Die Ontologie des undefinierten Mannigfaltigen (AB)

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Wie es keine Metaphysik gibt, so gibt es keine Metalogik. Das Wort "Verstehen", der Ausdruck "einen Satz verstehen", ist auch nicht metalogisch, sondern ein Ausdruck wie jeder andere der Sprache. (L. Wittgenstein, Big Typescript I, 5)

Entsprechend Badiou: die Ontologie ist eine Situation wie jede andere. Sie kann keine Sonderstellung beanspruchen. Die Ontologie präsentiert die Präsentation des Seins, sie untersucht die Beschaffenheit der Struktur, in welcher Welt konstituiert wird. Was hat sie zu sagen? Badiou knüpft an der Janusförmigkeit der Präsentation an, die zwischen inkonsistenter und konsistenter Mannigfaltigkeit vermittelt. Ihr Ergebnis ist eine Zählung-als-Eins, der Input dazu Mannigfaltigkeit(en). Das läßt sich so vorstellen, dass einem ungeordneten Haufen eine Struktur aufgeprägt wird. Rückwirkend kann als Ergebnis der Strukturbildung gesagt werden, dass eine Vielfalt diese Züge trägt. (Klingt nach Materie und Form.) Das ist in Einzelfällen gut vorstellbar: Ein Begriff holt aus vorliegendem Material bestimmte Elemente heraus. Aber es geht Badiou um größtmögliche Allgemeinheit, er will Ontologie betreiben. Was ist unter diesem Aspekt von Situationen zu sagen, also über die Präsentation allgemein?

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Der Satz ist sonderbar: "Die Präsentation 'im Allgemeinen' ist latenter seitens der inkonsistenten Vielfalt." Das heißt, genau genommen, nichts. Es deutet darauf, dass Badiou in der Betrachtung der Präsentation allgemein eine besondere Nähe zum Sein als solchem ausmacht. Die Präsentation operiert auf bloßer Vielfalt, auf die aus ihrem Resultat zurückgeschlossen wird. Diskurse finden über Präsentationen statt. Doch Badiou steuert eine suggestive Beschreibung der Vielfalt bei: "träge Irreduzibilität". Es ist genau die Charakteristik der Materie, bevor eine Form ihr Gestalt verliehen hat. Als solche eignet sie sich schwerlich für das Sein, das Situationen zuvorliegt und sich in ihnen präsentiert. Oder doch? Was macht das Sein aus, wenn ihm das Eine genommen wird? So wie es hier präsentiert wird, ist es eine Ursuppe. Nicht bloß ein Haufen, aus dem ein Gebilde gemacht wird, sondern das Unbestimmte an sich, das keine Sortierung kennt.[1]

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Ein Umstand ist noch übrig, der dieses Unbestimmte im Gespräch hält, nämlich seine Benennung, das Unbestimmte. Es scheint, dass dieser sprachliche Zugriff aus dem Thema doch noch unweigerlich etwas macht. Badiou sieht die Schwierigkeit, die sich in dieser Grenzregion des Fassbaren ergibt und er versucht, die Namensgebung selbst noch zu unterwandern. Es handle sich beim Vielfältigen nicht um ein Vielfältiges, sondern eine Vielfalt von Vielfältigkeiten. Und man könne es in keiner Weise in den Griff bekommen, denn es entziehe sich jeder Definition. Das Denken dreht durch, wie ein Schraubverschluss, der die Haftung verloren hat. Die Unbestimmtheit ist nicht einmal eine Unbestimmtheit, sie ist ein Sprachversagen. So weit ist Wittgenstein am Ende des Tractatus auch gekommen.

An dieser Stelle rettet sich Badiou durch einen kühnen Sprung. Da das Unbestimmte keine direkte Definition erlaubt, greift er zur impliziten Definition. Er vergleicht die Sachlage mit der Einführung einer Axiomatik, die aus undefinierten Ausdrücken mit Hilfe von formalen Regeln ein System erzeugt. Der Vergleich überzeugt nicht, denn in einem solchen System sind erstens alle operationalen Bestandteile definiert und zweitens sind die uninterpretierten Axiome (bloße Zeichenketten) kein mögliches Thema der Untersuchung. Wenn das der Zugang zur Ontologie sein soll, fehlt ihr ein eigenes Thema. Sie kann nur auf das konstituierte System verweisen. Auch das hat Wittgenstein vorweggenommen.

Zu diesem Sprung ist im Kapitel über Cantor zu lesen, dass weder unsere Intuition, noch die Sprache, die Eins-Zählung des puren Mannigfaltigen erlauben. Das ist eine blumig formulierte Darstellung der Folgen von Russells Antinomie. Die Mengentheorie definiert daher nicht explizit, was eine Menge sei. Aus der Axiomatik Zermelo-Fraenkels ergibt sich indirekt, auf der Basis welcher Festlegungen und dank welcher Verfahren wir einen Bedeutungsbereich konstruieren können, der zwei Bedingungen erfüllt:

  • er bietet eine konsistente Semantik des Axiomensystems
  • und eignet sich dazu, wesentliche Intuitionen, die wir mit dem Mengenbegriff verbinden, zu modellieren

Badiou stellt es so dar: Es authorisiert eine Verwendung des Mengenbegriffes, indem es eine Redeweise über "Mengen" normiert. Dabei treten Cantors naiv konzipierte Mengen nicht auf. Das sind die bekannten Vorkehrungen der axiomatischen Mengentheorie. Eine Ausdrucksmöglichkeit ist aus der betreffenden Sprache beseitigt. Es steht kein Mittel zur Verfügung, sich auf eine bestimmte "Sache" zu beziehen. Es ist wie beim Tippen eines deutschsprachigen Textes auf einer englischen Tastatur: die Umlaute fehlen. Sie sind in diesem Ausdrucksspektrum nicht verfügbar. Bei Bedarf lassen sich daran verschiedene Reflexionen über den Mangel dieser Tastatur knüpfen. (Vielleicht beklagt sich jemand, dass ihm das falsche Keyboard verkauft worden ist. Vielleicht gibt es überhaupt kein deutsches Keyboard.) Oder man läßt sich einen Ausweg einfallen (Aequivalente für "Ä").

Anmerkungen

  1. "Aus der Sicht des Transzendentalen sind diese versammelten Leute nichts als reine Vielheit; deshalb nennt man sie die Massen. Aber die Massen sind das kollektive Sein. Es ist nicht einfach das Sein als kollektive Trägheit, aber das Sein bringt zum Ausdruck, dass die alte Existenz längst vorbei ist, es ist das Sein das Gericht führt über die Existenz." Benutzer:Andyk/Badiou/weltenwandel