Diskussion:M. Deiman, R. Farrow: Open Education and Bildung (BD(14)

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Eine freie Assoziation zu der Aufforderung, sich Gedanken zu einer Theorie der Erziehung durch „Bildungsmaschinen“ zu machen, die über eine Interpretation von zwei Problemstellungen bei Rousseau führt. Rousseau hatte es in seiner Theorie der Erziehung hauptsächlich mit zwei Problemen zu tun:

1. Das erste Problem war, dass er seinen Emil zu einem eigenständigen, autonomen Individuum erziehen wollte, dessen „gute Natur“ sich durch eine möglichst freie Entwicklung entfalten können sollte. Das Problem war, dass Rousseaus Meinung nach der Mensch als Gattung dem „natürlichen Zustand“ unwiederbringlich entfremdet worden war. Aus diesem Grund sollte Emil zum „Bürger“ erzogen werden der in einer „zweiten Geburt in die Gesellschaft“ seine natürliche Freiheit gegen eine vertragliche tauscht. – Rousseau wechselt hier quasi die Schablone, den Modus der Existenz (bei Rousseau in anthropologischem Sinne) der Vorbereitung auf die Gesellschaft. Rousseau löst das Problem des Übergangs von autonomer Selbstentfaltung zu vertraglicher Autonomie mit einem „Ruck“; wird nur die „Güte des Menschen“ durch „Zeit-Geben“ erhalten, dann wird das so aufgewachsene Wesen eine Moralität entwickeln, die es als autonomen und aufgeklärten Bürger kennzeichnet. Der Ruck zeigt sich darin, dass Rousseau nur eine bestimmtes Alter angibt, in dem dieser Übergang passieren sollte. Will man sich nicht in eine wohl fruchtlose entwicklungspsychologische Untersuchung verstricken, die bestimmt, wann der Übergang von der „spielerischen“ zur „bürgerlichen“ Autonomie stattfinden könnte, bleibt wenig übrig, um einen solchen Punkt bestimmen zu können. Rousseau mogelt sich über diese Unbestimmbarkeit hinweg, indem er schnell wie eine Magierin, die die Tischdecke unter einem reich gedeckten Tisch wegzieht, ohne dass etwas zu Bruch geht, eine Schablone mit der anderen vertauscht. Was haben die beiden Schablonen miteinander zu tun? Rousseaus Emil sollte abgeschieden von der Gesellschaft aufwachsen und sich nur selbst versorgen lernen (nur das nötige Wissen vermitteln und dazu anregen, es nutzbar zu machen), jegliche „Zivilisiertheit“ (Rousseau war ein entschiedener Gegner der (höfischen) „Hochkultur“) sollte vermieden werden. Eine Erziehung möglichst unbeeinflusst von der Gesellschaft. Für eben diese Gesellschaft sollte Emil aber erzogen werden, also für eine Gesellschaft, die er nie kennengelernt hat. Wie schmuggelt uns Rousseau dieses Verhältnis unter, ohne dass es verdächtig aussieht?

Dieser magische Trick funktioniert nur, wenn ein schwindelerregendes Manöver durchgeführt wird, das die Welt um 90 Grad verdreht, während die Bewegungsrichtung des Prozesses die gleiche bleibt. Die „spielerische“ Autonomie, mit der sich der Zögling entfaltet, bewegt sich als Trajektorie in einem Prozess hin zu einem Ziel: der Entwicklung der „guten Natur“ ihrem Telos entsprechend. Mit einem Ruck wird das Bild um 90 Grad gedreht, wobei der Bewegungsimpuls des Prozesses (die Trajektorie) gleich bleibt. Derselbe Impuls setzt sich fort, aber nun nicht mehr als Prozess hin auf ein Resultat (autonomer Mensch), sondern als Trajektorie, die in normalem Winkel zwischen Prozess und Resultat verläuft. Diese zweite Art der Autonomie, die „bürgerliche“, bewegt sich quer zu Ziel und Prozess und bestimmt wohin der Prozess führt und wie Resultate den Prozess beeinflussen. Frei interpretiert könnte man sagen: es geht der zweiten Autonomie ausgehend vom zweiten Resultat (autonomer Bürger) um die Bestimmung der „Güte“ der Bewegung des Prozesses hin zum ersten Resultat (autonomer Mensch).

