Freiheit in einigen Hinsichten (FiK)

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Version vom 11. Januar 2007, 17:09 Uhr von Koe (Diskussion | Beiträge) (Zwei Hinsichten auf zwei Gehirne: Stil)
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In meiner Dissertation arbeitete ich mit einem Sonagraphen zur Visualisierung akustischer Fragmente einer niederösterreichischen Mundart. Beispiele daraus eignen sich zur Diskussion einiger Fragen aus dem Problemfeld technischer Messungen körperlich realisierter kultureller Ereignisse.


Vier Hinsichten

Das vorliegende Spektrogramm kann als Grundlage unterschiedlicher Fragestellungen dienen. Sie beziehen sich auf jeweils eigenständige Kontexte, die - separat betrachtet - nicht aufeinander bezogen sind:

  • Akustik: Geräusche
  • Phonetik (Phone): menschliche Lautartikulation
  • Phonologie (Phoneme): "g", "r", "u", "i", "m"
  • Syntax, Semantik, Pragmatik
  • Historische Lautlehre: ui-Mundart
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Lautarten

Die Betrachtungsweisen können partiell-integrativ miteinander verbunden werden.

  • Im Frequenzspektrum lassen sich spezielle Schwärzungen feststellen.
  • Diese Schwärzungen sind mit dem menschlichen Sprechapparat korreliert: Vokale, Verschlusslaute, Reibelaute.
  • Auf dieser Basis lassen sich Lauteinheiten definieren, die eine bedeutungskonstitutive Rolle spielen.
  • Solche Phoneme unterliegen einer historischen Entwicklung
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Lautkontexte

Der menschliche Artikulationsapparat besitzt eine gewisse Trägheit. Das führt dazu, dass Phoneme nicht atomar, distinkt nebeneinander auftreten, sondern in Verschleifungsprozesse eingebettet sind. Daraus folgt, dass das Erscheinungsbild der Phoneme sich kontextgebunden ändert und dass keine eindeutigen Grenzen anzugeben sind, "wann ein Phonem beginnt". Die Fragestellung passt nicht zum empirischen Befund.

Kirsten Machelett:

In der Geschichte der Phonetik diskutierte man immer wieder darüber, ob eine Lautfolge akustisch überhaupt segmentierbar ist, und falls ja, in welchen Einheiten die Segmentierung erfolgen sollte.
Wenn wir Sonagramme lesen wollen, müssen wir uns natürlich fragen, ob das aus den artikulatorischen Bewegungen resultierende akustische Signal erkenn- und isolierbare Segmente möglichst phonemischen Charakters enthält, die wir mit entsprechenden Labeln versehen können.
Auch wenn die Vokalsegmente starke Transitionen (die beiden Vokalteile eines Diphthongs werden üblicherweise nicht getrennt) aufweisen, sind doch deutliche Segmentgrenzen zu ziehen zwischen Vokal, Nasal, Frikativ und Plosiv. Zweifellos haben einige Lauttypen von Natur aus Transitionscharakter wie z.B. Aspiration, Approximanten oder Diphthonge. Dennoch sind ihre ungefähren Anfangs- und Endgrenzen erfahrungsgemäß bestimmbar.
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Frequenzdifferenz

Beispiele für das Auftreten des Phonems "a" in einem Sonagramm.

  • vergleichsweise separat
  • im Auslaut
  • im Diphtong

Es gibt Kriterien der Phon- und Phonemgrenzen, aber es sind nicht dieselben. Eine Analyse, die auf den Artikulationsvorgang einer bekannten Sprache ausgerichtet ist, operiert mit einer Überblendung der Kriterien.

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zwischen den Hinsichten

In einem Sinn bauen die Phonetik und Phonologie auf der Akustik auf, andererseits bieten sie völlig eigenständige Perspektiven:

  • Geräusch/Lautbildung
  • labial, dental, guttural
  • Tier/Tür, Hans/Haus

die Interessen und Erklärungsverfahren differieren - was hilft eine Reduktion?

zwischen den Zeiten

Die Analyse der Schwärzungsmuster auf der Zeitkoordinate operiert mit unterschiedlichen Zeitfaktoren

  • Geräuschdauer, Physiologie, historische Lautforschung
  • speziell: der Beginn eines Segments ist von der Untersuchungsperspektive abhängig
    • wann/wo beginnt ein akustisches Ereignis, ein Phon, ein Phonem

Verschränkungen:

  • Geräusche (Räuspern)/Phone
  • verschmelzende Phone
  • Phoneme „beginnen“ überhaupt nicht


Anfangen

„Das neue Jahr beginnt.“

  • Ein astronomischer Ablauf wird durch die Brille eines Systems zur Zeiteinteilung gesehen und als eine Art Akteur angesprochen.

