Diskussion:M. Deiman, R. Farrow: Open Education and Bildung (BD(14)

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Eine freie Assoziation zu der Aufforderung, sich Gedanken zu einer Theorie der Erziehung durch „Bildungsmaschinen“ zu machen, die über eine Interpretation von zwei Problemstellungen bei Rousseau führt. Rousseau hatte es in seiner Theorie der Erziehung hauptsächlich mit zwei Problemen zu tun:

1. Das erste Problem

war, dass er seinen Emil zu einem eigenständigen, autonomen Individuum erziehen wollte, dessen „gute Natur“ sich durch eine möglichst freie Entwicklung entfalten können sollte. Das Problem war, dass Rousseaus Meinung nach der Mensch als Gattung dem „natürlichen Zustand“ unwiederbringlich entfremdet worden war. Aus diesem Grund sollte Emil zum „Bürger“ erzogen werden der in einer „zweiten Geburt in die Gesellschaft“ seine natürliche Freiheit gegen eine vertragliche tauscht. – Rousseau wechselt hier quasi die Schablone, den Modus der Existenz (bei Rousseau in anthropologischem Sinne) der Vorbereitung auf die Gesellschaft. Rousseau löst das Problem des Übergangs von autonomer Selbstentfaltung zu vertraglicher Autonomie mit einem „Ruck“; wird nur die „Güte des Menschen“ durch „Zeit-Geben“ erhalten, dann wird das so aufgewachsene Wesen eine Moralität entwickeln, die es als autonomen und aufgeklärten Bürger kennzeichnet. Der Ruck zeigt sich darin, dass Rousseau nur ein bestimmtes Alter angibt, in dem dieser Übergang passieren sollte. Will man sich nicht in eine wohl fruchtlose entwicklungspsychologische Untersuchung verstricken, die bestimmt, wann der Übergang von der „spielerischen“ zur „bürgerlichen“ Autonomie stattfinden könnte, bleibt wenig übrig, um einen solchen Punkt bestimmen zu können. Rousseau mogelt sich über diese Unbestimmbarkeit hinweg, indem er schnell wie eine Magierin, die die Tischdecke unter einem reich gedeckten Tisch wegzieht, ohne dass etwas zu Bruch geht, eine Schablone mit der anderen vertauscht. Was haben die beiden Schablonen miteinander zu tun? Rousseaus Emil sollte abgeschieden von der Gesellschaft aufwachsen und sich nur selbst versorgen lernen (nur das nötige Wissen vermitteln und dazu anregen, es nutzbar zu machen), jegliche „Zivilisiertheit“ (Rousseau war ein entschiedener Gegner der (höfischen) „Hochkultur“) sollte vermieden werden. Eine Erziehung möglichst unbeeinflusst von der Gesellschaft. Für eben diese Gesellschaft sollte Emil aber erzogen werden, also für eine Gesellschaft, die er nie kennengelernt hat. Wie schmuggelt uns Rousseau dieses Verhältnis unter, ohne dass es verdächtig aussieht?

Dieser magische Trick funktioniert nur, wenn ein schwindelerregendes Manöver durchgeführt wird, das die Welt um 90 Grad verdreht, während die Bewegungsrichtung des Prozesses die gleiche bleibt. Die „spielerische“ Autonomie, mit der sich der Zögling entfaltet, bewegt sich als Trajektorie in einem Prozess hin zu einem Ziel: der Entwicklung der „guten Natur“ ihrem Telos entsprechend. Mit einem Ruck wird das Bild um 90 Grad gedreht, wobei der Bewegungsimpuls des Prozesses (die Trajektorie) gleich bleibt. Derselbe Impuls setzt sich fort, aber nun nicht mehr als Prozess hin auf ein Resultat (autonomer Mensch), sondern als Trajektorie, die in normalem Winkel zwischen Prozess und Resultat verläuft. Diese zweite Art der Autonomie, die „bürgerliche“, bewegt sich quer zu Ziel und Prozess und bestimmt wohin der Prozess führt und wie Resultate den Prozess beeinflussen. Frei interpretiert könnte man sagen: es geht der zweiten Autonomie ausgehend vom zweiten Resultat (autonomer Bürger) um die Bestimmung der „Güte“ der Bewegung des Prozesses hin zum ersten Resultat (autonomer Mensch).