Das beleuchtet die moralische Intention Rousseaus. Die „bürgerliche“ Autonomie prüft die Verhältnisse zwischen Prozess und Resultat (autonomer Mensch) und garantiert die Entwicklung der Gattung Mensch hin zum Guten, wobei nicht die Gattung selbst, sondern jeder Einzelne erzogen wird.

Ungeachtet dessen, dass eine solche Hoffnung auf die Entwicklung der Menschheit nicht unbedingt geteilt werden muss, ergibt sich zusätzlich das Problem, dass dieser 90gradige „Ruck“ nicht recht einleuchtet. Natürlich kann man ihn empirisch belegen, etwa wenn jemandem das Wahlrecht, ein Führerschein und eine Berechtigung gegeben ist, Alkohol zu konsumieren; diese drei Berechtigungen befreien und verpflichten gleichermaßen. Aber nur weil es sich dabei um einen banalen Fakt handelt, heißt das nicht, dass es nicht doch ein wenig merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass durch die Verleihung des Wahlrechts, eines Führerscheins und die Berechtigung zum Alkoholkonsum die Welt jedes 18jährigen (m/w) sich um 90 Grad dreht.

Im Text von Deiman/Farrow wurde der Begriff „Bildung“ zweifach verwendet: einmal als Prozess (freier Zugang zu Lerninhalten) und einmal als Resultat (Ergebnis von Lernhandlungen). Etwas unterbelichtet blieb die Frage, inwiefern Prozess und Resultat dieses Bildungsbegriffes zueinander im Verhältnis stehen. Eine Entfaltung (bloße Forderung nach freiem Zugang zu Lerninhalten) verläuft ungelenkt und kann so zu Resultaten (Bildung) führen, oder auch nicht. Die Schwierigkeit, nicht nur „Eliten“ abzuschöpfen wurde ja erwähnt.

Zu lösen wäre dieses Problem vielleicht, indem man wie oben annimmt, dass das Resultat mehr ist als das Ende des Prozesses. Es eignet sich, führt man die 90gradige Drehung durch, auch als Möglichkeit der Bestimmung der Qualität des Prozesses, der zu dem Resultat des „Gebildet-Seins“ führt. Der „Ruck“ könnte, in Bezug auf MOOCs, ein abrupter Wechsel zwischen einer „Spielatmosphäre“ und einer „Lernatmosphäre“ sein. Der Wechsel von einem spielerischen Schwärmen hin zu einer präzisierenden Prüfung, aus der ein weiteres Schwärmen entsteht, das eine höhere Stufe der Generalisierung erlangt hat. Anstatt darauf hinzuweisen, dass gelernt wird und nicht gespielt, wird der Unterschied zwischen Spielen und Lernen in einem so angelegten Verhältnis manchmal gar nicht auffallen.

Dies stellt allerdings nur eine Möglichkeit dar, das Verhältnis von Prozess und Resultat im Begriff „Bildung“ zu interpretieren und zu konstruieren. Worum es in dem Eintrag geht ist, dass der Begriff „Bildung“ problematisch bleibt, wenn man nicht die 90gradige Drehung zwischen Bildung als Prozess hin zu einem Ziel (der ja eben gerade dann nicht endet, wenn man gebildet ist) und Bildung als Resultat (Sich-bilden-Wollen, Sich-bilden-Können, das die Qualität des Verhältnisses zwischen Resultat und Prozess überprüft und dabei selbst auf den Prozess und das Resultat einwirkt) bewusst einführt und diese beschreiben kann.

