Diskussion:335b-e (PSI)

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Ein Versuch, die Entwicklung der Argumente zu verfolgen

Gerechtigkeit ist definiert als:
  • jedem seine Schuldigkeit erweisen
  • den Guten (Freunden) also Gutes, den Bösen (Feinden) also Böses
Das ist ein gruppenspezifischer Begriff von Gerechtigkeit. Ein Ehrenkodex, wie z.B. in der Mafia. Wichtig ist daran: in einem Sinn ist das ein Ideal der Gleichberechtigung.

Es gehört also, sagte ich, zu einem gerechten Manne, daß er irgend jemandem schade?

Sokrates vergewissert sich, ob er seine Meinung/die These richtig verstanden hat.

Allerdings, antwortete er, den Schlechten und Feinden muß man schaden.

Ja, Sokrates, du hast richtig verstanden. (Im Vorgeplänkel hat Sokrates schon zu der Überzeugung hingeführt, dass, wenn man schon den Feinden schaden muss, man zumindest den tatsächlichen, wahren Feinden schaden muss. Also nicht nur, wie es jemanden erscheint, der sich auch täuschen kann, sondern wenn es gerecht sein soll, dass man dem Feind schadet, dann muss es auch wirklich ein Feind sein und nicht nur so scheinen. Im Folgenden geht Sokrates weiter...)

Werden Pferde, denen man Schaden antut, besser oder schlechter?

Der erste Sprung ins Beispiel. Er beginnt mit einer Frage, auf die man wohl heute noch auf dieselbe Weise antworten würde. Die Antwort scheint klar.

Schlechter.

Warum fragst du das? Natürlich schlechter.

In bezug auf das, was die Tüchtigkeit der Hunde ausmacht, oder was die der Pferde ausmacht?

Letzteres.

Hier bin ich nicht ganz sicher. Er meint wohl sowas wie, dass dieser Schaden ein Mangel von dem ist, was man normalerweise unter einem Pferd versteht. Den Schaden eines Pferdes an einem Hund zu messen, wäre einfältig, wahrscheinlich schon allein aus dem Begriff des Schadens heraus, der sich immer irgendwie auf die "normale Vorstellung" des Geschädigten bezieht. Es geht eher um den Kontrast zwischen "gesundes, normales Pferd" und "geschädigtes Pferd". Kann man hier schon sowas wie eine Hinwendung zur Idee "Pferd" als Maßstab feststellen?

Werden also auch Hunde, denen man Schaden tut, schlechter in bezug auf ihre Tüchtigkeit als Hunde, aber nicht als Pferde?

Notwendig.

Genauso - mutatis mutandis. Um zu zeigen, dass es hier nicht um Pferde, sondern um etwas Allgemeineres geht, kommt noch ein zweites Beispiel.

Von den Menschen aber, mein Freund, werden wir nicht sagen müssen, daß sie, wenn man ihnen Schaden antut, schlechter werden in bezug auf die menschliche Tugend?

Freilich.

Im Reklam-Buch wird statt "menschliche Tugend" "Eigenart des Menschen" verwendet. Es geht jedenfalls darum, dass auch die Konstitution des Menschen durch eine Schädigung nicht besser wird.

Ist aber die Gerechtigkeit nicht eine menschliche Tugend?

Auch das ist notwendig.

Jetzt ist es nicht mehr weit, zur Widerlegung der obigen These: Die Gerechtigkeit wird durch eine Schädigung nicht besser, sondern schlechter.

Die Menschen also, mein Lieber, denen man schadet, müssen notwendig ungerechter werden?

So scheint es.

Gerechtigkeit verstehen wir heute wohl ein bisschen anders. Wir benutzen das Wort Gerechtigkeit eher wie "Fair Play": Wenn Hilfsorganisationen durch die Spekulationen der Banker weniger Spenden erhalten, ist das nicht gerecht. Wenn ich es schaffe, im Anmeldesystem der Informatik einen Platz in der überfüllten VU zu ergattern, ein anderer mit mindestens der gleichen Qualifikation jedoch nicht, dann ist das nicht fair. Bei diesem Text schwingt jedenfalls noch eine andere Bedeutung von Gerechtigkeit mit.