Das beleuchtet die moralische Intention Rousseaus. Die „bürgerliche“ Autonomie prüft die Verhältnisse zwischen Prozess und Resultat (autonomer Mensch) und garantiert die Entwicklung der Gattung Mensch hin zum Guten, wobei nicht die Gattung selbst, sondern jeder Einzelne erzogen wird.

Es ist lehrreich, diese Konzeption mit den Linien zu vergleichen, die Schiller und Fichte verfolgen. Bei ihnen steht nicht die "gute Natur", die durch die Gesellschaft verbildet wird am Anfang, sondern zwei andere Schablonen, nämlich die Materialentwicklung und ihre Überformung vom Ideal. Die 90 Grad Ablenkung verstehe ich nicht rect. kann man das näher erklären? Bei den Deutschen würde ich von 180 Grad und einer rekursiven Schleife sprechen. --anna (Diskussion) 11:15, 11. Dez. 2014 (CET)

Ungeachtet dessen, dass eine solche Hoffnung auf die Entwicklung der Menschheit nicht unbedingt geteilt werden muss, ergibt sich zusätzlich das Problem, dass dieser 90gradige „Ruck“ nicht recht einleuchtet. Natürlich kann man ihn empirisch belegen, etwa wenn jemandem das Wahlrecht, ein Führerschein und eine Berechtigung gegeben ist, Alkohol zu konsumieren; diese drei Berechtigungen befreien und verpflichten gleichermaßen. Aber nur weil es sich dabei um einen banalen Fakt handelt, heißt das nicht, dass es nicht doch ein wenig merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass durch die Verleihung des Wahlrechts, eines Führerscheins und die Berechtigung zum Alkoholkonsum die Welt jedes 18jährigen (m/w) sich um 90 Grad dreht.

Im Text von Deiman/Farrow wurde der Begriff „Bildung“ zweifach verwendet: einmal als Prozess (freier Zugang zu Lerninhalten) und einmal als Resultat (Ergebnis von Lernhandlungen). Etwas unterbelichtet blieb die Frage, inwiefern Prozess und Resultat dieses Bildungsbegriffes zueinander im Verhältnis stehen. Eine Entfaltung (bloße Forderung nach freiem Zugang zu Lerninhalten) verläuft ungelenkt und kann so zu Resultaten (Bildung) führen, oder auch nicht. Die Schwierigkeit, nicht nur „Eliten“ abzuschöpfen wurde ja erwähnt.

Zu lösen wäre dieses Problem vielleicht, indem man wie oben annimmt, dass das Resultat mehr ist als das Ende des Prozesses. Es eignet sich, führt man die 90gradige Drehung durch, auch als Möglichkeit der Bestimmung der Qualität des Prozesses, der zu dem Resultat des „Gebildet-Seins“ führt. Der „Ruck“ könnte, in Bezug auf MOOCs, ein abrupter Wechsel zwischen einer „Spielatmosphäre“ und einer „Lernatmosphäre“ sein. Der Wechsel von einem spielerischen Schwärmen hin zu einer präzisierenden Prüfung, aus der ein weiteres Schwärmen entsteht, das eine höhere Stufe der Generalisierung erlangt hat. Anstatt darauf hinzuweisen, dass gelernt wird und nicht gespielt, wird der Unterschied zwischen Spielen und Lernen in einem so angelegten Verhältnis manchmal gar nicht auffallen.

