Die Griechen (mse): Unterschied zwischen den Versionen

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== Platon gegen die Dichter ==
 
== Platon gegen die Dichter ==
  
'''Politeia 600e -601a'''
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'''Politeia 595 passim'''
  
:"Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen, sondern, um in dem Beispiel von vorhin fortzufahren, [601 St.] der Maler stellt einen Schuhmacher nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben und Umrissen gucken, nicht wahr?
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:Ja, antwortete ich, obwohl eine von Jugend auf an Homer mich fesselnde Liebe und Ehrfurcht mich abhält, zu äußern, was ich denke, es muß einmal heraus! Denn er ist offenbar von allen diesen feinen Theaterhelden der erste Lehrmeister und Anführer. Heraus muß es darum, was ich über ihn denke; denn eine menschliche Person darf nicht über die Wahrheit gestellt werden!
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:Nachahmende Darstellung überhaupt, kannst du mir einen allgemeinen Begriff dessen angeben, was sie eigentlich ist? Denn ich selbst finde es gar nicht recht zusammen, was sie eigentlich sein will.
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:Wollen wir also von folgendem Standpunkte aus nach unserer gewöhnlichen Methode die Betrachtung beginnen? Unser gewöhnlicher Standpunkt ist nämlich, daß wir eine begriffliche Einheit allemal bei jeder Art von Vielheiten annehmen, denen wir denselben Namen geben, oder begreifst du's nicht? ... So wollen wir denn auch jetzt, wenn's gefällt, einige beliebige Vielheiten annehmen, es gibt z.B. eine Vielheit von Stühlen und Tischen. ... Aber begriffliche Einheiten gibt es von diesen Gerätschaften nur zwei, eine vom Stuhl, eine vom Tisch. ... Nicht wahr, nach unserer Gewohnheit drücken wir uns aus, daß der Verfertiger jeder der beiden Gerätschaften im Hinblick auf die begriffliche Einheit schafft, der eine Stühle, der andere Tische zu unserem praktischen Gebrauche, denn die begriffliche Einheit davon verfertigt uns keiner der menschlichen Werkmeister, wie wäre es denn auch möglich?
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:Aber jetzt weiter, <font color="purple">sieh dir einmal folgenden Meister an! Welchen Namen wirst du ihm geben? Der alle möglichen Dinge macht</font>, die nur immer jeder einzelne der Künstler hervorbringt. ... Von einem außerordentlichen Manne sprichst du da, und von einem, der den Namen eines Wundermannes verdient! ... Noch gar nicht! Du wirst ihm gleich noch einen besseren und höheren Namen geben, denn derselbe Künstler kann nicht nur alle Gerätschaften bilden, sondern er bildet auch alle Erzeugnisse der Erde, bringt alle lebenden Wesen hervor, alles übrige sowohl als auch sich selbst, außerdem Erde, Himmel, Götter, alles am Himmel und im Hades unter der Erde, alles macht er!
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:Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, <font color="purple">daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen</font>, sondern, um in dem Beispiel von vorhin fortzufahren, [601 St.] der Maler stellt einen Schuhmacher nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben und Umrissen gucken, nicht wahr?
  
 
:Ja, allerdings.
 
:Ja, allerdings.
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:Und ebenso dürfen wir natürlich auch von dem dramatisch darstellenden Dichter sagen, daß er gleichsam auch nur Farben von dieser und jener Kunst und Wissenschaft in Floskeln und Phrasen auftrage, ohne selbst davon etwas gründlich zu verstehen als eben das Nachahmen, so daß es dann anderen ebenso unverständigen Menschen, die nur den Glanz der Phrasen begaffen, eine ganz gediegene Darstellung zu sein scheint, mag es sich nun um Schuhmacherei oder Feldherrnkunst oder um jede beliebige andere Sache handeln, wenn es nur in Versen sowie in musikalischer Takt- und Tonart geschieht, so groß sei der Zauber, den eben diese musikalische Begleitung von Natur ausübe! Denn entblößt von dem Farbenglanz des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen Texte vorgetragen, weißt du, glaube ich, selbst, wie die Erzeugnisse der dramatisch darstellenden Dichter erscheinen, denn du hast es wohl beobachtet!"
 