Rousseau ist es nicht gelungen den Übergangspunkt zu beschreiben und so bleibt sein Konzept der „zweiten Geburt in die Gesellschaft“ dunkel. Deiman/Farrow zeigen zwar, dass einen solchen 90gradigen Knick geben müsste, aber sie fordern noch die Theorie dafür. Ich habe zwar oben versucht eine Möglichkeit zu zeigen, wie ein solcher „Ruck“ bewerkstelligt werden könnten (weitgehend unbemerkte Sequenzierung von Spiel/Lernen) aber das ist natürlich noch keine Theorie.

Zu suchen wäre also eine Philosophie der Pädagogik, die sich dieses 90gradigen Knicks bewusst ist und die diesen besser anzuzeigen versucht als bloß durch „Zeugnisse“ (sei es die Verleihung der Mitgliedschaft im Gesellschaftsvertrag oder ein Diplom), oder sogar nur durch das Geburtsdatum. Diese „Bildungsziele“ sind viel zu ungenau, weil sie nicht den „Knick“, die Veränderung der Welt bei gleichbleibender Trajektorie, zur richtigen Zeit bestimmen und motivieren können. Eine Theorie der MOOCs müsste hier ihre Anwendung finden und plausibel machen.

2. Das zweite Problem bei Rousseau ist, dass nur der Lehrende (m/w) und dessen Initiativen (z.B. das Setzen eines settings der Erziehungssituation), denen der Zögling Folge leistet, weil er weiß, dass er nur so seine Autonomie ganz für seine eigene Entwicklung verwenden kann, dafür sorgen kann, dass der Zögling sich emanzipiert. Die Freiheit, die durch Gehorsam erreicht wird geht bei der „zweiten Geburt“ in die Freiheit, die durch den Gesellschaftsvertrag erhalten wird, über. Das Problem ist, dass der Lehrer, um emanzipieren zu können, selbst emanzipiert sein muss. Wie sollte das gewährleistet werden können? Rousseau betrachtete die Emanzipation wohl so wie eine benigne Epidemie, ein „Fieber der Freiheit“, das sich im Schneeballprinzip verteilen sollte. Es klingt überzeugend. Nicht nur wenn man Rousseaus Hoffnung auf die Verbesserung der Verhältnisse der Gesellschaft teilt, sondern auch, wenn man davon überzeugt ist, dass die Möglichkeit besteht, die bestmöglichen Erzieher dem größtmöglichen Teil der Bevölkerung zugänglich zu machen.

Wer Rousseaus Hoffnung nicht teilt und die Möglichkeiten der Bildung für bescheidener hält, als es der fromme Anspruch der „Besten Lehrer/innen für die meisten Zöglinge“ verlangt, der bleibt auf die Frage zurück geworfen, wie man die „Emanzipation“ derart dokumentierbar macht, dass sie einerseits angeregt werden kann und andererseits darauf reagiert werden kann, wenn das sich rhizomhaft ausbreitende Netz der „Emanzipation“ Lücken hat, die zur Abflachung der „Infektionskurve“ führen.

„Emanzipation“ als Prozess hat „Autonomie“ zum Ziel. Allerdings nicht die „spielerische“ Autonomie, die der Modus des „guten Menschen“ darstellt, sondern die „bürgerliche“ Autonomie, die darin besteht, die „natürliche“ Freiheit aufzugeben und dafür die „bürgerliche“ zu erlangen. Der Lehrer steht genau an dem Punkt des „Knicks“, denn er, vorausgesetzt er ist selbst emanzipiert, bewegt die Welt des Zöglings, im besten Fall ohne dessen Trajektorie zu verändern, auf die „richtige“ Art und Weise. Ein guter Lehrer ist ein guter „Knicker“, er hat den Fingerdreh heraus, um einen „Ruck“ zu machen. Wir wissen damit noch nicht, wie man gute Lehrer ausbildet, aber wir halten fest, dass er die Möglichkeit hat (vielleicht sogar unter anderem spezifisch dafür ausgebildet werden sollte), einen solchen „Knick“ zwischen Spiel (Schwärmen) und Lernen (Präzisierung) herstellen zu können (vielleicht sogar so, dass der „Knick“ erst dann auffällt, wenn etwas gelernt wurde).