Dies stellt allerdings nur eine Möglichkeit dar, das Verhältnis von Prozess und Resultat im Begriff „Bildung“ zu interpretieren und zu konstruieren. Worum es in dem Eintrag geht ist, dass der Begriff „Bildung“ problematisch bleibt, wenn man nicht die 90gradige Drehung zwischen Bildung als Prozess hin zu einem Ziel (der ja eben gerade dann nicht endet, wenn man gebildet ist) und Bildung als Resultat (Sich-bilden-Wollen, Sich-bilden-Können, das die Qualität des Verhältnisses zwischen Resultat und Prozess überprüft und dabei selbst auf den Prozess und das Resultat einwirkt) bewusst einführt und diese beschreiben kann.

Die Prozess/Resultat-Unterscheidung ist wichtig. Ich sehe sie allerdings etwas anders. Der Bildungsprozess beginnt beim ungebildeten Zustand und hat an diesem Punkt das Ziel ausserhalb seiner selbst. Naturanlagen entwickeln sich und da kann alles mögliche herauskommen. Rousseaus "gute Wilde" sind eine steile Idealisierung. Fragt sich, wie dieser Prozess zu einem Resultat kommt. Als solches Resultat will man nicht einen externen Zweck ansetzen, also z.B. die Kenntnis pragmatischer Lebensregeln, sondern eine interne Prozessführung, also eine Teleologie. Eben keinen Ruck, nach deutscher Sichtweise. Und das Wird durch Bildung im zweiten Sinn, als erreichter Zustand zertifiziert.
Eine "gebildete Person" verfügt frei über die kognitiven und sozialen Komponenten des Prozesses, die sie sich angeeignet hat. Sie stellt ein souveränes Äquilibrium zwischen den Ausgangsbedingungen ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Selbstbestimmung her. Sie "spielt sich" mit der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft.
Wie steht das zum (weiter unten) angeführten "Knick"? Nennen wir ihn eine "paradoxe Intervention", die aus einer Distanz zum Herkömmlichen stammt und es (vgl. Deiman/Farrow) punktuell durcheinanderbringt. Die am Organischen orientierten Bildungskonzepte haben Schwierigkeiten, solche Brüche zu erfassen. Sie versuchen die Muster "Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen" oder "Per aspera ad astra". Eine humanistische Variante ist: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Dagegen scheint Rousseaus Knick zwischen dem Naturguten und dem Bürgerguten das Anstößige besser zu markieren. --anna (Diskussion) 11:33, 11. Dez. 2014 (CET)

Rousseau ist es nicht gelungen den Übergangspunkt zu beschreiben und so bleibt sein Konzept der „zweiten Geburt in die Gesellschaft“ dunkel. Deiman/Farrow zeigen zwar, dass einen solchen 90gradigen Knick geben müsste, aber sie fordern noch die Theorie dafür. Ich habe zwar oben versucht eine Möglichkeit zu zeigen, wie ein solcher „Ruck“ bewerkstelligt werden könnten (weitgehend unbemerkte Sequenzierung von Spiel/Lernen) aber das ist natürlich noch keine Theorie.

Zu suchen wäre also eine Philosophie der Pädagogik, die sich dieses 90gradigen Knicks bewusst ist und die diesen besser anzuzeigen versucht als bloß durch „Zeugnisse“ (sei es die Verleihung der Mitgliedschaft im Gesellschaftsvertrag oder ein Diplom), oder sogar nur durch das Geburtsdatum. Diese „Bildungsziele“ sind viel zu ungenau, weil sie nicht den „Knick“, die Veränderung der Welt bei gleichbleibender Trajektorie, zur richtigen Zeit bestimmen und motivieren können. Eine Theorie der MOOCs müsste hier ihre Anwendung finden und plausibel machen.

