Heidegger zerpflückt Platon (BD)

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Vorbemerkung

Bildung im ersten Paragraphen. Eine Kleinigkeit zur Hochschulpolitik

Julian Nida-Rümelin, Humanismus als Leitkultur | U. Arnswald: Rezension

Aus: Platons Lehre von der Wahrheit

Wegmarken. Veröffentlichte Schriften 9. Hrsg.: F.-W. von Herrmann 1976, 3. Auflage 2004. S. 222ff, 230ff

englisch

τὰ δ' οὐ̂ν ἐμοὶ φαινόμενα οὕτω φαίνεται, ἐν τῳ̂ γνωστῳ̂ τελευταία ἡ του̂ ἀγαθου̂ ἰδέα καὶ μόγις ὁρα̂σθαι, ὀφθει̂σα δὲ συλλογιστέα εἰ̂ναι ὡς ἄρα πα̂σι πάντων αὕτη ὀρθω̂ν τε καὶ καλω̂ν αἰτία, ἔν τε ὁρατῳ̂ φω̂ς καὶ τὸν τούτου κύριον τεκου̂σα, ἔν τε νοητῳ̂ αὐτὴ κυρία ἀλήθειαν καὶ νου̂ν παρασχομένη, καὶ ὅτι δει̂ ταύτην ἰδει̂ν τὸν μέλλοντα ἐμφρόνως πράξειν ἢ ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ.

"Das Gleichnis hier also, mein lieber Glaukon, fuhr ich fort, ist nun in jeder Beziehung auf die vorhin ausgesprochenen Behauptungen anzuwenden. Die mittels des Gesichts sich uns offenbarende Welt vergleiche einerseits mit der Wohnung im unterirdischen Gefängnisse, und das Licht des Feuers in ihr mit dem Vermögen der Sonne, das Hinaufsteigen und das Beschauen der Gegenstände über der Erde andererseits stelle dir als den Aufschwung der Seele in die nur durch die Vernunft erkennbare Welt vor, und du wirst dann meine Meinung hierüber haben, dieweil du sie doch einmal zu hören verlangst, ein Gott mag aber wissen, ob sie richtig ist! Aber meine Ansichten hierüber sind nun einmal die: im Bereiche der Vernunfterkenntnis sei die Idee des Guten nur zu allerletzt und mühsam wahrzunehmen, und nach ihrer Anschauung müsse man zur Einsicht kommen, daß es für alle Dinge die Ursache von allen Regelmäßigkeiten und Schönheiten sei, indem es erstlich in der sichtbaren Welt das Licht und die Sonne erzeugt, sodann auch in der durch die Vernunft erkennbaren Welt selbst als Herrscherin waltend sowohl die Wahrheit als auch unsere Vernunfteinsicht gewährt, ferner zur Einsicht kommen, daß das Wesen des Guten ein jeder erkannt haben müsse, der verständig handeln will, sei es in seinem eigenen Leben oder im Leben des Staates."

(Platon, Politeia 7.Buch, 517b-c)


Paideia, Wahrheit, Idea

Wenn nun aber schon innerhalb der Höhle die Wegwendung des Blickes von den Schatten hin zum Feuerschein und zu den darin sich zeigenden Dingen schwierig ist und sogar mißlingt, dann verlangt vollends das Freiwerden im Freien außerhalb der Höhle die höchste Geduld und Anstrengung. Die Befreiung ergibt sich nicht schon aus der Loslösung der Fesseln und besteht nicht in der Zügellosigkeit, sondern beginnt erst als die stetige Eingewöhnung in das Festmachen des Blickes auf die festen Grenzen der in ihrem Aussehen feststehenden Dinge. Die eigentliche Befreiung ist die Stetigkeit der Zuwendung zu dem, was in seinem Aussehen erscheint und in diesem Erscheinen das Unverborgenste ist. Die Freiheit besteht nur als die so geartete Zuwendung. Diese erfüllt aber auch erst das Wesen der παιδεία (paideia) als einer Umwendung. Die Wesensvollendung der »Bildung« kann sich also nur vollziehen im Bereich und auf dem Grunde des Unverborgensten,, d. h. des άληθέστατον (alethestaton), d. h. des Wahrsten, d. h. der eigentlichen Wahrheit. Das Wesen der »Bildung« grün­det im Wesen der »Wahrheit«.