:Und ebenso dürfen wir natürlich auch von dem dramatisch darstellenden Dichter sagen, daß er gleichsam auch nur Farben von dieser und jener Kunst und Wissenschaft in Floskeln und Phrasen auftrage, ohne selbst davon etwas gründlich zu verstehen als eben das Nachahmen, so daß es dann anderen ebenso unverständigen Menschen, die nur den Glanz der Phrasen begaffen, eine ganz gediegene Darstellung zu sein scheint, mag es sich nun um Schuhmacherei oder Feldherrnkunst oder um jede beliebige andere Sache handeln, wenn es nur in Versen sowie in musikalischer Takt- und Tonart geschieht, so groß sei der Zauber, den eben diese musikalische Begleitung von Natur ausübe! Denn entblößt von dem Farbenglanz des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen Texte vorgetragen, weißt du, glaube ich, selbst, wie die Erzeugnisse der dramatisch darstellenden Dichter erscheinen, denn du hast es wohl beobachtet!"
  
'''Eric Havelock S.42ff'''
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:: vgl. [http://philo.at/wiki/index.php/Objektorientierung_%28CP%29#Ontologien Beispiel: Sitzmöbel]
  
:In a preliterate society, how is this statement preserved? The answer inescapably is: in the living memories of successive living people who are young and then old and then die. Somehow, a collective social memory, tenacious and reliable,is an absolute social prerequisite for maintaining the apparatus of any civilisatiol. But how can the living memory retain such an elaborate linguistic statement without suffering it to change in transmissionfrom man to man and from generation to generation and so to lose all fixity and authority? One need only experiment today with the transmission of a single prosaic directive passed down by word of mouth from person to person in order to conclude that preservationin prose was impossible. The only possible verbal technology available to guarantee the preservation and fixityof transmission was that of the rhythmic word organised cunningly in verbal and metrical patterns which were unique enough to retain their shape. This is the historical genesis, the fons et origo,the moving cause ofthatphenomenon we still call'poetry'. But when we consider how utterly the function of poetry has altered, how completely the culturalsituation has changed, it becomes possible to understand that when Plato is talking about poetry he is not really talking about our kind of poetry.
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'''Eric Havelock S. 42ff'''
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:<font color="purple">In a preliterate society, how is this statement preserved? The answer inescapably is: in the living memories of successive living people who are young and then old and then die.</font> Somehow, a collective social memory, tenacious and reliable,is an absolute social prerequisite for maintaining the apparatus of any civilisation. But how can the living memory retain such an elaborate linguistic statement without suffering it to change in transmissionfrom man to man and from generation to generation and so to lose all fixity and authority? One need only experiment today with the transmission of a single prosaic directive passed down by word of mouth from person to person in order to conclude that preservationin prose was impossible. The only possible verbal technology available to guarantee the preservation and fixity of transmission was that of the rhythmic word organised cunningly in verbal and metrical patterns which were unique enough to retain their shape. This is the historical genesis, the fons et origo, the moving cause of that phenomenon we still call 'poetry'. But when we consider how utterly the function of poetry has altered, how completely the cultural situation has changed, it becomes possible to understand that when Plato is talking about poetry he is not really talking about our kind of poetry.
  
 
:The probable answers to two of our problems have now already been revealed. If Plato could deal with poetry as though it were a kind of reference library or as a vast tractate in ethics and politics and warfare and the like, he is reporting its immemorial function in an oral culture and testifying to the fact that this remained its function in Greek society down to his own day. It is first and last a didactic instrument for transmitting the tradition. And if secondly he treats it throughout the Republic as though it enjoyed in current practice a complete monopoly over training in citizenship he likewise is describing with faithfulness the educational mechanisms of such a culture. The linguistic content had to be poetic or else it was nothing.  
 
:The probable answers to two of our problems have now already been revealed. If Plato could deal with poetry as though it were a kind of reference library or as a vast tractate in ethics and politics and warfare and the like, he is reporting its immemorial function in an oral culture and testifying to the fact that this remained its function in Greek society down to his own day. It is first and last a didactic instrument for transmitting the tradition. And if secondly he treats it throughout the Republic as though it enjoyed in current practice a complete monopoly over training in citizenship he likewise is describing with faithfulness the educational mechanisms of such a culture. The linguistic content had to be poetic or else it was nothing.  
  
