G.E. Moore - Freier Wille(FiK)

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George Edward Moore

Freier Wille (» Free Will«. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus: G. E. Moore, Grundprobleme der Ethik. München (C. H. Beck) 1975, S.119-132. (dt. Obersetzung von: Ethics. London 1912. Aus dem Englischen von Annemarie Pieper)) aus Ulrich Pothast (Hg.): Seminar: Freises Handeln und Determinismus STW 1978

In den letzten drei Kapiteln haben wir verschiedene Einwände erörtert, die sich gegen die in Kapitel II dargestellte Theorie vorbringen lassen. Der letzte von uns erörterte Einwand be­stand in der Behauptung, daß die Antwort auf die Frage, ob eine Handlung richtig oder falsch ist, nicht von den tatsächlichen Folgen der Handlung abhänge; denn eine Handlung sei immer richtig, wenn die Folgen, soweit der Handelnde sie vorherzu­sehen vermag, als die bestmöglichen erscheinen, auch dann, wenn die Folgen nicht tatsächlich die bestmöglichen sind. Mit anderen Worten: Dieser Einwand gründet sich auf die Ansicht, daß richtig und falsch in einem bestimmten Sinn davon abhän­gen, was der Handelnde wissen kann. In diesem Kapitel möchte ich nun auf Einwände eingehen, die sich im Gegensatz dazu auf die Einsicht gründen, daß richtig und falsch davon abhängen, was der Handelnde tun kann.

Man darf nicht vergessen, daß unsere ursprüngliche Theorie in einem bestimmten Sinn behauptet, ja sogar darauf besteht, daß dies der Fall ist. Wir haben im vorigen Kapitel z. B. häufig darauf verwiesen, daß sie behauptet, eine Handlung sei nur richtig, wenn sie die bestmöglichen Folgen hervorbringt; und »bestmögliche Folgen« war gleichbedeutend mit »Folgen, die mindestens ebenso gut sind wie solche, die aus einer Handlung hervorgegangen wären, welche der Handelnde anstelle der aus-geführten Handlung hätte tun können«. Die Theorie behauptet mithin, daß die Antwort auf die Frage, ob eine Handlung rich­tig oder falsch ist, immer abhängt von einem Vergleich ihrer Folgen mit den Folgen all der übrigen Handlungen, die der Handelnde an ihrer Stelle hätte tun können. Somit setzt sie voraus, daß dort, wo eine freiwillige Handlung richtig oder falsch ist (und wir haben durchweg nur von freiwilligen Handlungen gesprochen), der Handelnde in einem bestimmten Sinn an ihrer Stelle etwas anderes hätte tun können. Dies ist ein ganz wesent­licher Teil der Theorie.

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Der Leser muß sich vergegenwärtigen, daß wir die Wörter »kann«, »können« und »möglich« ständig in einem besonderen Sinn gebraucht haben. In Kapitel I haben wir erklärt, wir wür­den der Kürze halber immer dann von einem Handelnden sa­gen, er hätte eine bestimmte Handlung tun können, die er nicht getan hat, wenn es zutrifft, daß er sie getan haben könnte — wenn er sich dazu entschieden hätte; und analog haben wir mit dem, was er tun kann oder was möglich ist, immer bloß das ge­meint, was möglich ist, wenn er sich entsprechend entschieden hätte. Demnach hat unsere Theorie nicht eigentlich behauptet, daß richtig und falsch davon abhängen, was der Handelnde un­eingeschränkt tun kann, sondern nur davon, was er tun kann, wenn er sich entsprechend entscheidet. Und darin liegt ein sehr großer Unterschied. Denn indem sich unsere Theorie auf diese Weise beschränkt, vermeidet sie eine Kontroverse, welcher diejenigen, die behaupten, daß richtig und falsch davon abhän­gen, was der Handelnde uneingeschränkt tun kann, nicht aus dem Wege gehen können. Es gibt, wenn überhaupt, nur we­nige, die ausdrücklich bestreiten, daß wir, wenn wir uns ent­sprechend entschieden hätten, sehr oft wirklich etwas anderes hätten tun können als das, was wir tatsächlich getan haben. So-wie jedoch behauptet wird, daß jeder Mensch immer uneinge­schränkt etwas anderes hätte tun können als das, was er getan hat, gibt es viele, die dies bestreiten würden. Daher verwickelt uns die Ansicht, die wir in diesem Kapitel erörtern wollen — die Ansicht, daß richtig und falsch davon abhängen, was der Han­delnde uneingeschränkt tun kann —, sogleich in eine äußerst schwierige Kontroverse: die Kontroverse über den freien Wil­len. Sehr oft wird nachdrücklich bestritten, daß irgend jemand jemals etwas anderes hätte tun können als das, was er tatsächlich getan hat, oder daß er jemals etwas anderes tun kann als das, was er tun wird. Ebenso nachdrücklich wird jedoch auch das Gegenteil behauptet. Welche dieser Ansichten man auch ver­tritt, beide stehen, wenn man sie mit der Ansicht verbindet, daß richtig und falsch davon abhängen, was der Handelnde unein­geschränkt tun kann, in ernsthaftem Widerspruch zu unserer Theorie. Wer behauptet, kein Mensch hätte jemals etwas ande­res tun können als das, was er getan hat, muß, sofern er zugleich behauptet, daß richtig und falsch davon abhängen, was wir tun können, logischerweise behaupten, daß keine unserer Hand-

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