Nachtrag: Eine etwas verständlichere Formulierung der Problematik?
In einer Besprechung des obigen Eintrags wurde mir vorgeschlagen, ich solle das Verhältnis „natürliche“ und „bürgerliche Autonomie“ mit dem Begriff „Chor“ erklären, um so vielleicht das oben beschriebene „schwindelerregende Manöver“ greifbarer zu machen. Nun, übertragen auf das Konzept: „musikalischen Chor“ wirkt es nicht mehr ganz so schwindelerregend und lässt sich vielleicht etwas besser fassen. – Ich werde weiterhin recht locker mit den Konzeptionen Rousseaus umgehen, es gäbe hier sicher einiges zu belegen und zu konkretisieren. Ich hoffe, dass die saloppe Umgangsweise mit Themen keinen falschen Eindruck macht; die Möglichkeit das Lernmaterial zu kommentieren, die das Wiki bietet, verstehe ich als „Plaudern über die Lerninhalte auf (einigermaßen) universitärem Niveau“.
Rousseau verfasste unter anderem Schriften zur Musiktheorie. Obwohl er Autodidakt war, vermochte er Beiträge zu veröffentlichen, die noch heute in der Kompositionswissenschaft Bedeutung haben. Dies trifft nicht auf die Gesamtheit seiner Kompositionstheorien zu (ein von Rousseau entwickeltes Notationssystem schaffte es zum Beispiel nicht zu überdauern), aber auf jeden Fall für die Bevorzugung der Melodie vor der Harmonie (Stichwort: Rameau/Rousseau-Streit).
Rousseau war, stark abgekürzt, der Meinung, dass die „Harmonie“ zwar geeignet sei, um nach mathematischen oder physikalischen Regeln strukturiert zu werden, aber sie sei für sich genommen sozusagen „unbelebt“. Ein zufälliger Wechsel von Harmonien sei allein kein Hörgenuss. Die Melodie dagegen ist durch und durch von Gefühl und Leidenschaft durchdrungen und deswegen „lebendig“. Dafür kann nicht gelehrt werden, eine angenehme Melodie zu komponieren, weil sie sich aufgrund ihrer Emotionalität nicht strukturieren lässt; eine Harmonie wirkt auf die Vernunft und wird von ihr erfahren, eine Melodie wirkt auf das Gefühl und kann von der Vernunft nicht erfahren werden.
Diese Bevorzugung der Melodie hängt eng mit dem Menschenbild Rousseaus zusammen (Rousseau kann zugesprochen werden, dass er in seinem gesamten Schaffen immer nur eine Grundüberzeugung exemplifiziert: die Erreichung oder zumindest Erhaltung der „Güte“ in der menschlichen Gattung über die Erhaltung der „Güte“ des Einzelnen). Eine Melodie ist immer ein Solo. Es können zwar in der Harmonie andere Aspekte dazu kommen, oder mehrere Melodien übereinanderliegen, aber grundsätzlich muss die Melodie für sich alleine, als Individuum, bestehen können, sonst ist sie keine Melodie. Die Melodie ist die Leidenschaft der Musik, die Harmonie ist, so Rousseau, „höfischer Tand“.
Rousseau präferiert das autonome, natürliche Leben, aber der Naturzustand der „Güte“ dieser Lebensform ist seiner Meinung nach unwiederbringlich verloren, deswegen muss auf die Notlösung zurückgegriffen werden, die „Gesellschaftsvertrag“ genannt wird. Wenn schon nicht der Einzelne die „Güte“, die Rousseau hier als anthropologische Grundlegung und gleichzeitig als eigentliches Telos der Menschwerdung annimmt, erreicht werden kann, dann soll wenigstens die „Güte“ durch einen Vertrag zwischen den Individuen innerhalb der Gattung „Mensch“ erhalten und erreicht werden. Der Gesellschaftsvertrag ist eine künstlich eingerichtete Harmonie zwischen den „Melodien“ der Einzelnen und sorgt dafür, dass diese sich, wenn schon nicht als „autonome Menschen“, so doch als „autonome Bürger“ erhalten können.
Das Individuum „pfeift“ sein „Thema“ und drückt damit seine eigene Emotionalität aus, die auf andere Individuen eine emotionale Wirkung haben kann, wenn es mit diesen zu tun hat. Dass die Melodien miteinander in Kontroversen geraten scheint unvermeidbar, wenn jeder seiner Façon gemäß pfeift. Deswegen, so lässt sich Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ interpretieren, muss eine Grundtonart ausgewählt werden und ein Metrum, ansonsten kommt es zu einer Kakophonie oder höchstens zu nur zufällig wohlklingenden Überlagerungen.
