Haben sich die (sexuellen) Verhältnisse seit Freud so verändert, dass seine Theorien zum Geschlecht heute als obsolet anzusehen sind?: Unterschied zwischen den Versionen

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Obwohl es eindeutig ist, dass sich seit Freuds Zeit einiges getan hat in Bezug auf das Geschlechterverhältnis – man denke nur an 68, die zweite Frauenbewegung- so habe ich doch meine Zweifel, dass dieser Wandel so nachhaltig und performativ gesickert ist, dass er die Beobachtungen Freuds großteils obsolet machen würde. Wenngleich aktuell Sexualität allgegenwärtig zu sein scheint, so ist es doch zumeist die aus einem männlichen Blick sexualisierte Frau, die wir zu sehen bekommen, die der Werbung dient, die objektiviert ist, um im Kontext der Warenwelt den Wert zu steigern und oft genug wird dieses sexualisierte Bild wiederum von Frauen inkorporiert und ausagiert. Wenn, wie Freud zu seiner Zeit beschreibt, der weiblichen Sexualität schon in der frühkindlichen Entwicklung ihr aggressives – und das heißt in meinem Verständnis, für ein „Subjekt“ überhaupt konstitutives  „nach Außen Greifen“- Begehren abgeschnitten, verboten wird – unter dem Druck der wirkmächtigen  Bilder – so kann, wie ich meine doch eine gewisse Trägheit dieser Situation beobachtet werden, bei aller Veränderung.
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Ein positives weibliches Körperverhältnis, das nicht vom Wahn der Schönheitsideale ver- rückt oder zumindest bedrückt ist, ist nach wie vor nicht selbstverständlich. Begehren konstituiert sich aber nun wesentlich auch körperlich, ausgesetzt, ex-poniert. Über welchen weiblichen Körper kann sich nun welches Begehren konstituieren und wie erfüllt ist ein solches dann? (KAFEI)

Version vom 18. Juni 2010, 19:08 Uhr

So, ich eröffne mal hier die Frage neu, ich weiß allerdings nicht, ob sich hier wer her verirrt.

Ich denke doch, dass in einigen Punkten die Gesellschaft Freuds Ansichten überholt hat (man denke an die ganze Problematik der Hysterie), dass aber andererseits die damalige Schicht, in der sich die Psychoanalyse bewegte (das Großbürgertum), Werte und Ansichten hatte, die heute auf weit größere Massen zu beziehen sind, also an Breite eher zugenommen haben. Wie bei diversen religiösen Büchern könnte man also annehmen, dass einige Teile des Freudschen Werks im historischen Kontext zu lesen sind (deutlich bei Totem und Tabu), andere wiederum gültige Wahrheiten darstellen.

Freud selber wollte mMn jedoch keine Realität konstituieren, sondern Vorgefundenes beschreiben und klassifizieren; und bezüglich des Phänomens "Frauengleichberechtigung" hat sich in den letzten 100 Jahren viel getan, aber gleichzeitig auch nicht!

Freud selbst bringt ja eine tolle Fußnote zu dem Thema (Über die weibl. Sex., S. 280, FN 1: "Man kann vohersehen, daß die Feministen ..."), die mir unklar war und tlw. noch ist. Ich habe das mal bei Dostojewski nachgelesen, ihr könnt das hier: http://194.64.252.38/?id=5&xid=455&kapitel=89&cHash=a383eb13fcchap089#gb_found (Projekt Gutenberg) auch tun - es ist eine Stelle am Ende von Die Brüder Karamasow, 12. Buch.

Auf recht elegante Weise weist Freud darauf hin, dass man mit "psychologischen Methoden" die Dinge immer so erscheinen lassen kann, wie es gerade passend ist. (Dostojewski: "Absichtlich, meine Herren Geschworenen, habe ich selber jetzt meine Zuflucht zur Psychologie genommen, um anschaulich zu zeigen, daß man aus ihr jeden Schluß ziehen kann, der einem beliebt. Es kommt nur darauf an, wer sie handhabt. Die Psychologie verführt sogar die solidesten Männer zum Verfassen von Romanen, und zwar, ohne daß sie es wollen. Ich rede von der unangebrachten Psychologie, meine Herren Geschworenen, von einem gewissen Mißbrauch, der mit ihr getrieben wird.") Der "Männlichkeitskomplex" kann also nach Freud nicht den Männern unterschoben werden, wenn doch ganz klar - evident - ist, dass er die Frauen betrifft, die versuchen, die männliche Macht für sich zu gewinnen.