Das ist eine triviale Erkenntnis, aber sie rückt den Begriff „Lehrer“ in den Vordergrund der Überlegungen, weil sich dieser anscheinend als Prinzip für eine von Deiman/Farrow geforderte Theorie eignet. Was macht eine gute Lehrerin aus? Es ist wohl besser damit anzufangen, was sie nicht unbedingt für Voraussetzungen mitbringen muss: Sie muss nicht erklären können, denn Lerninhalte sind selbsterklärend, wenn sie gut genug aufbereitet werden, dass eine Erklärung von Seiten der Lehrerin der Erklärung, die im Lerninhalt selbst verpackt liegt, nichts wesentliches mehr hinzufügen kann. Sie muss nicht animieren, denn das kann zum Beispiel durch ein System von „achievements“ substituiert werden. Überhaupt scheinen viele Fertigkeiten der Lehrerin an nicht-menschliche Akteure delegiert werden zu können, besonders wenn die beiden oben beschriebenen „Tests“ der „Anregung zur Emanzipation“ und der Suche nach den „Lücken im Netz“ herangezogen werden, dann scheint sich ein „Prüfprotokoll“ schreiben zu lassen, dass für beide Ansprüche Daten produzieren kann. Eine derart unfassende Dokumentation scheint nur bei datenbankgestützten Lernsystemen möglich zu sein; angewendet auf menschliche Erziehungsmethoden wäre die Dokumentation erheblich schwieriger.

Die Frage nach der richtigen Lehrperson ist auch für MOOCs von Bedeutung, denn diese sollen viele Aufgaben des Lehrers substituieren; man muss wissen, was man an Technologien delegieren muss, um einen menschlichen Akteur zu ersetzen. Ich sagte „viele Aufgaben“ und nicht „alle“, weil, so scheint die „Stimmung“ der bisher in der Lehrveranstaltung zugänglich gemachten Texte betreffend MOOCs und eLearning im Allgemeinen zu sein, immer noch von einer palliativen Unterstützung gesprochen wird und die Rufe nach der Ersetzung der menschlichen Erzieher sich in Grenzen halten. Es muss also doch noch etwas geben, das nicht delegiert werden kann. Mir fällt – hoffentlich ist der oder die Lesende, die bis hier her gefolgt ist, nicht enttäuscht, dass keine große Konklusion am Ende steht – leider nichts Besseres ein als die „Vorbildwirkung“. Ein Artefakt kann kein Vorbild sein.

Die „Vorbildwirkung“ ist eine sehr Kantisch gedachte Antwort auf das Erzieherproblem bei Rousseau: man kann nur auf die Vorbildwirkung vertrauen, eine andere Sicherheit gibt es nicht. Ich selbst bin ein großer Fan von guten Lehrenden (m/w) und ich habe bisher kein Ding gesehen, das nicht absolut ignorant gewesen wäre im Vergleich zu einem guten menschlichen Erzieher. Deswegen fällt es mir nicht leicht, den Begriff des „Lehrenden“ (m/w) auf ein derartiges Minimum zu reduzieren und es klingt wohl etwas seltsam wenn ich sage, dass es mir am liebsten wäre, wenn es gelänge, noch die letzten „Rückzugspunkte des Subjekts“ (wie eben die „Vorbildwirkung“) noch substituieren zu können, allerdings nicht mit dem Ziel, die Lehrenden (m/w) zu substituieren oder gar weg zu rationalisieren, sondern um die nicht-menschlichen Erzieher mit diesen auf Augenhöhe zu bringen, wenn sich dadurch auch in der Fähigkeit des Erziehens der menschlichen Erzieher konstruktive Effekte ergeben. Erst wenn der Begriff „Bildung“ übersetzbar wird, transportierbar wird, kann er als theoretische Basis für eine Bildung im Sinne von Deiman/Farrow dienen. Es scheint alles eine sehr heikle Angelegenheit zu sein... Denn Fingerspitzengefühl ist nicht unbedingt eine menschliche Eigenschaft, Beleidigt-Sein schon.

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