:And the answers to several of the puzzles become apparent if we consider precisely what in an oral culture the educational mechanisms amount to. They cannot be narrowly identified with schools and schoolmasters or with teachers,as though these represented a unique source of indoctrination, as they do in a literate society. All memorisation of the poetised tradition depends on constant and reiterated recitation. You could not refer to a book or memorise from a book. Hence poetry exists and is effectiveas an educational instrument only as it is performed. Performance by a harpist for the benefit of a pupil is only part of the story. The pupil will grow up and perhaps forget. His living memory must at every turn be reinforced by socialpressure. This is brought to bear in the adult context, when in private performance the poetic tradition is repeated at mess table and banquet and family ritual, and in public performance in the theatre and market-place. The recital by parents and elders, the repetition by children and adolescents, add themselvesto the professional recitations given by poets, rhapsodists and actors. The community has to enterinto an unconscious conspiracy with itself to keep the tradition a live,to reinforce it in the collective memory of a society where collective memory is only the sum of individuals' memories, and these have continually to be recharged at all age levels. Hence Plato's mimesis, when it confuses the poet's situation with the actor's, and both of these with the situation of the student in class and the adult in recreation,is faithful to the facts.
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:And the answers to several of the puzzles become apparent if we consider precisely what in an oral culture the educational mechanisms amount to. They cannot be narrowly identified with schools and schoolmasters or with teachers,as though these represented a unique source of indoctrination, as they do in a literate society. All memorisation of the poetised tradition depends on constant and reiterated recitation. You could not refer to a book or memorise from a book. Hence poetry exists and is effective as an educational instrument only as it is performed. Performance by a harpist for the benefit of a pupil is only part of the story. The pupil will grow up and perhaps forget. His living memory must at every turn be reinforced by social pressure. This is brought to bear in the adult context, when in private performance the poetic tradition is repeated at mess table and banquet and family ritual, and in public performance in the theatre and market-place. The recital by parents and elders, the repetition by children and adolescents, add themselvesto the professional recitations given by poets, rhapsodists and actors. The community has to enter into an unconscious conspiracy with itself to keep the tradition a live, to reinforce it in the collective memory of a society where collective memory is only the sum of individuals' memories, and these have continually to be recharged at all age levels. Hence Plato's mimesis, when it confuses the poet's situation with the actor's, and both of these with the situation of the student in class and the adult in recreation,is faithful to the facts.
  
 
:In short, Plato is describing a total technology ofthe preserved word which has since his day in Europe ceased to exist.
 
:In short, Plato is describing a total technology ofthe preserved word which has since his day in Europe ceased to exist.
  
'''Eric Havelock S.205ff'''
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'''Eric Havelock S. 205ff'''
  
:And what then, asks Plato,is the process, properly understood, that we name education? Not the implanting of new knowledge in the psyche. Rather there is a faculty(dynamis) in the psyche, an organ which every man uses in the learning process, and it is this innate faculty which,like a physical eye, must be converted towards new objects. Higher education is simply the technique of conversion of this organ. 'Thinking' is a 'function' (arete) of the psyche supreme above all others; it is indestructible ,but it has to be converted and refocused in order to become serviceable. ...
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:And what then, asks Plato,is the process, properly understood, that we name education? Not the implanting of new knowledge in the psyche. Rather there is a faculty (dynamis) in the psyche, an organ which every man uses in the learning process, and it is this innate faculty which,like a physical eye, must be converted towards new objects. Higher education is simply the technique of conversion of this organ. 'Thinking' is a 'function' (arete) of the psyche supreme above all others; it is indestructible , but it has to be converted and refocused in order to become serviceable. ...
  