Heidegger spricht gegen die "Zügellosigkeit" der Befreiung und für eine höhere Nötigung. Sie liegt darin, dass man sich nach der erscheinenden Gestalt der Dinge richtet. Erziehung besteht darin, dass man lernt, sich dem zu unterstellen, was sich und wie es sich zeigt. Erstens wird es sichtbar, zweitens wird es als etwas sichtbar.

Weil jedoch die παιδεία ihr Wesen in der περιαγωγη (periagoge holes tes psyches) hat, bleibt sie als solche Umwendung ständig die Überwindung. Die ἀπαιδευσια (apaideusia) enthält in sich den wesenhaften Rückbezug auf Bildungslosigkeit. Und wenn schon das »Höhlengleichnis« nach Platons eigener Deutung das Wesen der παιδεία anschaulich machen soll, dann muß die Veranschau­lichung auch und gerade dieses Wesensmoment, die ständige Überwindung der Bildungslosigkeit, sichtbar machen. Deshalb endet die Erzählung in der Geschichte nicht, wie man gern meint, mit der Schilderung der erreichten höchsten Stufe des Aufstiegs aus der Höhle. Im Gegenteil, zum »Gleichnis« gehört die Erzählung von einem Rückstieg des Befreiten in die Höhle zu den noch Gefesselten. Der Befreite soll nun auch diese von ihrem Unverborgenen weg und vor das Unverborgenste hinaufführen. Der Befreier findet sich aber in der Höhle nicht mehr zurecht. Er kommt in die Gefahr, der Übermacht der dort maßgebenden Wahrheit, d. h. dem Anspruch der gemeinen »Wirklichkeit« als der einzigen, zu unterliegen. Dem Befreier droht die Möglichkeit, getötet zu werden, welche Möglichkeit im Ge­schick des Sokrates, der Platons »Lehrer« war, Wirklichkeit ge­worden.


Der Rückstieg in die Höhle und der Kampf innerhalb der Höhle zwischen dem Befreier und den aller Befreiung widerstrebenden Gefangenen bildet eine eigene vierte Stufe des »Gleichnisses«, in der es sich erst vollendet. Zwar ist in diesem Stück der Erzählung das Wort ἀληθὲς nicht mehr gebraucht. Gleichwohl muß auch auf dieser Stufe vom Unverborgenen ge­handelt werden, das den erneut aufgesuchten Höhlenbezirk bestimmt. Aber ist denn nicht schon auf der ersten Stufe das innerhalb der Höhle maßgebende »Unverborgene« genannt, die Schatten? Gewiß. Allein für das Unverborgene bleibt nicht nur dieses wesentlich, daß es in irgendeiner Weise das Schei­nende zugänglich macht und es in seinem Erscheinen offenhält, sondern daß das Unverborgene stets eine Verborgenheit des Ver­borgenen überwindet. Das Unverborgene muß einer Verborgen­heit entrissen, dieser im gewissen Sinne geraubt werden. Weil für die Griechen anfänglich die Verborgenheit als ein Sichver­berger das Wesen des Seins durchwaltet und somit auch das Seiende in seiner Anwesenheit und Zugänglichkeit (»Wahr­heit«) bestimmt, deshalb ist das Wort der Griechen für das, was die Römer »veritas« und wir »Wahrheit« nennen, durch das a privativum (ἀ-λήθεια) ausgezeichnet. Wahrheit bedeutet an­fänglich das einer Verborgenheit Abgerungene. Wahrheit ist also Entringung jeweils in der Weise der Entbergung.

Wenn man den Akzent auf das Sich-Zeigen der Formen legt, entsteht das Problem, dass sich vieles zeigen kann. Das ist gerade die mögliche "Zügellosigkeit" des Sich-Einlassens auf das, was eben da ist. Dagegen steht der Vernunftanspruch der kritisch-erzieherischen Prüfung. Und dieser Prozess wird durch Heidegger ersetzt. In den Schatten verbirgt sich die "höhere" Wahrheit der Sonne. Sie muss den Phänomenen abgerungen werden.

...


Und dennoch, mag auch die ἀλήθεια im »Höhlengleichnis« eigens erfahren und an betonten Stellen genannt sein, statt der Unverborgenheit drängt ein anderes Wesen der Wahrheit in den Vorrang. Damit ist aber schon gesagt, daß gleichwohl auch die Unverborgenheit noch einen Rang innehält.

