Gründe gegenüber Fremdem, "etwas damit anfangen können"

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Ich kann Dyde bei dem Vorschlag der Begriffsgrenzen der Toleranz zustimmen. Toleranz kann nicht als ein bloßes Zuschauen und Gewähren lassen aufgefasst sein. Wobei es meiner Meinung nach, zwischen Gewähren lassen und nicht nachvollziehbaren Gründen einen wesentlichen Unterschied gibt. Die von Jakob angeführten „nicht nachvollziehbaren Gründe“ sind für mich genau der Knackpunkt wo Toleranz beginnt. In dem Moment, in dem ich zu der Feststellung komme, dass die Gründe von Handlungen meiner Einsicht verborgen bleiben, beschäftige mich schon mit den Gründen, ich reflektiere etwas, ich weiß zwar noch nicht was ich damit anfangen soll, aber es ist ein Grund da, ich kann ihn zwar für meine Einsicht noch nicht spezifizieren, aber er beschäftigt mich. Ich bin weit über ein „Gafferstadium“ hinaus gekommen. Dieses, sich mit den Gründen Anderer aus einander zusetzen, wäre für mich der Punkt wo Toleranz beginnt. Magdalena, 14.Dez.2005

Den "Knackpunkt" kann man zugespitzt so verdeutlichen: Es ist ein Grund vorhanden, aber ich kann ihn nicht nachvollziehen. -- Inwiefern ist es dann ein Grund? Toleranz beruht auf der Bereitschaft, die verbale Begleitung abweichenden Verhaltens als Grund zu akzeptieren, auch wenn es als Grund nicht überzeugt. Anders gesagt: die Gegenseite steht im Raum der Vernunftargumentation, auch wenn ihre Äusserungen darin keinen Platz zu finden scheinen. --anna 09:34, 6. Feb 2006 (CET)


Nur dass mich die Beschäftigung mit etwas, das ich weder verstehen noch einordnen kann, nicht automatisch zu einem toleranten Verhalten führen wird. Natürlich ist es in vielerlei Hinsicht förderlich, wenn ich über etwas nachgedacht, mich mit etwas beschäftigt oder versucht habe, etwas mir unverständliches in mein Begriffsystem einzuordnen, damit ich etwas "damit anfangen kann". Aber was ich damit anfange, ist damit noch nicht festgelegt.

Etwas zu verstehen oder nicht zu verstehen hat, wie sich oft zeigt, keinen Einfluss darauf, wie ich mit der mir zur Verfügung stehenden Macht umgehe. Angewendet auf das obige Beispiel mit dem Hund, würde Macht bedeuten, dass ich es in der Hand habe, die Hausverwaltung zu informieren oder nicht. Ich mag die Situation der alten Frau noch so gut nachvollziehen und verstehen können, die Entscheidung, ob ich in diesem Fall tolerant sein möchte oder nicht, hängt nur zum Teil davon ab.

Ich bin zwar überzeugt davon, dass ich etwas so gut wie möglich verstehen sollte, um eine Entscheidung treffen zu können, aber das ist keine Vorraussetzung. Ich kann Unbekanntes und Bekanntes gleichermaßen tolerieren. Ismael, 18.12.2005

Ismael führt genau die Problematik des Knackpunktes vor Augen. Damit Andersartiges nicht einfach ignoriert oder unterdrückt, sondern toleriert wird, muss es als begründet angesehen werden -- obwohl es den eigenen Begründungsrahmen sprengt. Und die damit verbundene Zwiespältigkeit steht (beim Thema Toleranz) unter dem Aspekt der Macht.
Ein beliebter Vorwurf sieht so aus: Nach einem Diskussionsprozess ist eine Entscheidung nötig, also Machtausübung. Die unterlegene Partie nennt diese Entscheidung dann "intolerant". Da muss man vorsichtig sein. Den Hund der Verwaltung zu melden, wenn die Hausordnung keine Hunde erlaubt, ist genau genommen nicht intolerant. Gesetz und Gnade sind eben zwei verschiedene Stiefel. Intolerant ist eine Entscheidung, die "fremde Gründe" systematisch ausschließt. (Das Gesetz kennt keine "fremden Gründe".) --anna 10:31, 6. Feb 2006 (CET)

Ich stimme mit Ismael insofern überein, als das "Verstehen" eines anderen ohnehin nie absolut sein kann. Es bleibt immer ein mehr oder wenig großer Rest an für mich Unerklärbarem. Aber ich denke, dem stimmt auch Magdalena zu. Nur, Ismael, ich glaube nicht, dass ich gänzlich "Unbekanntes" tolieren kann - das wär dann ja wohl ganz einfach Ignoranz! Oder?

