht »Der Sturm« 175 5 entstanden ist,

im Jahr des Erdbebens von Lissabon, das dem metaphysischen Optimismus vom Typus der deutschen Leibniz-Schule ein Ende setzen sollte. 1792 hat Herder auf die Schiffbruch-Zu-schauer-Metaphorik zurückgegriffen, um die Stellung des deut-schen Publikums zur Französischen Revolution zu veranschau-lichen. Schon 1769, als er zu Schiff von Riga nach Frankreich aufbrach, um die Aufklärung am Ursprungsort zu studieren, war er auf dem Meer konvertiert worden: . . . und so ward ich Philosoph auf dem Schiffe - Philosoph aber, der es noch schlecht gelernt hatte, ohne Bücher und Instrumente aus der Natur zu philosophieren.53 Die Weite des Meeres erinnert ihn an die tabula rasa als Bedin-gung der Authentizität und Autonomie der Gedanken: Wenn werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne undglaube? Noch fühlt er sich nicht jenseits der Antithese, statt aus Büchern aus der Natur zu philosophieren: Hätte ich diesgekonnt, welcher Standpunkt, unter einem Maste auf dem weiten Ozean sitzend, über Himmel, Sonne, .S'terne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund philo-sophieren und die Physik alles dessen aus sich herausfinden zu können! ... der Wassergrund ist eine neue Erde! Wer kennet diese? Welcher Kolumb und Galilei kann sie entdecken? Welche urinatonische neue Sch fahrt, und welche neue Ferngläser in diese Weite sind noch zu erfinden? Doch war die Begegnung mit einigen Häuptern der französi-schen Aufklärung um die Enzyklopädie herum offenbar dem Pathos dieses großen Anspruchs nicht adäquat. Die Reise lie-ferte denn auch die Wendung der Metapher. Auf der Rückfahrt im Januar 1770 geriet Herders Schiff zwischen Antwerpen und Amsterdam auf Grund. Das Meer als Ort der Selbstentdeckung des Sturm und Drang-Subjekts hat sich als Fremdgewalt aus-gewiesen. Schon 1774 bezeichnet Herder mit der Schiffbruchmetapher den neuesten Zustand der Philosophie, nicht nur als Zweifel in

hundert Gestalten, sondern auch als Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schruche rettet, ist kaum der Rede wert.54 Das ist nur eins der aufquellenden und schnell überlagerten Bilder aus Herders frü-hem Konzept seiner Geschichtsphilosophie, die ein Jahrzehnt später im ersten Band der »Ideen zur Philosophie der Geschich-te der Menschheit« ihre Ausführung finden sollte. 1792 dann zieht er im siebzehnten seiner »Briefe zur Beförde-rung der Humanität« das Fazit für die deutsche Distanz zur Revolution bei den Nachbarn.55 Ihn habe das Ereignis mehr beschäftigt und beunruhigt als ihm lieb gewesen sei. Er habe oft gewünscht, diese Zeiten nicht erlebt zu haben. Zwar bringe es die Natur der Sache mit sich, daß darüber zu denken und die Folgen davon vernünftig zu überlegen seien; Distanz aber wäre nicht nur vor-gegeben durch die Entfernung von Ereignis und Betrachter, sondern mehr noch durch die Verschiedenheit der nationalen Charaktere. Durch sie sei schon entschieden über die Rollen-verteilung zwischen Akteuren und Zuschauern. Deutschland habe sogar durch den päpstlichen Hof den Ehrennamen eines >Landes des Gehorsams< erhalten, und jeder Zweifel seiner Re-genten an dieser Qualität wäre eine Beleidigung der Nation. Die Distanz werde vor allem durch die Sprache bestimmt, die den Fehlschlag des französischen Theaters in Deutschland ver-ständlich mache. Ein Übergreifen der Ereignisse erscheint unter diesen Voraussetzungen ausgeschlossen. Wenn an dieser Stelle Herder zum Bild von Schiffbruch und Zuschauer greift, so bleibt ein Rest von Unsicherheit für dessen festen Standort, der mit einer überraschenden und paradoxen Wendung unter eine dämonologische Bedingung gestellt ist:

I f "ir können der Französischen Revolution wie einem Scheruch auf o//enem, fremden Meer vom sichern Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte. Nun ist merkwürdig, daß die Verbindung zwischen Schiff-bruchmetaphorik und Theatermetaphorik, die Galiani herge-stellt hatte, auch in diesem Text Herders zutage tritt. Denn die reale Katastrophe ist zugleich ein Lehrstück im Buch Gottes, der großen Weltgeschichte, ein vor den Augen des schon durch seinen Nationalcharakter begünstigten Zuschauers abrollendes Dra-ma der Vorsehung, die uns diese Szene selbst vor Augen stellt, da sie solche nach langen Zubereitungen in unsere Zeiten fallen ließ, daß wir sie sehen, daß wir an ihr lernen sollen . . . Die didaktische Situation wird nur dadurch möglich, daß derartiges außerhalb der eigenen Grenzen geschieht und wir an diesem Ereignis, falls uns, wie gesagt, ein böser Genius nicht freventlich hineinstürzte, nur als an einer Zeitungssage Anteil nehmen dürfen. Schiffbruch und Zuschauer, das ist hier nur vordergründige Verbildlichung der Situation; dahin-ter ist der Schiffbruch ein Lehrstück, das von der Vorsehung gespielt wird. Die Sicherheit des Zuschauers ist durch die Ge-stalt des bösen Genius bedroht, der ihn ins Meer stürzen könnte - im Rahmen dieses Dualismus von Vorsehung und bösem Geist wird das Ganze ausgetragen. Die Metapher ist nur die Übertragung einer Übertragung.