Doppelspiel (AB)

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Januskopf

Es besteht eine Eintrittsbeschränkung für den Bereich der Situationen. Innerhalb der durch sie gebildeten Welt kann, was ist, nicht als Eines auftreten. Das Eine kommt erst durch unser Zählen zustand. Was war "vorher"? Intuitiv will man sagen: Vieles. Aber hier ist zu unterscheiden. Eine Art von Vielfalt ist mit der Einheit als Gegenpart eines Begriffspaars mitgegeben; sie liegt auf derselben Ebene. Eine andere Art wechselt die Ebene. Die Frage, was vor der Eins-Zählung war, verweist in den Bereich der Voraussetzung für Situationen und führt zu einer eigenartigen Konstruktion. Vorher war "Sein", und weil es nicht Eines sein kann/darf, muss es als vielfältig gedacht werden. Diese Überlegung verknüpft zwei Motive:

  • Zu jedem Eins gibt es Vielfalt
  • Wo Eins nicht zugelassen ist, besteht Vielfalt.

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An diesem Punkt nähert sich Badiou dem Plotinschen Entfaltungsmodell. Dem Einen wird ein Platz in der Ökonomie der Weltentstehung zugewiesen. Er liegt nicht auf der Ebene des Seins, sonst könnte man es besprechen. Das Eine (!) "operiert", es entfaltet eine Wirkung, und zwar aus dem Hintergrund möglicher Präsentationen. Im Unterschied zu Plotin ist das nicht-existierende Eine Badious allerdings vielfältig. Im Emanationsmodell muss es eine Verbindung zwischen den, wie immer qualitativ unterschiedlichen, Stufen geben. Diese Verbindung gewährleistet bei Badiou die Zweideutigkeit von "Vielfalt".

BadiouEtreEvent7.jpeg

Ein Terminus ("vielfältig") wird in zwei Bereichen eingesetzt, für welche dazu auch eine strikte Qualitätsdifferenz festgelegt wurde. "Vielfältig" kann im Bereich des Seins genau genommen nicht dasselbe heissen, wie unter Seiendem, das sagt Badiou selber. Die Problemstellung ist typisch für metaphysische Gedanken. Die Idee des Pferdes kann nicht gedacht werden, wie Pferde - und hat dennoch etwas mit ihnen zu tun. Die Kunst besteht also darin, die ungleiche Gleichheit zu explizieren. Zwei Denkstrategien sollen simultan erfüllt werden:

  • eine umfassende Grenzziehung, inklusive der Einrichtung eines Bereiches jenseits aller Phänomene
  • eine passende Grenzüberschreitung, in welcher sich das "Jenseits" im "Diesseits" bemerkbar macht

Die Analogia entis, Hegels Dialektik und Heideggers Seinsgeschichte sind solche Versuche. Badiou setzt an diese Stelle das Verhältnis zwischen der Cantorschen Mengenlehre und der Axiomatisierung durch Zermelo-Fraenkel. Seine Struktur fungiert als Januskopf. Rückwärtsgewandt unifiziert sie Mannigfaltigkeiten, die nichts mit Einheit zu tun haben, prospektiv resultiert sie in Mannigfaltigkeiten, die sich mit Einheit verbinden.

Eine kühne Wendung. Zur Gegenprobe zeige ich, wie Wittgenstein im Tractatus ein äquivalentes Problem behandelt.

Eigenschaftslose Gegenstände im Tractatus

Die Art und Weise, wie die Gegenstände im Sachverhalt zusammenhängen, ist die Struktur des Sachverhaltes. (T 2.032)
Wenn ich mir den Gegenstand im Verbande des Sachverhalts denken kann, so kann ich ihn nicht außerhalb der Möglichkeit dieses Verbandes denken. (T 2.0121)

Gegenstände begegnen notwendig in Strukturen. Durch ihre Konfiguration werden sie präsentiert. Nur so können sie Eigenschaften besitzen. Auf Ganze gesehen ist ein Gegenstand dadurch gekennzeichnet, dass er in bestimmten Strukturen der Welt dieselbe Stelle einnimmt. Der Schaukelstuhl meines Opas ist jenes Etwas, das in den einschlägigen Zusammenhängen eine gewisse Rolle erfüllt.

Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten. (T 2.0123)

Die Frage ist nun, gegeben Wittgensteins totaliserte Welt, was Opas Schaukelstuhl abgesehen von seinem Auftreten in Weltzusammenhängen ist oder sein kann. Die Katze scheint sich in den Schwanz zu beissen. Einerseits benötigt man eine Kenntnis des Dinges, um genau die Eigenschaften angeben zu können, die ihm zukommen. Andererseits soll das Ding nichts anderes sein, als das Insgesamt seiner Eigenschaften in Strukturen. Ein "nacktes" Ding, ohne seine internen Eigenschaften, hat nichts in Sachverhalten zu suchen.

Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten, ist die Form des Gegenstandes. (T 2.0141)
Der Gegenstand ist einfach. (T 2.02)
Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten, ist die Form des Gegenstandes. (T 2.0141)
Es ist offenbar, dass auch eine von der wirklichen noch so verschieden gedachte Welt Etwas - eine Form - mit der wirklichen gemein haben muss. (T 2.022)
Diese feste Form besteht eben aus den Gegenständen. (T 2.023)
Die Substanz der Welt kann nur eine Form und keine materiellen Eigenschaften bestimmen. Denn diese werden erst durch die Sätze dargestellt - erst durch die Konfiguration der Gegenstände gebildet. (T 2.0231)
Beiläufig gesprochen: Die Gegenstände sind farblos. (T 2.0232)

Diese Auskünfte sind Badious Festlegungen einerseits diametral entgegengesetzt, andererseits adressieren sie präzise das selbe Problem. Die Zählung-als-Eins produziert Einheiten, die in Strukturen organisiert sind. Wie sind die Elemente, welche in die Strukturen eingehen, per se beschaffen? Sie müssen irgendwie zugänglich sein, auch wenn ihnen das den Status eines "Dings an sich" verleihen sollte. Ohne Dinge aus Zusammenhängen herausheben zu können, gelingen nämlich keine Aussagesätze. Wittgenstein bedient sich eines platonisierenden Hilfsmittels, um die Schwierigkeit zu lösen. Genau dieses Mittel wehrt Badiou ab. Wittgensteins Konsequenzen machen der Themenstellung ein Ende, während Badious Alternative zur Wittgensteinschen Lösung eine weiter ausformulierbare Verbindung zwischen Unsagbarem und Gesprächsgegenständen herstellt.

Der Platonismus Wittgensteins: Gegenstände sind einfach auf Grund ihrer Form. Sie ist ein Kürzel dafür, dass sie etwas haben, was ihnen in allen faktischen Verhältnissen, in denen sie vorkommen können, gemeinsam ist. Sprachlich drückt sich das so aus, dass "Satzvariable" genau jene Strukturen von Sätzen erfassen, welche einen Gegenstand betreffen. Die Form des Gegenstandes bestimmt, in welchen Sachverhalten er vorkommen kann, damit vermeidet Wittgenstein den Zirkelschluss. Nun fragt sich freilich, wie an diese Form heranzukommen ist und da ist Schluss. So etwas zeigt sich und kann nicht weiter besprochen werden. Diese Lösung ist auch eine Auflösung des Problems. Die Meinungen über diese Strategie sind geteilt, uns interessiert, wie es bei Badiou aussieht.

Zunächst: Es besteht überraschend Einigkeit darin, dass "eine von der wirklichen noch so verschieden gedachte Welt" Gemeinsamkeiten mit der wirklichen Welt besitzen muss. Das ist eine Pointe von Badious "die Welt verändern". Für Wittgenstein ist das die feste Form der Gegenstände, Badiou steht sie nicht zur Verfügung. Was kann dann der Festpunkt für Weltkonstanz jenseits einzelner Welten sein? Sicher nicht "pure ontologische Vielfältigkeit" als Substitut des Einen. Aus der Meditation 1 läßt sich keine Antwort erschließen.