Die Darstellung des »Gleichnisses« und Platons eigene Deu­tung nehmen die unterirdische Höhle und ihr Außerhalb beinahe selbstverständlich als den Bereich, in dessen Umkreis sich die berichteten Vorgänge abspielen. Wesentlich dabei sind jedoch die erzählten Übergänge und der Aufstieg aus dem Bezirk des künstlichen Feuerscheins in die Helle des Sonnenlichtes, insgleichen der Rückstieg von der Quelle alles Lichtes zurück in das Dunkel der Höhle. Im »Höhlengleichnis« entspringt die Kraft der Veranschaulichung nicht aus dem Bilde der Verschlossenheit des unterirdischen Gewölbes und der Verhaftung in das Ver­schlossene, auch nicht aus dem Anblick des Offenen im Außerhalb der Höhle. Die bildgebende Deutungskraft des »Gleichnisses« sammelt sich für Platon vielmehr in der Rolle des Feuers, des Feuerscheins und der Schatten, der Tageshelle, des Sonnenlichtes und der Sonne.

Alles liegt am Scheinen des Erscheinenden und an der Ermöglichung seiner Sichtbarkeit. Die Unverborgenheit wird zwar in ihren verschiedenen Stufen ge­nannt, aber sie wird nur daraufhin bedacht, wie sie das Erschei­nende in seinem Aussehen (εἶδος) zugänglich und dieses Sichzei­gende (ἰδέα) sichtbar macht. Die eigentliche Besinnung geht auf das in der Helle des Scheins gewährte Erscheinen des Aussehens. Dieses gibt die Aussicht auf das, als was jegliches Seiende anwest. Die eigentliche Besinnung gilt der ἰδέα. Die »Idee« ist das die Aussicht in das Anwesende verleihende Aussehen. Die ἰδέα ist das reine Scheinen im Sinne der Rede »die Sonne scheint«. Die »Idee« läßt nicht erst noch ein Anderes (hinter ihr) »erschei­nen«, sie selbst ist das Scheinende, dem einzig am Scheinen sei­ner selbst liegt. Die ἰδέα ist das Scheinsame. Das Wesen der Idee liegt in der Schein- und Sichtsamkeit. Diese vollbringt die Anwesung, nämlich die Anwesung dessen, was je ein Seiendes ist. ... So wird das Unverborgene zum voraus und einzig begriffen als das im Vernehmen der ἰδέα Vernommene ... .

Die Form bestimmt die Erkenntnis. Das ist eine Auslegung Platons in der Absicht, das Festmachen an Urbildern, Vorbilern, Datentypen zum Sündenfall der traditionellen Philosophie zu machen. Heideggers Wahrheit ist die "Kraft", die sich hinter dem jeweiligen Auftauchen von Gestalten verbirgt.

"Wesenswandel der Wahrheit"

Also handelt das »Höhlengleichnis« doch nicht eigens von der ἀλήθεια? Gewiß nicht. Und dennoch bleibt bestehen: Dieses »Gleichnis« enthält Platons »Lehre« von der Wahrheit. Denn es gründet sich auf den ungesagten Vorgang des Herrwerdens der ἰδέα über die ἀλήθεια. Das »Gleichnis« gibt ein Bild dessen, was Platon von der ἰδέα ἀγαθοῦ sagt: αὐτὴ κυρία ἀλήθειαν καὶ νοῦν παρασχομένη (517 c, 4), »sie selbst ist Herrin, indem sie Unverborgenheit (dem Sichzeigenden) gewährt und zugleich Vernehmen (des Unverborgenen) «. Die ἀλήθεια kommt unter das Joch der ἰδέα. Indem Platon von der ἰδέα sagt, sie sei die Herrin, die Unverborgenheit zulasse, verweist er in ein Ungesagtes, daß nämlich fortan sich das Wesen der Wahrheit nicht als das Wesen der Unverborgenheit aus eigener Wesensfülle entfaltet, sondern sich auf das Wesen der ἰδέα verlagert. Das Wesen der Wahrheit gibt den Grundzug der Unverborgenheit preis.


