Diskussion:Das Fremde, R. Bubner (T)
"Hingegen bedeutete die Duldung von allem und jedem, die schrankenlos gewährte Liberalität der Devianz, ja die Imagination einer anarchistischen Gesellschaft von lauter Abweichlern ein historisch passageres Phänomen, das dem baldigen realgeschichtlichen Untergang geweiht wäre. Die lebenswichtige Vor- und Nachordnung zwischen homogener Gesellschaft und Ertragen von deren Durchkreuzung"..."schmale Zone der Devianz"...
Ich möchte massiv in Frage stellen, dass es überhaupt einen homogenen "Grundkonsens" gibt. Bubner scheint hier einer angstbesetzten Verdrängung aufzusitzen: Die Zone der Devianz dürfte gar nicht so schmal sein; diese Konstruktion von Normen und in Folge von Normalität ist einerseits mit der Realität nicht vereinbar, andererseits extrem repressiv. Sie ist deshalb nicht mit der Realität vereinbar, weil Devianzen auf unterschiedlichen Ebenen bestehen können: Ich kann also in Österreich geboren worden sein (und somit zur österreichischen "Norm" gehören)und mein Leben hier verbringen, bin aber vielleicht lesbisch/ linksradikal/transgender/depressiv/Automechanikerin/... und somit deviant. Normalität ist ein massiv wirkungsmächtiges Konstrukt; ich bin aber davon überzeugt, dass es wohl kaum Menschen gibt, die nicht in irgendeiner Hinsicht von der Norm abweichen, was dann i.d.R. dazu führt, dass die Person ihre Devianz(en) verdrängt, unterdrückt (==>repressiv, einschränkend)und somit nach Außen hin "normal" wird oder als AußenseiterIn, als "FremdeR" diskriminiert wird (und somit ebenfalls Opfer von Repression wird). Nun- überspitzt formuliert- ist jede Gesellschaft meiner Meinung nach eine "Gesellschaft von lauter Abweichlern (sic!)"- und deshalb aber noch nicht im Chaos versunken. Empirische Widerlegung von Bubners These würde ich das nennen!;) --Sophie 14:42, 26. Jun 2006 (CEST)
Stimmt. Überhaupt ist die Verwendung des Ausdrucks "anarchistisch" nicht im wissenschaftlichen Sinn korrekt: "Anarchismus" ist eine bestimmte politische Ideologie und- auch, wenn oft so verwendet- kein Synonym für "Chaos"! --Sophie 14:48, 29. Jun 2006 (CEST)
Bubner den Begriff hier verwendet; ich denke, daß er Opfer einer terminologischen Unschärfe ist, die mir an den Begriffen "Norm"/"Abweichung" ins Auge springt. Dabei bin ich mit diesen beiden Ausdrücken schon nicht ganz glücklich. Ich denke, ich sage besser "Regel" und - ja, was ist das Gegenteil von Regel? Hier haben wir schon den Kern der Sache, denn das Gegenteil von "Regel" kann zweierlei sein: ein "Regelverstoß" oder eine "Ausnahme".
Etwas, das "in der Regel" der Fall ist, ist normal, üblich, alltäglich, gewöhnlich, durchschnittlich, statistisch signifikant. In gesellschaftlichen Kontexte heißt das ungefähr: Wenn 90% aller Menschen eine bestimmte Eigenschaft haben, wird man von jeder Person, der man begegnet, zunächst annehmen, daß sie diese Eigenschaft genauso hat, bis sich das Gegenteil herausstellt. Wobei natürlich unsere Annahmen über das Erwartbare nicht unbedingt zutreffen müssen. Eine Regel, eine Vorschrift oder ein Gesetz dagegen ist etwas, das nicht zu befolgen schlecht ist - sei es, daß es moralisch verwerflich ist, daß es maximal toleriert werden kann (Bubner), daß es zu Repressionen durch die Gesellschaft führt (Sophie) oder daß es jemand aus einer Gruppe ausstößt. Der Begriff "Norm" hat meinem Gefühl nach die Eigenheit, beide Bedeutungen zu verbinden, und das macht ihn in meinen Augen ziemlich heikel; und daß in Diskussionen dieser Art der Ausdruck "Norm" so oft auftaucht, halte ich für kein gutes Zeichen. Ich denke nämlich, daß man die Materie nicht richtig in den Griff bekommt, wenn man zwischen den beiden Bedeutungen von "Regel" nicht differenziert.
Bubner scheint in seiner Argumentation tief in dieser Doppelung des Begriffs zu stecken, wenn er schreibt: "Toleranzfälle sind per definitionem Grenzfälle zwischen dem breiten Bereich der Gewohnheit und der schmalen, aber innovationstauglichen Zone des Devianten." Auf der anderen Seite stehen Aussagen, die den Grundkonsens an sich herunterspielen. Auch das möchte ich kritisieren. Wer argumentiert: "Die Zone der Devianz dürfte gar nicht so schmal sein", der hat sich schon auf die Behauptung eingelassen, daß man aus der "Breite" einer Zone, sprich dem prozentualen Anteil einer Gruppe an der Gesamtbevölkerung, auf ihre Legitimität schließen kann.
Vereinfacht kann man sich vorstellen, daß sich eine Reihe von Eigenschaftsdichotomien aufstellen läßt (wie: in Österreich geboren - im Ausland geboren, homosexuell - heterosexuell, weiblich-männlich innerhalb der Berufsgruppe der KindergärtnerInnen), bei denen jeweils eine überwiegende Mehrheit eindeutig der einen Gruppe zuzurechnen ist. Bei einer hinreichenden Zahl von Eigenschaften wird sich wohl keine Person finden, die nicht in irgendeinem Punkt von der Mehrheit abweicht, und trotzdem gibt es in jedem Fall eine klare Unterscheidung von Regel und Ausnahme. Das habe ich mitgemeint, als ich geschrieben habe, daß eine Gesellschaft von Abweichlern keine Gesellschaft ohne "Norm" ist. Ich denke, das zu leugnen wäre unrealistisch, und ich halte es weder für prinzipiell illegitim, einen solchen Zustand beizubehalten, noch, seine Wahrnehmung danach zu strukturieren, sofern wir alle AbweichlerInnen durch unsere Abweichungen keine Probleme bekommen.
Übrigens wurde im Lauf dieser Vorfälle die Begriffsverwendung in technischen Kontexten ins Spiel gebracht, siehe Recht, Verstehen, Mehrheit, Macht#Toleranzspielraum - es wäre lohnend, das auch einmal durchzudenken. Ich denke, in diesem Punkt ist wesentlich, daß technische Bauteile auf eine bestimmte Norm hin konstruiert werden, deshalb fallen hier das Übliche und das Erwünschte tatsächlich zusammen. Auf bestimmte Personengruppen könnte man das insofern übertragen, als soziale Gruppen vermutlich zum Teil durch Verhaltens-Normen konstituiert werden.
A propos Variation: Warum sagt mir hier niemand, daß ich vorhin zweimal unmittelbar hintereinander "alles andere als" geschrieben habe? --H.A.L. 12:09, 1. Jul 2006 (CEST)