Können nun aber die Tonkünstler jemand durch die Tonkunst zum Tonkunstlaien machen?

Unmöglich.

Aber die Reitkünstler durch die Reitkunst zum Nichtreiter?

Kann nicht sein.

Hier wird mit zwei Beispielen das nächste Stück Argumentation angegangen. Die Qualifikation des Programmieres kann mit Hilfe seiner Programmierkenntnisse einem Anderen nicht die Programmierkenntnisse wegnehmen. Mit dieser Qualifikation kann man jemanden höchstens lehren, selbst programmieren zu können. Eine Fähigkeit kann also nicht sein Gegenteil anrichten.

Aber also die Gerechten durch die Gerechtigkeit zum Ungerechten? Oder überhaupt die Guten durch die Tugend zum Schlechten?

Unmöglich.

Nun wieder das Beispiel auf den Menschen, der gerecht ist. Er kann durch die Fähigkeit/Eigenschaft, gerecht zu sein, jemand anderen nicht ungerecht machen.

Denn nicht der Hitze Sache ist es, denke ich, kalt zu machen, sondern des Gegenteils.

Ja.

Und nicht der Trockenheit, feucht zu machen, sondern des Gegenteils.

Allerdings.

Also auch nicht des Guten, zu schaden, sondern des Gegenteils.

Offenbar.

Das sind IMHO eher rhetorische Fragen, die als Probe dienen, ob Polemarchos erfasst hat, worum es auf einer allgemeineren Ebene geht. In der Schulmathematik könnte man von der "Probe" sprechen, die man macht, nachdem man mit dem Berechnen fertig ist um abzuchecken, ob bei der Berechnung kein Fehler unterlaufen ist.

Der Gerechte aber ist doch gut?

Allerdings.

Das ist nun das letzte Verbindungsglied, durch das Sokrates Polemarchos dem Irrtum seiner Meinung klarmachen kann.

So ist es also, Polemarchos, nicht des Gerechten Sache, zu schaden, weder einem Freunde noch sonst jemandem, sondern des Gegenteils, des Ungerechten.

Das Ergebnis: Wenn jemand schadet, dann ist es der Ungerechte. Der Gerechte schadet niemanden, denn der Gerechte ist gut. Und durch seine Fähigkeit, gerecht zu sein, kann er jemand anderen nicht ungerecht machen, wobei ungerecht machen ja auch heißt: Schaden zufügen.

Du scheinst mir vollständig recht zu haben, Sokrates, erwiderte er.

Ich könnte mir vorstellen, und es erweckt den Eindruck, dass Polemarchos sichtlich überrumpelt und überrascht erscheint, obwohl er vielleicht schon in der Mitte dieser Fragenkaskade geahnt haben könnte, worauf Sokrates hinauswill.

Wenn also jemand sagt, gerecht sei, daß man jedem gebe, was man ihm schuldig sei, und darunter das versteht, daß der gerechte Mann den Feinden Schaden schuldig sei und den Freunden Nutzen, so war der nicht weise, der so gesprochen hat; denn er hat etwas gesagt, was nicht wahr ist, da wir nirgends gefunden haben, daß gerecht sei, irgend jemandem zu schaden.

Ich gebe es zu, sagte er.

Was ich bei den Dialogen noch etwas gekünstelt finde ist diese Ja-Sager-Rolle der Gesprächspartner von Sokrates. Im ersten Buch kommt das noch nicht so stark rüber (da kommen manchmal auch inhaltliche Wortmeldungen), aber wenn es dann später um die Entwicklung des Staates geht, kommt einem der Gesprächspartner nur noch als jemand vor, der sich von der rhetorischen Oberfläche der Argumente in seinen Wortmeldungen leiten lässt. Er hat dann eigentlich fast nur noch die Funktion eines "Weiter"-Buttons?