Wenn es überall in jedem Verhalten zum Seiend auf das ἰδεῖν der ἰδέα ankommt, auf das Erblicken des »Aussehens«, dann muß sich alles Bemühen zuerst auf die Ermöglichung eines solchen Sehens sammeln. Dazu ist das rechte Blicken nötig. Schon der innerhalb der Höhle Befreite richtet, wenn er sich von den Schatten weg und zu den Dingen hinwendet, den Blick auf solches, was »seiender« ist als die bloßen Schatten. ... Der Übergang von einer Lage in die andere besteht in dem Richtigerwerden des Blickens. An der Ὁρθότης, der Richtigkeit des Blic­kens, liegt alles. Durch diese Richtigkeit wird das Sehen und Erkennen ein rechtes, so daß es zuletzt geradeaus auf die höchste Idee geht und in dieser »Ausrichtung« sich festmacht. In die­sem Sichrichten gleicht sich das Vernehmen dem an, was gesich­tet sein soll. Das ist das »Aussehen« des Seienden. Zufolge die­ser Angleichung des Vernehmens als eines ἰδεῖν an die ἰδέα besteht eine ὁμοίωσις, eine Übereinstimmung des Erkennens mit der Sache selbst. So entspringt aus dem Vorrang der ἰδέα und des ἰδεῖν vor der ἀλήθεια eine Wandlung des Wesens der Wahr­heit. Wahrheit wird zur ὁμοίωσις, zur Richtigkeit des Verneh­mens und Aussagens.

In diesem Wandel des Wesens der Wahrheit vollzieht sich zugleich ein Wechsel des Ortes der Wahrheit. Als Unverborgen­heit ist sie noch ein Grundzug des Seienden selbst. Als Richtig­keit des »Blickens« aber wird sie zur Auszeichnung des menschlichen Verhaltens zum Seienden.

Brief über den Humanismus

Wikipedia Eintrag

"Für Heidegger ist der Mensch damit keine „Aufgabe“, welche durch die „Bearbeitung“ mittels eines überlieferten und noch kommenden Kultur- und Bildungskanons zu bewältigen wäre: „Nötig ist in der jetzigen Weltnot: weniger Philosophie [d.h. Metaphysik], aber mehr Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur, aber mehr Pflege des Buchstabens.“"

technisches Denken

Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere. Voll­bringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem «ist», ist das Sein. Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbieten besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Den­kenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren.

Hier wird die Gedankenführung der Platokritik aufgenommen. Menschen sind dem Sich-Zeigen der Umstände unter jeweils bestimmten Umgebungsbedingungen ausgesetzt. Auf diese Umgebungsbedingungen können sie selbst nur sehr wenig Einfluss nehmen.

Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, daß von ihm eine Wirkung ausgeht oder daß es angewendet wird. Das Denken handelt, indem es denkt. Dieses Handeln ist vermutlich das Einfachste und zugleich Höchste, weil es den Bezug des Seins zum Men­schen angeht. Alles Wirken aber beruht im Sein und geht auf das Seiende aus. Das Denken dagegen läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen. Das Denken vollbringt dieses Lassen. Denken ist l'engagement par l'Etre pour l'Etre. Ich weiß nicht, ob es sprachlich möglich ist, dieses beides («par» et «pour») in einem zu sagen, nämlich durch: penser, c'est l'engage­ment de l'Etre. Hier soll das Wort für den Genitiv «de l'...» ausdrücken, daß der Genitiv zugleich ist gen. subjectivus und objectivus. Dabei sind «Subjekt» und «Objekt» ungemäße Titel der Metaphysik, die sich in der Gestalt der abendländischen «Logik» und «Grammatik» frühzeitig der Interpretation der Sprache bemächtigt hat. Was sich in diesem Vorgang verbirgt, vermögen wir heute nur erst zu ahnen.

Die Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge ist dem Denken und Dichten aufbehalten. Das Denken ist nicht nur l'engagement dans l'action für und durch das Seiende im Sinne des Wirklichen der gegenwärtigen Situation. Das Denken ist l'engagement durch und für die Wahrheit des Seins. Dessen Geschichte ist nie vergangen, sie steht immer bevor. Die Geschichte des Seins trägt und bestimmt jede condition et situation humaine. Damit wir erst lernen, das genannte Wesen des Denkens rein zu erfahren und das heißt zugleich zu vollziehen, müssen wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens. Deren Anfänge reichen bis zu Plato und Aristoteles zurück. Das Denken selbst gilt dort als eine τέχνη, das Verfahren des Uberle­gens im Dienste des Tuns und Machens. Das Überlegen aber wird hier schon aus dem Hinblick auf πρᾱξις und ποίησις gesehen. Deshalb ist das Denken, wenn es für sich genommen wird, nicht «praktisch».