Toleranz hat im Zwischenmenschlichen sehr viel zu tun mit einer inneren, psychischen Autonomie. Fernab von "wegschauen" oder "zuschauen". Ich denke Sie ist ähnlich wie "Glaubwürdigkeit" eng verbunden mit einer inneren moralischen Gefestigtheit und der Stärke, anderes, Fremdes bestehen zu lassen. Vielleicht mit dem Effekt, dass ich mein eigenes Weltbild danach etwas zurechtrücke und meine Positionen überdenke. In den "Mokassins des anderen zu gehen" kann den Horizont unglaublich erweitern.

Insofern passen Toleranz und Rechtsansprüche für mich nicht zusammen. Toleranz lässt sich nicht über Gesetze fördern, wie Berta meint, - sie sind ihr eher hinderlich. Hinter hegemonialen Normen lässt sich's gut verstecken. Und auch sie großzügig zu durchbrechen kann zwar gewagt sein, hat jedoch noch nichts mit Toleranz zu tun. Toleranz beginnt früher: vor diskursiv erzeugten, gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Codes. Es ist ein empfundenes Anerkennen von Verschiedenartigkeiten. Unterschiedliche Standpunkte können und sollen bestehen bleiben aber die Wertschätzung der Andersartigkeit lässt mich auch Auffassungsunterschiede tolerieren. (Talkative, 4.1.2006)

Der psychologisch-ethische Aspekt des Toleranzbegriffes ist tatsächlich bisher zu kurz gekommen. Die Beschreibung von Gründen her (die analytische Zugangsweise) spricht nicht von den Umständen, unter denen Personen Begründungsdiskurse führen. Da geht es anders zu, als in der Logik. Der Toleranzbegriff ist aber weder in der separierten Wahrheits- noch Gutheits-Perspektive zu fassen. Die "innere Stärke", unterschiedliche Standpunkte anzuerkennen, wird erst "toleranz-relevant", wenn Sanktionen zur Verfügung stehen, also wenn ich als Diskussionsleiter den Vertreter einer schlagenden Verbindung zu Wort kommen lasse. --anna 10:31, 6. Feb 2006 (CET)

Talkative, bin hingerissen von deiner Einführung der psychischen Ebene in diese Diskussion!!:-D Ich finde es sehr (!) wichtig zu berücksichtigen, dass es eben eines gewissen inneren Gefestigtseins bedarf, Unbekanntes nicht als Gefahr zu sehen und es deshalb nicht a priori ablehnen zu müssen! Ich denke, wir teilen aber alle die Erfahrung, dass über diese innere Haltung, ich nenn´ das mal "innere Größe", nicht allzu viele Menschen zu verfügen scheinen- welche Chance hat die Anwendung von tolerantem Verhalten vor dem Hintergrund deiner Erkenntnis (bzgl. der Voraussetzungen von Toleranz)??--Sophie 18:45, 26. Jan 2006 (CET)


Toleranz beginnt bei nicht nachvollziehbaren Gründen:

  • das ist der Wahrheitsaspekt: man trifft auf Erklärungsmuster (einer Gruppe), die unzugänglich sind
    • darin liegt bereits ein entscheidender Schritt: etwas Fremdes wird als begründbar angesehen
    • aber der Unterschied bleibt: es könnte verständlich sein, aber es ist (im Moment) unverständlich
  • zweitens der Machtaspekt. Die Prüfung von Gründen geschieht in sozialen Zusammenhängen
    • insbesondere innerhalb eines herrschenden Rechtssystems
    • wie steht das Gesetz zu Gründen? Es umreisst einen Verfassungsspielraum und (damit auch) ein Aussen
    • "Macht" hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: die Einrichtung eines Rechtssystems und die Nutzung dieses Systems. (Das ist für das Hunde-Beispiel wichtig.)
  • der dritte Aspekt ist die Ethik. Wie geht man damit um, dass ein Ordnungssystem, an dessen Grenzen Unverständlichkeit entsteht, keine juridische Verpflichtung zum Überschreiten dieser Grenzen erzeugen kann?
    • dieser Punkt wird in der Diskussion oft ins Subjektive ("psychische Einstellung") gezogen

anna 07:52, 13. Jan 2006 (CET)

