Gernot Böhme: Atmosphärisches in der Naturerfahrung

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Gernot Böhme: „Atmosphärisches in der Naturerfahrung“ in: Atmosphäre, (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1995), S.66-84.


Der Phänomenologie und kritischen Theorie nahe stehend, versucht Gernot Böhme in seinem Buch Atmosphäre einen neuen Grundbegriff der Ästhetik zu schaffen mit welchem sich sowohl das Kunstschöne als auch die Schönheit der Natur fassen lässt. Den Begriff „Ästhetik“ fasst Böhme in seiner ursprünglich griechischen Bedeutung als Lehre von der „Wahrnehmung“ (aisthesis). Die Anforderungen an eine ästhetische Theorie, so Böhme im Vorwort, stammen nicht von innen, d.h. aus dem traditionellen ästhetischen Diskurs sondern von außen: die „progressive Ästhetisierung der Realität, d.h. des Alltags, der Politik, der Ökonomie“ und „die durch das Umweltproblem erzwungene Frage nach einem anderen Verhältnis zur Natur“(1) fordern ein Umdenken im Feld der Ästhetik, da die klassischen Ansätze dafür nicht ausreichen. Böhmes Grundbegriff, mit dem er den genannten Anforderungen begegnen will, finden wir bereits im Titel des Buches. Er lautet: „Atmosphäre“.

Da herkömmliche ästhetische Theorien um die Kunst und die künstlerische Produktion kreisen, konnten sie ökologische Fragen natürlich nicht behandeln. Das „Umweltproblem“ ist für Gernot Böhme „primär ein Problem der menschlichen Leiblichkeit“(2) , da wir die Veränderungen in der Natur letztlich am eigenen Leib zu spüren bekommen. Deshalb darf die Umweltproblematik nicht rein naturwissenschaftlich behandelt, sondern muss auch ästhetisch (im vorhin angedeuteten weiten Sinne) angegangen werden. Eine Ästhetik der Umwelt stellt die „Frage nach dem Sich-Befinden in der Umgebung“(3) und vermag den ästhetischen Diskurs aus der Fixierung und Reduktion auf das Kunstschaffen hin zu einer Ästhetik der Lebenswelt zu erweitern. Sie untersucht nun viel grundsätzlicher „den Zusammenhang der Qualitäten von Umgebungen und Befindlichkeit“(4) . Kunst ist nicht mehr ihr primärer Gegenstand, sondern stellt nur „eine besondere Form ästhetischer Arbeit“(5) dar. Aus diesem Grunde interessiert sich Böhme auch für Themen, die in einer klassischen Ästhetik kaum Eingang gefunden haben, so z.B. für die Physiognomie von Menschen als Atmosphäre, die von ihnen ausgeht.

Im Kapitel „Atmosphärisches in der Naturerfahrung“ geht es dem Autor darum, „das Atmosphärische als ein besonderes Naturphänomen zu thematisieren bzw. als einen Gegenstand in der Natur, der in ästhetischer Zugangsweise zur Natur entdeckt wird“(6) . Böhme versucht dabei die Atmosphäre selbst konsequent als Naturphänomen zu fassen und nicht entlang der klassischen Subjekt-Objekt-Dichotomie lediglich dem Subjekt zuzuschreiben, das diese den Dingen der Natur, die objektiv bestehen, schwärmerisch beilegt. Vielmehr sind Atmosphären das erste, das wir wahrnehmen, sie sind „der primäre Gegenstand der Wahrnehmung“(7) auf deren Hintergrund erst Gegenstände unterschieden werden können. Zudem darf Atmosphäre nicht als bloßer Zusatz zu den Gegenständen der Natur verstanden werden, sondern atmosphärische Phänomene sind für Böhme z.B. der Wind, der Herbst oder der Abend. Diese Erscheinungen thematisiert Böhme mithilfe von Gedichten, die den Text einerseits einleiten und didaktisch aufbereiten, andererseits jedoch die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Natur zu beantworten versuchen.

Hauptabstoßpunkte bilden für Böhme 1) die Kantische Kritik der Urteilskraft, der er eine „Blindheit […] gegenüber dem Naturphänomen des Atmosphärischen“(8) anlastet, 2) die Hegelsche Ästhetik, die Natur zwar ästhetisch zu fassen versucht, sie jedoch letztlich als Ausdruck eines inneren Prinzips begreift, 3) Adornos Ästhetische Theorie, die der „Thematisierung atmosphärischer Phänomene am nächsten“(9) kommt, Natur jedoch im Grunde nur als „Gegeninstanz zur Gesellschaft“(10) versteht, 4) Martin Seels Naturästhetik, die wegen des rezeptionsästhetischen Zugangs Atmosphäre nicht adäquat fassen kann und 5) Cramer und Kaempfer, die Natur als „Mannigfaltigkeit von Dingen und Prozessen in ihrer naturwissenschaftlichen Objektivität“(11) fassen, was für so etwas wie Atmosphäre kaum theoretischen Raum mehr lässt. Der ästhetische Blick auf die Natur, bei welchem das Atmosphärische eine zentrale Rolle spielt, impliziert für Böhm letztlich einen anderen Begriff von „Natur“ als jenen der Naturwissenschaft und Technik.


Lukas Egger, Wien, 30. Oktober 2008


Fußnoten:

(1) Böhme, Gernot, Atmosphäre, (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1995), S.7

(2) Ebd. S.14

(3) Ebd. S.15

(4) Ebd. S.16

(5) Ebd.

(6) Ebd. S.79

(7) Ebd. S.48

(8) Ebd. S.80

(9) Ebd. S.82

(10) Ebd.

(11) Ebd. S.83