Die Kennzeichnung des Den­kens als θεωρία und die Bestimmung des Erkennens als des «theoretischen» Verhaltens geschieht schon innerhalb der «technischen» Auslegung des Denkens. Sie ist ein reakti­ver Versuch, auch das Denken noch in eine Eigenständig­keit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten. Seitdem ist die «Philosophie» in der ständigen Notlage, vor den «Wissenschaften» ihre Existenz zu rechtfertigen. Sie meint, dies geschehe am sichersten dadurch, daß sie sich selbst zum Range einer Wissenschaft erhebt. Dieses Bemühen aber ist die Preisgabe des Wesens des Denkens. Die Philosophie wird von der Furcht gejagt, an Ansehen und Gel­tung zu verlieren, wenn sie nicht Wissenschaft sei. Dies gilt als ein Mangel, der mit Unwissenschaftlichkeit gleichgesetzt wird. Das Sein als das Element des Denkens ist in der technischen Auslegung des Denkens preisgegeben. Die «Logik» ist die seit der Sophistik und Plato beginnende Sanktion dieser Auslegung. Man beurteilt das Denken nach einem ihm unangemessenen Maß. Diese Beurteilung gleicht dem Verfahren, das versucht, das Wesen und Vermögen des Fisches danach abzuschätzen, wieweit er im­stande ist, auf dem Trockenen des Landes zu leben. Schon lange, allzu lang sitzt das Denken auf dem Trockenen. Kann man nun das Bemühen, das Denken wieder in sein Element zu bringen, «Irrationalismus» nennen?

Wesen der Technik

Das neuzeitlich-metaphysische Wesen der Arbeit ist in Hegels «Phänomenologie des Geistes» vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vorgang der unbedingten Herstellung, das ist Vergegenständlichung des Wirklichen durch den als Subjektivität erfahrenen Menschen. Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Technik, über die zwar viel geschrieben, aber wenig gedacht wird. Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick der in der Vergessenheit ruhenden Wahrheit des Seins. Sie geht nämlich nicht nur im Namen auf die der Griechen zurück, sondern sie stammt wesensgeschichtlich aus der τέχνη als einer Weise des ἀλήθευειν, das heißt des Offenbarmachens des Seienden. Als eine Gestalt der Wahrheit gründet die Technik in der Geschichte der Metaphysik. Diese selbst ist eine ausgezeichnete und die bisher allein übersehbare Phase der Geschichte des Seins. Man mag zu den Lehren des Kommunismus und zu deren Begründung in verschiedener Weise Stellung nehmen, seinsgeschichtlich steht fest, daß sich in ihm eine elementare Erfahrung dessen ausspricht, was weltgeschichtlich ist. Wer den «Kommunismus» nur als «Partei» oder als «Weltanschauung» nimmt, denkt in der gleichen Weise zu kurz wie diejenigen, die beim Titel «Amerikanismus» nur und dazu noch abschätzig einen besonderen Lebensstil meinen. Die Gefahr, in die das bisherige Europa immer deutlicher gedrängt wird, besteht vermutlich darin, daß allem zuvor sein Denken — einst seine Größe — hinter dem Wesengang des anbrechenden Weltgeschickes zurückfällt, das gleichwohl in den Grundzügen seiner Wesensherkunft europäisch bestimmt bleibt. Keine Metaphysik, sie sei idealistisch, sie sei materialistisch, sie sei christlich, kann ihrem Wesen nach, und keineswegs nur in den versuchten An­strengungen, sich zu entfalten, das Geschick noch einho­len, dies meint: denkend erreichen und versammeln, was in einem erfüllten Sinn von Sein jetzt ist.

Angesichts der wesenhaften Heimatlosigkeit des Men­schen zeigt sich dem seinsgeschichtlichen Denken das künf­tige Geschick des Menschen darin, daß er in die Wahrheit des Seins findet und sich zu diesem Finden auf den Weg macht. Jeder Nationalismus ist metaphysisch ein Anthro­pologismus und als solcher Subjektivismus. Der Nationa­lismus wird durch den bloßen Internationalismus nicht überwunden, sondern nur erweitert und zum System erhoben. Der Nationalismus wird dadurch so wenig zur Hu­manitas gebracht und aufgehoben, wie der Individualismus durch den geschichtslosen Kollektivismus. Dieser ist die Subjektivität des Menschen in der Totalität. Er vollzieht ihre unbedingte Selbstbehauptung. Diese läßt sich nicht rückgängig machen. Sie läßt sich durch ein halbseitig vermittelndes Denken nicht einmal zureichend erfahren. Überall kreist der Mensch, ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich selbst als das animal rationale.



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