:And what is to be the mathema or object of study which shall produce this effect of conversion? As he seeks the answer to this question and proposes 'number and calculation', as the first item in his curriculum, Plato drops into a linguistic usage which reaffirms, over and over again, the conception of the psyche as the seat of free autonomous reflection and cogitation. It is the learning process associated with arithmetic which 'leads to thought
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:And what is to be the mathema or object of study which shall produce this effect of conversion? As he seeks the answer to this question and proposes 'number and calculation', as the first item in his curriculum, Plato drops into a linguistic usage which reaffirms, over and over again, the conception of the psyche as the seat of free autonomous reflection and cogitation. It is the learning process associated with arithmetic which 'leads to thought processes'. <font color="purple">Sense experience per se 'fails to challenge the thought process to undertake inquiry' and 'the psyche of most men is not compelled to put a question to the thought process'.</font> Plato does not here mean that psyche and thought process are distinct, for a little later he speaks of 'the psyche, caught in a dilemma', asking questions of the senses, and again 'the psyche challellges calculation and thought process to undertake examination'. There are situations where sense impressions are contradictory. It is these which 'offer challenge to the intellect and stimlulate thought process 'so that' the psyche in its dilemma sets moving the thought process in itself'.
processes'. Sense experience per se 'fails to challenge the thought process to undertake inquiry' and 'the psyche of most men is not compelled to put a question to the thought process'.Plato does not here mean that psyche and thought process are distinct, for a little later he speaks of 'the psyche, caught in a dilemma', asking questions of the senses, and again 'the psyche challellges calculation and thought process to undertake examination'. There are situations where sense impressions are contradictory. It is these which 'offer challenge to the intellect and stimlulate thought process 'so that' the psyche in its dilemma sets moving the thought process in itself'.
 
  
'''Der Auftritt der Vernunft'''
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== Wovon reden wir eigentlich? ==
  
[[Vielgestaltig und wahr: Verbindung zu Wittgenstein (BD)]]
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[[Sokrates, Platon und die Struktur der Bildung (bpb)]]
  
== Wovon reden wir eigentlich? ==
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=== Der Auftritt der Vernunft ===
  
[[Sokrates, Platon und die Struktur der Bildung (bpb)]]
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[[Vielgestaltig und wahr: Verbindung zu Wittgenstein (BD)]]
  
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[[Platon für Aufsteiger (BD)]]
  
 
== Das Buch: Bedenken und Chance ==
 
== Das Buch: Bedenken und Chance ==
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'''Plato: Phaidros 274d - 277a'''
 
'''Plato: Phaidros 274d - 277a'''
  
SOKRATES: Ich habe also vernommen, zu Naukratis in Ägypten sei einer der dortigen alten Götter gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja Ibis nennen, eignete, der Dämon selbst aber habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. Weiter aber, da damals über ganz Ägypten Thamus König war in der großen Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen Gott Ammon nennen, so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe? Indem er's nun auseinandersetzte, so wußte er, wie ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte, es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst in beiderlei Richtung frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde. Als er aber an den Buchstaben war, sagte der Theuth: " Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen, denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden." Thamus aber erwiderte: "O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die sie gebrauchen werden.  [275 St.] So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel hören sind dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise."
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SOKRATES: Ich habe also vernommen, zu Naukratis in Ägypten sei einer der dortigen alten Götter gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja Ibis nennen, eignete, der Dämon selbst aber habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. Weiter aber, da damals über ganz Ägypten Thamus König war in der großen Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen Gott Ammon nennen, so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe? Indem er's nun auseinandersetzte, so wußte er, wie ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte, es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst in beiderlei Richtung frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde. Als er aber an den Buchstaben war, <font color="purple">sagte der Theuth: "Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen, denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden."</font> Thamus aber erwiderte: "O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die sie gebrauchen werden.  [275 St.] <font color="purple">So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden.</font> Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel hören sind dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise."
  
 
PHAIDROS:  O Sokrates, leicht erdichtest du ägyptische und dir beliebig wo immer heimische Reden!
 
PHAIDROS:  O Sokrates, leicht erdichtest du ägyptische und dir beliebig wo immer heimische Reden!
  
SOKRATES: Es sagen ja gar welche, die ersten wahrsagerischen Reden seien die einer Eiche im Tempel des Zeus in Dodona gewesen. Den damals Lebenden also, die eben keine Weisen waren wie ihr Jüngeren, genügte es, in Einfalt den Baum und den Fels anzuhören, wenn sie nur Wahres redeten. Dir aber ist es vielleicht ein Unterschied, wer der Redende und wo er heimisch ist? Denn nicht auf jenes allein siehst du, ob es sich so, ob anders verhält.
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PHAIDROS:  Mit Recht hast du mich gescholten! Auch mir scheint es sich in betreff der Buchstaben zu verhalten, wie der Thebaier sagt.
 