Es gibt sechs Möglichkeiten, eine solche Harmonie zwischen den Solisten zu erzeugen, drei Möglichkeiten mit (1., 2., 3.) und drei ohne Dirigent (4., 5., 6.): 1. Der Dirigent gibt eine Partitur aus, die alle Solisten dazu zwingt, dieselbe Melodie in der gleichen Tonlage und in derselben Metrik zu artikulieren. 2. Der Dirigent erlaubt das in einem harmonischen Verhältnis zueinanderstehende Artikulieren von verschiedenen Melodien, die in verschiedenen, aber miteinander in einem harmonischen Verhältnis stehenden Grundtonarten und mit verschiedenen, aber doch eine Struktur ergebenden Zählmaßen (etwa 3/4 die sich beim sechsten Takt wieder mit der 4/4-Zählung treffen) vorkommen. 3. Der Dirigent triggert musikalische Patterns (einzelne Phrasen) rein nach Intuition oder nach dem Zufallsprinzip. 4. Der Chor trägt ein Musikstück nach einer Partitur vor, wobei jedes Chormitglied sich auf die anderen Chormitglieder einstellen muss, damit die Einheit des Stücks erhalten bleibt. 5. Grundtonart und Metrik sind vorgegeben, aber die Melodien können sich frei entwickeln, solange sie in einem Verhältnis zur Grundtonart und zur Metrik stehen. 6. Jedes einzelne Chormitglied bringt musikalische Phrasen ein, die in keinem Verhältnis zueinander stehen und versucht sich auf die anderen einzustellen. Rousseau ist wohl der Punkt 5 am meisten sympathisch, da dieser der politischen „Grundtonart“ und der „Metrik“, der Staatsform, am ehesten entspricht, die der französische Philosoph ausdrücklich präferierte: die direkte Demokratie.
Ohne allerdings weiter auf die politische Philosophie von Rousseau einzugehen möchte ich nun den Vergleich zu dem oben angesprochenen dunklen Verhältnis zwischen „natürlicher, menschlicher Autonomie“ und „bürgerlicher Autonomie“ vornehmen, das für die Diskussion um den Begriff „Bildung“ wichtig zu sein scheint.
Wie im obigen Eintrag erwähnt, lässt Rousseau die Zöglinge sich frei entfalten (ihr eigene Melodie finden), bis zu dem Punkt, wo sie in die Gesellschaft (der Chor) eintreten. Ab dann verzichten sie auf die Autonomie der radikalen Individualität und unterstellen sich den Minimalbedingungen der Tonart und der Metrik. Sie können weiterhin ihre eigenen Melodien pfeifen, aber sie verpflichten sich dazu, diese in ein Verhältnis zu allen anderen Melodien zu stellen, mit dem Ziel eine Einheit zu erzeugen, die als „Musikstück“ interpretiert werden kann. Dies setzt ein komplexes Aufeinander-Beziehen voraus, das allerdings begünstigt und erleichtert wird, indem Grundtonart und Metrik vorgegeben sind. Die dadurch entstehende Hymne wird umso angenehmer, je mehr sich die Individuen aufeinander einzustellen vermögen, ohne ihre Individualität zu verlieren. – Es liegt nahe, dass dies nicht die einfachste Art ist, um ein „Musikstück wie aus einem Guss“ zu erzeugen, aber die beste, bei der die Individualität erhalten bleibt.
Jemanden eine Melodie schreiben zu lassen kann nicht gelehrt werden, das harmonische Verhältnis zwischen Melodien allerdings schon, dies wurde schon erwähnt. Die Frage, wie die Zöglinge für eine Gesellschaft erzogen werden sollen, von der sie so lange wie möglich ferngehalten sein sollten, kann umformuliert werden in: Wie bringt man einem Solisten das Einstellen auf einen Chor bei? Und: Wie bestimmt man, ob ein Solist für eine Chor geeignet ist, wenn er sich bisher nur in Sachen eigene Melodie übte?
Eine Antwortmöglichkeit ist, dass die individuelle Melodie als harmonisches Verhältnis ausgedrückt werden kann, wenn auch weiterhin das Erfinden der individuellen Melodie unerklärbar bleibt. Es kann gelernt werden, sich auf die harmonischen Verhältnisse einzustellen, um eine „Hymne“ zu erzeugen, die alle individuellen Melodien erhält und als Einheit eine „Aggregat-Melodie“ erzeugt, die ihrerseits wiederum in harmonischen Verhältnissen ausdrückbar, deren Leidenschaftlichkeit allerdings nicht erklärbar ist.