Warum Freud selbst allerdings ausserhalb dieses zweiendigen Stockes steht kann man wohl nur durch die "Praxis der Psychoanalyse" erklären. (luef)


Ich möchte vorerst nur an einem Punkt ansetzen:

Mir ist nicht klar, was der Hinweis auf die Hysterie genau meint. Wenn damit angedeutet werden soll, dass die Hysterie eine historische Erkrankung ist, so entspricht das nicht der Realität einer klinischen Wahrnehmung: Körperliche Symptome, denen das biologische Substrat fehlt, tragen bis heute zur Überfüllung von Wartezimmern bei. Auch besonders eindrucksvolle Erscheinungen wie epilepsieartige Zustände (oft bis hin zum "arc de cercle") sind bis heute differentialdiagnostisch bei epileptischen Erkrankungen in Erwägung zu ziehen (werden etwa mit dem Terminus "funktionelle Anfälle" aus dem alten Kontext der Hysterie herausgenommen, unterscheiden sich aber nur hinsichtlich dieser Benennung). Und heute wie zu Freuds Zeiten lassen sich all diese Manifestationen mit verbalen Interventionen behandeln.

Hysterie bedeutet im psychoanalytischen Kontext allerdings mehr als diese angedeuteten Symptome. Die Hysterie als Neurose steht für ein spezielles Verhältnis zum Anderen, im Rahmen dessen das hysterische Subjekt sich zum Objekt des Anderen zu machen versucht (was im medizinischen Sektor mit körperlichen Symptomen am besten funktioniert). --Uk 10:49, 2. Apr. 2010 (UTC)


ad Hysterie:

Ja, das sollte durchaus eine Anspielung auf die historische Komponente der Erkrankung sein; ich wusste auch nicht, dass der Begriff überhaupt noch existiert (wobei ich damit nicht beleidigend sein will). Ich ging davon aus (und tue das eigentlich nach wie vor), dass der Begriff seit gut 30 Jahren aus der Diagnose verbannt wurde. Im ICD10 gibt es den Eintrag ja gar nicht mehr (F44 dissoziative Störungen [Konversionsstörungen], S. 177ff., z.B.: "Diese Störungen wurden früher als verschiedene Formen der Konversionsneurose oder Hysterie klassifiziert. Heute jedoch erscheint es günstiger, den Terminus Hysterie wegen seiner vielen unterschiedlichzen Bedeutungen so weit wie möglichst zu vermeiden.", und auch F60.4: histrionische Persönlichkeitsstörung), das DSM IV-TR kenn ich nicht gut, aber unter http://en.wikipedia.org/wiki/Hysteria ist zu lesen: "In 1980 the American Psychiatric Association officially changed the diagnosis of "hysterical neurosis, conversion type" to "conversion disorder" ", was auf ähnliches hindeutet.

Abgesehen von dieser diagnostischen Problematik kommt noch die gender oder p.c Komponente hinzu, da dieses Wort eine historische Vorbelastung aufweist: das Wort leitet sich vom griechischen Wort für Uterus ab, was das ganze zu einer typischen "Frauenkrankheit" erklärte (siehe dazu auch http://www.historyhouse.com/in_history/hysteria/ : "Medical doctors, starting with the ancient Greeks and making it all the way to the early twentieth century, were firmly convinced that aberrant behaviors displayed by women were directly caused by their uteri. This perception of the uterus as a troublesome organ and thus the direct cause of varying malaises made it until the beginning of the twentieth century. It was a widespread belief of the medical community that the uterus precipitated a large number of diseases and aberrant behaviors. This belief peaked at the end of the nineteenth century, when white, middle-classed women went through an epidemic of 'hysteria'.").

Bevor das aber zu lang wird: DAS habe ich nur im Hintergrund damit gemeint. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass "die Hysterie" sowohl für Charcot (seine Photographien der Augustine wurden ja sogar von Muybridge nachträchlich als Standard menschlicher Bewegung in den Animal Locomotion Band aufgenommen) als auch für Freud ganz zentrale Forschungsgegenstände waren, die ganze Theoriengebäude mittrugen, während heute natürlich Krankheiten mit den gleichen Manifestationen bestehen (wie ich meine aber doch viel weniger als Ende des 19.Jhdts.), der Begriff der Hysterie jedoch im Alltag so etwas wie einen Tick, einen Spleen bedeutet (Žižek läßt grüßen) und dadurch von der gesellschaftlichen, und damit der sexuellen, Entwicklung eingeholt, überholt, verarbeitet, aufgelöst oder wie auch immer wurde.