  
 
SOKRATES: Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen, und wieder, wer sie annimmt, als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der möchte wohl großer Einfalt voll sein und in der Tat den Wahrspruch des Ammon nicht kennen, indem er glaubt, geschriebene Reden seien etwas mehr als eine Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt.
 
SOKRATES: Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen, und wieder, wer sie annimmt, als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der möchte wohl großer Einfalt voll sein und in der Tat den Wahrspruch des Ammon nicht kennen, indem er glaubt, geschriebene Reden seien etwas mehr als eine Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt.
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PHAIDROS:  Sehr richtig!
 
PHAIDROS:  Sehr richtig!
  
SOKRATES: Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da, wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm. Geradeso auch die Reden, du könntest meinen, sie sprechen, als verständen sie etwas, wenn du aber in der Absicht, dich zu belehren, nach etwas von dem Gesprochenen fragst, zeigen sie immer nur eines und dasselbe an. Und wenn sie einmal geschrieben ist, so treibt sich jede Rede aller Orten umher gleicherweise bei den Verständigen wie nicht minder bei denen, für die sie gar nicht paßt, und weiß nicht, bei wem sie eigentlich reden und nicht reden soll, vernachlässigt aber und ungerecht geschmäht, hat sie immer ihren Vater als Helfer nötig, denn selbst vermag sie weder sich zu wehren noch sich zu helfen.
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SOKRATES: <font color="purple">Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da, wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm. Geradeso auch die Reden, du könntest meinen, sie sprechen, als verständen sie etwas, wenn du aber in der Absicht, dich zu belehren, nach etwas von dem Gesprochenen fragst, zeigen sie immer nur eines und dasselbe an. Und wenn sie einmal geschrieben ist, so treibt sich jede Rede aller Orten umher gleicherweise bei den Verständigen wie nicht minder bei denen, für die sie gar nicht paßt, und weiß nicht, bei wem sie eigentlich reden und nicht reden soll, vernachlässigt aber und ungerecht geschmäht, hat sie immer ihren Vater als Helfer nötig, denn selbst vermag sie weder sich zu wehren noch sich zu helfen.</font>
  
 
PHAIDROS:  Auch dies ist sehr richtig von dir gesagt.
 
PHAIDROS:  Auch dies ist sehr richtig von dir gesagt.
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PHAIDROS:  Welche denn, und wie soll sie nach deiner Meinung entstehen?
 
PHAIDROS:  Welche denn, und wie soll sie nach deiner Meinung entstehen?
  
SOKRATES: Jene, die mit Wissenschaft in die Seele des Lernenden geschrieben wird, und die sich nicht nur selbst zu wehren vermag, sondern auch zu reden und zu schweigen, weiß, gegen wen es sein soll.
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SOKRATES: <font color="purple">Jene, die mit Wissenschaft in die Seele des Lernenden geschrieben wird, und die sich nicht nur selbst zu wehren vermag, sondern auch zu reden und zu schweigen, weiß, gegen wen es sein soll.
  
PHAIDROS:  Du redest von der lebendigen und beseelten Rede des Wissenden, von der die geschriebene mit Recht ein Abbild genannt werden mag.
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PHAIDROS:  Du redest von der lebendigen und beseelten Rede des Wissenden, von der die geschriebene mit Recht ein Abbild genannt werden mag.</font>
  
 
SOKRATES: Nun freilich, allerdings! Sage mir denn dieses: Ein Landmann, der Verstand hat, wird er den Samen, an dem ihm gelegen ist und von dem er gerne Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer in Adonisgärtchen bauen und sich nun freuen, wenn er schaut, daß diese binnen acht Tagen schön stehen? Oder wird er dieses nicht des Spiels und des Festes wegen so machen, wenn er es überhaupt tut, den aber, mit dem es ihm Ernst ist, nach den Regeln der Kunst des Landbaus dahin, wohin es sich gehört, säen und vergnügt sein, wenn das, was er säete, im achten Monat seine Zeitigung erlangt?
 