Der Begriff „Bildung“ kann in dieser Analogie folgendermaßen beschrieben werden: Einerseits ist Bildung der Weg des Pfeifen-Lernens, auf dem auch die harmonischen Verhältnisse durch eine Institution (Lehrer/Partitur) bezogen auf die individuelle Melodie nähergebracht werden kann und das Ziel der Findung der individuellen Melodie, die durch diese Belehrung nicht korrumpiert werden soll und andererseits ist sie als Ziel das Beherrschen der Harmonielehre und der Weg, durch die Bezugnahme auf alle anderen mitwirkenden Solisten eine Hymne zu erzeugen (die ihrerseits immer veränderlich ist, weil neue Solisten dazu kommen).
Wo ist hier der „Knick“? Der Übergang vom Solistentum zur Chormitgliedschaft. Wie aber kann gesichert werden, dass die nur auf die eigene Melodie bezogene Harmonielehre so weit gedeiht, bis sie die Mitgliedschaft im Chor rechtfertigt? Und noch dazu die Gewährleistung gegeben werden, dass durch die Belehrung nicht die eigene Melodie immer mehr verstummt und sich der Harmonielehre angleicht? Genau das ist es, was Rousseau will: Erhaltung der Leidenschaft im Einzelnen und Erzeugung derselben im Verbund der Gesellschaft.
In den Vereinigten Staaten gibt es die Redewendung: You want your cake and eat it too. Ist aber nicht – hier nun die Frage vom obigen Eintrag neu formuliert – der Punkt, an dem die Kenntnis der Harmonielehre vorausgesetzt wird ein nur schwer zu bestimmender Punkt, wenn davor das Solistentum dominierte? Es gibt eine Art „Präzisierung“ (Erlernen der Harmonielehre) in dieser „Schwärmerei“ (Pfeifen-Lernen), vorgenommen durch eine Institution (Lehrer/Partitur), aber diese bezieht sich eben nur auf das Solistentum und garantiert nicht das Vermögen, das Sich-in-Beziehung-mit-anderen-Solisten-Bringen damit ebenfalls erlernt zu haben. An einem gewissen Punkt („zweite Geburt in die Gesellschaft“) wird dieses Vermögen vorausgesetzt und hat die wichtige Aufgabe, die (stets unabgeschlossene, weil immer neue Melodien aufnehmende) „Hymne“ zu erzeugen. Der Punkt, an dem aus dem Pfeifen-Lernen nebst Erläuterung der dahinter stehenden Harmonielehre die Fähigkeit wird, sich in äußerst komplexer Weise (ohne Dirigent) auf alle anderen Solisten einzustellen (denen diese Fähigkeit in genau demselben Maße zugerechnet werden muss), wobei diese Fähigkeit sich nur aus der rationalen Betrachtung des eigenen Pfeifens der Harmonielehre nach ergibt, ist nur schwer bestimmbar, auch wenn Rousseau diesbezüglich zuversichtlich wirkt. Was lässt ihn seine Zuversicht bewahren? Er vertraut auf gute Lehrer, respektive Partituren, die den Übergang vom Solistentum zur Chormitgliedschaft initiieren; sie allein sollen diese anspruchsvolle Aufgabe erledigen. Es ist schwierig, ohne Dirigent eine Hymne aus einem Guss zu erzeugen, sogar wenn man eine Art „Mitgliedschaftsprüfung“ bestanden hat, die als Berechtigung für ein solches Vorhaben angegeben werden kann. Noch schwieriger scheint es zu sein, das Vorhaben der Hymne zu verwirklichen, wenn die Bestimmung dieser „Mitgliedschaftsprüfung“ an sich schon schwer durchführbar ist. Dies ist, wie im obigen Eintrag schon als meine Einschätzung gekennzeichnet, der Punkt, an dem eine Theorie der „Bildung“ ansetzen muss, so wie sie für MOOCs fruchtbar zu machen wäre: Wie, wann und wodurch muss ein bloß individuelles „Herumirren“ durch Präzisierung gelenkt werden, so dass bestimmte Handlungsorientierungen (Gebildet-Sein, mit allen sich in Wechselwirkung ergebenden Bestimmungen, was „Bildung“ überhaupt heißen soll) entstehen, ohne den grundlegenden Bewegungsimpuls des Individuums zu stören?
--Euphon (Diskussion) 16:55, 13. Dez. 2014 (CET)