(Um dem Gesagten etwas mehr Gewicht zu verleihen füge ich noch hinzu: ich hab diese Begrifflichkeiten auch so gelernt und in der Klinik so erlebt. Mit psychosomatischen Erkrankungen habe ich den Begriff nicht im Zusammenhang gebracht.) Wenn ich mich zudem recht erinnere (da bin ich mir aber echt nicht sicher) wollte auch schon Freud diesen Begriff nicht mehr angewendet wissen; aber er wollte ja auch von Anfang an, dass Nichtärztinnen Analytiker werden konnten. [+ falls es jemanden interessiert: es gibt eine Künstlerin in NY, die sich im Weitesten mit dieser Problematik beschäftigt -> klicke: http://www.zoebeloff.com/]

So, jetzt hoffe ich aber auf ein paar Reaktionen oder Kritiken! (luef)


Die Hysterie enthaelt als Begriff eine Reihe von schwierigen Konnotationen. Das hat aber nicht zu ihrer Abschaffung als nosologische (krankheitsbeschreibende) Kategorie in der Psychoanalyse gefuehrt. Unter Hysterie versteht die Psychoanalyse zu Freuds Zeiten wie heute eine Neurose. Der psychoanalytische Begriff der Hysterie wurde von der psychiatrischen Nosologie nur bedingt aufgenommen und in der oben beschriebenen Weise kritisiert. Die psychiatrischen Klassifikationsmanuale ICD 10 und DSM IV sind "phaenomenologisch" (hier bedeutet das "am Erscheinungsbild") orientiert. Psychoanalytische Diagnostik dagegen bezieht die Annahme über die Ursache, die zur Ausbildung einer psychischen Struktur gefuehrt hat, mit ein.

Psychoanalytisch gibt es verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs: Während Kernberg die Hysterie als Neurose scharf unterscheidet von Borderline Strukturen, findet sich in der strukturalen Psychoanalyse im Anschluss an Lacan keine Borderline-Struktur. Daher gilt dort manches als Hysterie, was an anderer Stelle als Borderline-Struktur aufgefasst wird.

Die Konversionsstörung umfasst koerperliche Symptome. Psychosomatische Symptome wurden oben keine beschrieben. Sie waeren naemlich (gemaeß Freud) nicht deutbar. Hysterische Symptome hingegen enthalten eine Bedeutung, die analysiert werden kann. --Uk 07:38, 22. Apr. 2010 (UTC)

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Obwohl es eindeutig ist, dass sich seit Freuds Zeit einiges getan hat in Bezug auf das Geschlechterverhältnis – man denke nur an 68, die zweite Frauenbewegung- so habe ich doch meine Zweifel, dass dieser Wandel so nachhaltig und performativ gesickert ist, dass er die Beobachtungen Freuds großteils obsolet machen würde. Wenngleich aktuell Sexualität allgegenwärtig zu sein scheint, so ist es doch zumeist die aus einem männlichen Blick sexualisierte Frau, die wir zu sehen bekommen, die der Werbung dient, die objektiviert ist, um im Kontext der Warenwelt den Wert zu steigern und oft genug wird dieses sexualisierte Bild wiederum von Frauen inkorporiert und ausagiert. Wenn, wie Freud zu seiner Zeit beschreibt, der weiblichen Sexualität schon in der frühkindlichen Entwicklung ihr aggressives – und das heißt in meinem Verständnis, für ein „Subjekt“ überhaupt konstitutives „nach Außen Greifen“- Begehren abgeschnitten, verboten wird – unter dem Druck der wirkmächtigen Bilder – so kann, wie ich meine doch eine gewisse Trägheit dieser Situation beobachtet werden, bei aller Veränderung. Ein positives weibliches Körperverhältnis, das nicht vom Wahn der Schönheitsideale ver- rückt oder zumindest bedrückt ist, ist nach wie vor nicht selbstverständlich. Begehren konstituiert sich aber nun wesentlich auch körperlich, ausgesetzt, ex-poniert. Über welchen weiblichen Körper kann sich nun welches Begehren konstituieren und wie erfüllt ist ein solches dann? (KAFEI)