Im Anschluß an die letzte Vorlesungseinheit und die These, daß das Beispiel mit dem bellenden Hund eher nur im abgeleiteten Sinne ein Beispiel für Toleranz sei, möchte ich versuchen, es ein wenig abzuändern. Zunächst scheint mir diese These dahingehend plausibel, daß in diesem Beispiel eigentlich nur eine innerlich-moralische, nicht aber eine äußerlich-soziale Kollision von Ansprüchen vorliegt, nämlich zwischen jenem, das nervende Gebell im Rückgriff auf geltende Regeln abzustellen, und jenem, daß man der alten Frau nicht ihre letzte Freude im Leben nehmen könne (Sie macht diesen Anspruch ja nicht selbst geltend, indem sie um Nachsicht bittet oder dergleichen). Wenn man so will, besteht also ein Konflikt zwischen dem Anspruch des Eigennutzens und jenem des Gewissens – das macht das Beispiel tatsächlich eher zu einem moralischen, obwohl man aufgrund der Möglichkeit der Machtdurchsetzung gegen das mutmaßliche (vielleicht geht der bellende Hund auch ihr auf die Nerven?) Interesse der alten Frau wohl auch von Toleranz sprechen könnte. Doch die einfache Möglichkeit des Rückgriffs auf das verbindliche Gesetz unterschlägt ein wie ich glaube entscheidendes Moment, das im Konflikt gesetzesartiger Verbindlichkeitsansprüche liegt, der sich in diesem Beispiel bestenfalls zwischen den Gesetzen „Ich setze mein Interesse im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten durch.“ und „Ich nehme Rücksicht auf das Interesse alter Frauen.“ rekonstruieren läßt.

Nun also der Versuch, das Beispiel ein wenig abzuändern. Nehmen wir an: Das Grillen im Hof ist gestattet. Die Staatsgesetze zum Tierschutz des Landes A, in dem wir uns befinden, machen keine spezifischen Vorgaben bezüglich der Legalität oder Illegalität des Verzehrs von Hunden. Im Haus wohnt niemand, der mit den diesbezüglichen sittlichen Gepflogenheiten im Land A näherhin vertraut ist. Eine erst vor kurzem eingezogene Hauspartei, die aus dem Land B stammt, wo das Grillen von Hunden am 15. Januar eine uralte Tradition ist, bereitet im Hof einen Hund zu. Die anderen Hausbewohner, unter ihnen auch der Hauseigentümer, stammen aus dem Land C, wo der Hund ein heiliges Tier ist, und sind demgemäß empört. Sie können unmöglich nachvollziehen, aus welchem Grund man ein heiliges Tier töten und verzehren kann. Es kommt zu einem Konflikt. Der Hauspartei aus dem Land B ist es vollkommen unnachvollziehbar, aus welchem Grund man einen Hund als heilig erachten kann. Sie besteht auf der Durchführung des traditionellen Hundegrillens, ein Abbruch desselben würde sie zutiefst in ihrem Heimatgefühl verletzen. Die anderen Bewohner beraten sich, der Hauseigentümer schlägt vor, den Mietvertrag der neuen Hauspartei aus dem Land B umgehend aufzukünden und so das Problem für die Zukunft aus der Welt zu schaffen. Könnte man im Nicht-Wahrnehmen dieser Möglichkeit bzw. dem Nicht-Ausüben dieser Macht zur Durchsetzung des eigenen Anspruchs ein Beispiel von Toleranz sehen? Jakob 09:28, 15. Jan 2006 (CET)

Der Hauseigentümer hat nach Voraussetzung das Recht, im Rahmen der Gesetze Mitverträge abzuschliessen. (Das würde ich nur in einem speziell markierten Sinn "Macht" nennen.) In der Ausübung dieses Rechtes ist der Spielraum vorgesehen, dass er sein Eigentum (mehr oder weniger) nach eigenem Gutdünken vermieten darf. Jemanden zuzulassen, der diesen eigenen Vorgaben eklatant widerspricht, scheint mir tatsächlich ein Beispiel für Toleranz als Tugend. Eine Ausnahme ist die "sittenwidrige" Anwendung der Eigentumsfreiheit, gegen die man klagen kann.)

anna 11:12, 18. Jan 2006 (CET)

Das oben genannte Beispiel der Redeerlaubnis an einen Burschenschaftler in einer Veranstaltung des Bundes Sozialdemokratischer Akademikerinnen ziel in dieselbe Richtung. --anna 10:31, 6. Feb 2006 (CET)

Zu dem Beipiel möchte ich nur noch eine kleine Randbemerkung machen. Nach meinem persönlichen Empfinden gibt es noch mehr Voraussetzungen, damit das Verhalten der Mieter als tolerant gilt. Denn wenn der Mietvertrag zwar nicht aufgekündigt wird, aber die Mieter aus Land B ab diesem Tag z.B. immer zerstochene Autoreifen haben, oder bei ihrem jährlichen Grillen Nachttöpfe im Hof entleert werden so kann man das ja unmöglich als tolerant bezeichnen. Man muss also auch auf die Macht verzichten, die einen "Mobbingcharakter" hat bzw. auf gewisse Weise quälend ist. Lucia 09:41, 25. Jan 2006 (CET)



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