2. Das zweite Problem

bei Rousseau ist, dass nur der Lehrende (m/w) und dessen Initiativen (z.B. das Setzen eines settings der Erziehungssituation), denen der Zögling Folge leistet, weil er weiß, dass er nur so seine Autonomie ganz für seine eigene Entwicklung verwenden kann, dafür sorgen kann, dass der Zögling sich emanzipiert. Die Freiheit, die durch Gehorsam erreicht wird geht bei der „zweiten Geburt“ in die Freiheit, die durch den Gesellschaftsvertrag erhalten wird, über. Das Problem ist, dass der Lehrer, um emanzipieren zu können, selbst emanzipiert sein muss. Wie sollte das gewährleistet werden können? Rousseau betrachtete die Emanzipation wohl so wie eine benigne Epidemie, ein „Fieber der Freiheit“, das sich im Schneeballprinzip verteilen sollte. Es klingt überzeugend. Nicht nur wenn man Rousseaus Hoffnung auf die Verbesserung der Verhältnisse der Gesellschaft teilt, sondern auch, wenn man davon überzeugt ist, dass die Möglichkeit besteht, die bestmöglichen Erzieher dem größtmöglichen Teil der Bevölkerung zugänglich zu machen.

Wer Rousseaus Hoffnung nicht teilt und die Möglichkeiten der Bildung für bescheidener hält, als es der fromme Anspruch der „Besten Lehrer/innen für die meisten Zöglinge“ verlangt, der bleibt auf die Frage zurück geworfen, wie man die „Emanzipation“ derart dokumentierbar macht, dass sie einerseits angeregt werden kann und andererseits darauf reagiert werden kann, wenn das sich rhizomhaft ausbreitende Netz der „Emanzipation“ Lücken hat, die zur Abflachung der „Infektionskurve“ führen.

„Emanzipation“ als Prozess hat „Autonomie“ zum Ziel. Allerdings nicht die „spielerische“ Autonomie, die der Modus des „guten Menschen“ darstellt, sondern die „bürgerliche“ Autonomie, die darin besteht, die „natürliche“ Freiheit aufzugeben und dafür die „bürgerliche“ zu erlangen. Der Lehrer steht genau an dem Punkt des „Knicks“, denn er, vorausgesetzt er ist selbst emanzipiert, bewegt die Welt des Zöglings, im besten Fall ohne dessen Trajektorie zu verändern, auf die „richtige“ Art und Weise. Ein guter Lehrer ist ein guter „Knicker“, er hat den Fingerdreh heraus, um einen „Ruck“ zu machen. Wir wissen damit noch nicht, wie man gute Lehrer ausbildet, aber wir halten fest, dass er die Möglichkeit hat (vielleicht sogar unter anderem spezifisch dafür ausgebildet werden sollte), einen solchen „Knick“ zwischen Spiel (Schwärmen) und Lernen (Präzisierung) herstellen zu können (vielleicht sogar so, dass der „Knick“ erst dann auffällt, wenn etwas gelernt wurde).