Interessant ist, dass Wittgensteins Überlegungen über "nackte" Gegenstände mit Badious Intuitionen gut zusammenstimmen. Die Substanz der Welt befindet sich nicht in unserem sprachlichen Griffbereich. Dieses Eine ist nicht für weltliche Sätze zugänglich. Wittgenstein ist insofern konform zu Badiou, als er keine urspüngliche Einheit (eines Gegenstandes) als Thema für Weltbeschreibungen zuläßt. Mehr noch, er charakterisiert seine Gegenstände als pure Mannigfaltigkeiten. Sie seien farblos, das heißt, es gibt sie als färbige, auch wenn keine Möglichkeit besteht, ihre Farbe anzugeben.

Der Fleck im Gesichtsfeld muss zwar nicht rot sein, aber eine Farbe muss er haben: er hat sozusagen den Farbenraum um sich. Der Ton muss eine Höhe haben, der Gegenstand des Tastsinnes eine Härte, usw. (T 2.0131)

Der Fleck hat eine Farbe, aber nichts erlaubt uns, sie für den puren Fleck herauszufinden. Das sieht ziemlich grenzwertig aus.

Badiou weichgezeichnet

Ein Motiv der teilweise pizzeligen Lektüre dieser Seiten ist die teilweise sorglose Vorgangsweise anderer Interpreten.

Christopher Norris: Badiou's Being and event: a reader's guide. New York 2009

What mathematical developments since Cantor have at last achieved is a genuine working grasp of those issues that proved so vexatious for Parmenides and Plato, and whose legacy Badiou will trace in Being and Event as it surfaces repeatedly to complicate the thinking of (among others) Aristotle, Descartes, Pascal, Leibniz, Spinoza and Hegel. Thus the one can now be treated as the product of a certain formal operation, that is to say, a procedure of counting or grouping that imposes some order on an otherwise inchoate since open-ended multiplicity but which is always - and for just that reason - exposed to the potentially disturbing effect of that which finds no place in the existing conceptual domain since it exists as a 'supernumerary ' element excluded from the count-as-one.
Hence the two main theses which Badiou takes as 'prerequi­sites for any possible ontology': first that '[t]he multiple from which ontology makes up its situation is composed solely of multiplicities. There is no one. In other words, every multiple is a multiple of multiples'; and secondly, that '[t]he count-as- one is no more than the system of conditions through which the multiple can be recognized as multiple' (p. 29). An other way of putting this is to draw a distinction between 'consistent' and 'inconsis­tent' multiplicity. The former is defined by Badiou as that which results from some preceding count or formal operation, whereas the latter must be thought of as itself pre-existing, surpassing and eluding the count-as-one yet also - since of course that operation must have something to operate on - as providing its necessary starting point or precondition. (S.40)

Diese Darstellung arbeitet unter anderem mit folgenden großflächige Einschätzungen, um Badious Text zu beleuchten:

  • "Mathematische Entwicklungen" haben die traditionellen philosphischen Probleme aufgeklärt.
  • "Das Eine" der Philosophen kann jetzt als Ergebnis einer Mengenbildung verstanden werden.
  • Die Mengenbildung unterliegt einem Störeffekt, weil sie immer etwas ausschließt.
  • Der Mengenbildung liegt eine inkonsistente Vielheit zu Grund, als notwendiger Ausgangspunkt der Operation.

Mathematik und Philosophie? Cantor und axiomatische Mengentheorie? Mengentheorie und Störeffekte? Ein Ursprung der Mengenbildung?

Ray Brassier: Nihil Unbound Enlightenment and Extinction. New York 2007

For in fact, the split between counted consistency and uncounted inconsistency, or structure and being, is an index of the underlying identity between the inexistence of structure (i.e. counting) and the inexistence of inconsistency (i.e. being itself ). To grasp this identity is to grasp how the law of the count as condition for existence, which renders presentation possible by precluding the presentation of inconsistent multiplicity (i.e. being itself ), is ultimately indiscernible from the ontological inconsistency whose presentation it forecloses. Thus the non-being (non-être) of the One, the merely nomological status of structure, converges asymptotically with the being-nothing (être-rien) of inconsistent multiplicity, whose necessary impossibility is retroactively attested to by the structure of the count. It is in this sense that, for Badiou, ontology complies with the Parmenidean injunction according to which ‘thinking and being are the same’ (Badiou 1988: 49, 2006a: 38 tm): the sense in which theirs is an identity without relation. Thinking and being are both nothing. (S.101)