„Der Ausbruch einer Grippewelle“

  • Bazillen kennen den Verlauf von Epidemien nicht

Lautbeginn

  • Woher "weiss" der Dentallaut vom folgenden Vokal?

Charakteristisch für Anfänge:

  • eine gemischte Hinsicht
  • ein vorausgesetztes Kontinuum
  • eine strukturierende externe Betrachtung/Intervention

Anwendung Libet-Experiment:

lokale Erregungsveränderungen großer Nervenverbände werden unter dem Aspekt „Freiheit“ untersucht

Ergebnis: in den Millisekundenbereich werden Kennmarken für planendes Bewusstsein eingetragen

wann beginnt eine Handlung?

  • Startschuss, Türöffnen, Teekochen

Drei weitere Hinsichten

das Diagramm entscheidet nicht, ob es gut geeignet ist

  • den Scanmodus zu testen
  • eine Reklamation zu begründen

der Zweck der Verwendung des Diagramms liegt ausserhalb und lenkt seine Interpretation

  • das Diagramm kann diesen Zweck nur in seinem Rahmen unterstützen
    • der freie Wille tritt als Markierung auf einer Linie auf
Fehlfunktionen
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Zwei Hinsichten auf einen Monitor


Papageien.jpg

eine Folge von Hinsichten

  • ein technisches Gerät
  • ein LCD-Screen
  • Mustererkennung
  • bildliche Darstellung
  • Zoologie

der Direktkontakt: Elektrizität versus Papageien. Natürlich stellt das Bild am Monitor Papageien dar (normalerweise). Weil wir den ganzen Zusammenhang so eingerichtet haben. Dieser Zusammenhang läßt sich in einer Anzahl einander überlagernder Schichten nachkonstruieren.

Kann/soll man Papageien aus den Polarisationsdaten des Monitors ableiten?


Zwei Hinsichten auf zwei Gehirne


Terri schiavo Gehirn.jpg

Dieses Bild von Terri Schiavos Gehirn, im Vergleich mit einem gesunden Gehrin, löste laut Bericht von Science.orf.at, ein Umschwenken der öffentlichen Meinung aus. Ein gern benutzter Begriff in der Philosophie ist die Inkommensurabilität. Diese ist für dieses Bild in zwei Hinsichten relevant.

  • 1. Hinsicht: Das Bild zeigt zwei Schnittbilder von Gehirnen, eines hat stärkere Aufhellungen, das andere zeigt starke Verdunkelungen. Die Interpretation: das Bild mit den Aufhellungen ist ein aktives Gehirn, das mit den Verdunkelungen ist ein totes Gehirn. Voraussetzung: beide Bilder wurden an der selben Stelle, mit gleichem Winkel und dem selben Verfahren aufgenommen! Trotzdem bleibt die berechtigte Frage, ob es sich nicht um eine Inkommensurabilität handelt, wenn Bilder über den Status eines Gehirn und in weiterer Folge eines Menschen entscheiden.
  • 2. Hinsicht: Bei genauerer Betrachtung ergeben sich berechtigte Zweifel an der 1. Prämisse, bei der man von der selben Stelle und identischem Schnittwinkel ausgegangen war. Das erste Bild dürfte signifikant tiefer aufgenommen worden sein (Stirnhöhlen, Form der Hirnschale) als das zweite. Die Bilder sind daher schlicht inkommensurabel.

Formal haben wir es hier mit zwei Inkommensurabilitäten zu tun. Auf der ersten Stufe gibt es eine technische Inkommensurabilität. Die Bilder sind offensichtlich nicht unter identischen Rahmenbedingungen aufgenommen. Es handelt sich dabei um eine Täuschung deren Motivation nachvollziehbar, wenn auch sehr bedenklich ist. Weitaus bedenklicher ist jedoch, dass diese Täuschung funktioniert und auf eine offensichtliche Inkommensurabilität zwischen Bildern und Hirntod kein Wert gelegt wird. Man ist vielmehr berechtigt anzunehmen, dass die Reduktion auf eine Entscheidung zwischen zwei Bildern angenehmer ist und leichter getroffen wird, als über die Berechtigung dieses Verfahrens nachzudenken.
Dabei wird übersehen, dass über die (Nicht-)Berechtigung einer öffentlichen Meinung zu einer privaten Angelegenheit (Beendigung lebenserhaltender Massnahmen) geflissentlich hinweggegangen wird. In diesem Zusammenhang erscheint die Täuschung der Öffentlichkeit notwendig und gerechtfertigt.

Kontext

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)