Das ist eine triviale Erkenntnis, aber sie rückt den Begriff „Lehrer“ in den Vordergrund der Überlegungen, weil sich dieser anscheinend als Prinzip für eine von Deiman/Farrow geforderte Theorie eignet. Was macht eine gute Lehrerin aus? Es ist wohl besser damit anzufangen, was sie nicht unbedingt für Voraussetzungen mitbringen muss: Sie muss nicht erklären können, denn Lerninhalte sind selbsterklärend, wenn sie gut genug aufbereitet werden, dass eine Erklärung von Seiten der Lehrerin der Erklärung, die im Lerninhalt selbst verpackt liegt, nichts wesentliches mehr hinzufügen kann. Sie muss nicht animieren, denn das kann zum Beispiel durch ein System von „achievements“ substituiert werden. Überhaupt scheinen viele Fertigkeiten der Lehrerin an nicht-menschliche Akteure delegiert werden zu können, besonders wenn die beiden oben beschriebenen „Tests“ der „Anregung zur Emanzipation“ und der Suche nach den „Lücken im Netz“ herangezogen werden, dann scheint sich ein „Prüfprotokoll“ schreiben zu lassen, dass für beide Ansprüche Daten produzieren kann. Eine derart unfassende Dokumentation scheint nur bei datenbankgestützten Lernsystemen möglich zu sein; angewendet auf menschliche Erziehungsmethoden wäre die Dokumentation erheblich schwieriger.

Die Frage nach der richtigen Lehrperson ist auch für MOOCs von Bedeutung, denn diese sollen viele Aufgaben des Lehrers substituieren; man muss wissen, was man an Technologien delegieren muss, um einen menschlichen Akteur zu ersetzen. Ich sagte „viele Aufgaben“ und nicht „alle“, weil, so scheint die „Stimmung“ der bisher in der Lehrveranstaltung zugänglich gemachten Texte betreffend MOOCs und eLearning im Allgemeinen zu sein, immer noch von einer palliativen Unterstützung gesprochen wird und die Rufe nach der Ersetzung der menschlichen Erzieher sich in Grenzen halten. Es muss also doch noch etwas geben, das nicht delegiert werden kann. Mir fällt – hoffentlich ist der oder die Lesende, die bis hier her gefolgt ist, nicht enttäuscht, dass keine große Konklusion am Ende steht – leider nichts Besseres ein als die „Vorbildwirkung“. Ein Artefakt kann kein Vorbild sein.

Die „Vorbildwirkung“ ist eine sehr Kantisch gedachte Antwort auf das Erzieherproblem bei Rousseau: man kann nur auf die Vorbildwirkung vertrauen, eine andere Sicherheit gibt es nicht. Ich selbst bin ein großer Fan von guten Lehrenden (m/w) und ich habe bisher kein Ding gesehen, das nicht absolut ignorant gewesen wäre im Vergleich zu einem guten menschlichen Erzieher. Deswegen fällt es mir nicht leicht, den Begriff des „Lehrenden“ (m/w) auf ein derartiges Minimum zu reduzieren und es klingt wohl etwas seltsam wenn ich sage, dass es mir am liebsten wäre, wenn es gelänge, noch die letzten „Rückzugspunkte des Subjekts“ (wie eben die „Vorbildwirkung“) noch substituieren zu können, allerdings nicht mit dem Ziel, die Lehrenden (m/w) zu substituieren oder gar weg zu rationalisieren, sondern um die nicht-menschlichen Erzieher mit diesen auf Augenhöhe zu bringen, wenn sich dadurch auch in der Fähigkeit des Erziehens der menschlichen Erzieher konstruktive Effekte ergeben. Erst wenn der Begriff „Bildung“ übersetzbar wird, transportierbar wird, kann er als theoretische Basis für eine Bildung im Sinne von Deiman/Farrow dienen. Es scheint alles eine sehr heikle Angelegenheit zu sein... Denn Fingerspitzengefühl ist nicht unbedingt eine menschliche Eigenschaft, Beleidigt-Sein schon.

Euphon (Diskussion)