SOKRATES: Nun freilich, allerdings! Sage mir denn dieses: Ein Landmann, der Verstand hat, wird er den Samen, an dem ihm gelegen ist und von dem er gerne Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer in Adonisgärtchen bauen und sich nun freuen, wenn er schaut, daß diese binnen acht Tagen schön stehen? Oder wird er dieses nicht des Spiels und des Festes wegen so machen, wenn er es überhaupt tut, den aber, mit dem es ihm Ernst ist, nach den Regeln der Kunst des Landbaus dahin, wohin es sich gehört, säen und vergnügt sein, wenn das, was er säete, im achten Monat seine Zeitigung erlangt?
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PHAIDROS:  Noch weit schöner ist das, was du da sagst.
 
PHAIDROS:  Noch weit schöner ist das, was du da sagst.
  
SOKRATES: Nun denn, o Phaidros, können wir erst jenes beurteilen, nachdem wir uns über dieses verständigt haben.
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== Keine Schrift ==
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'''Plato 7. Brief, 341a - 342a'''
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In diesem Sinne wurde denn auch der Vortrag bei Dionys begonnen. Alle Teile meiner Lehre stellte ich ihm natürlich unter diesen Umständen nicht dar, und Dionys verlangte auch nicht darnach. Er selbst hatte ja, wie er sich den Anschein gab, schon Wissen genug, und zwar in den größten Geheimnissen, und war bereits ganz fertig in Folge der von Andren aufgefangenen Weisheit. Später aber, wie ich von Hörensagen weiß, soll er über die damals von mir gehörten Gedanken geschrieben haben, als wenn es sein eigenes System wäre, und nichts von eben dem was er hörte, ich kenn' aber nichts von dem.
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Von Andren zwar weiß ich daß sie über eben dieselben Materien geschrieben haben, dagegen gibt es auch gewisse Andre welche nicht ein Mal selbst wissen, daß sie geschrieben haben. Über alle Schriftsteller hierüber, sowohl über die jetzigen wie über die künftigen, welche versichern <font color="purple">über die Hauptmaterien meines Studiums Etwas zu wissen, sei es aus meinem eigenen Munde oder aus dem Anderer oder durch eigne Auffindung, habe ich hier den Satz auszusprechen</font>, jene Schreiber verstehen, nach meinem philosophischen Glaubensbekenntnisse wenigstens, über die Philosophie gar nichts.
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<font color="purple"> Es gibt ja von mir einmal über jene Materien keine Schrift und wird auch keine geben. Denn in bestimmten sprachlichen Schul-Ausdrücken darf man sich darüber wie über andre Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn.</font> Und soviel wenigstens weiß ich in dieser Beziehung, daß schriftliche oder mündliche Äußerungen hierüber doch am besten von mir geschehen würden, und da muß es mich denn sehr arg schmerzen, <font color="purple">daß meine Gedanken entstellt in die Welt hinausgeschrieben worden sind. Wenn es mir vernünftig geschienen hätte, daß jene Gedanken durch Schrift und durch Wort unverschleiert unter dem Volke verbreitet werden dürften, was für eine schönere Lebensaufgabe würde ich da gehabt haben als der Menschheit großes Heil zu bescheren und dabei das Wesenhafteste des Universums aller Welt an's Tageslicht zu bringen!</font> Aber weder die Veröffentlichung jener Geheimnisse noch die populäre Behandlung jener Materien halte ich für Menschen für ein Glück, mit Ausnahme von wenigen Auserwählten, von allen jenen nämlich welche im Stande sind auf einen ganz kleinen Wink selbst zu finden. Von dem übrigen Publikum muß sie natürlich Einigen auf unverantwortliche Weise eine ganz dumme Verachtung einflößen, Andren dagegen eine Überspanntheit und Aufgeblasenheit in Folge des Wahnes als wenn sie jetzt alle Weisheit mit Löffeln genossen hätten.
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Hier taucht mir der Gedanke auf, mich noch etwas ausführlicher über jenes <font color="purple">Thema von der Profanierung der höheren Wahrheiten durch Schriften</font> zu verbreiten, denn es dürfte jener hier in Rede stehende Satz dadurch noch klarer einleuchten.
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'''342a - 344d'''
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Bei einem jeden der Dinge gibt es drei Momente, durch welche nach ewiger Weltordnung die vollständige geistige Erkenntnis Schritt für Schritt zu Stande kommt, das vierte ist das Erkennen selbst, als das fünfte ist dasjenige zu setzen, was eben erst sich durch Vertiefung in der Vernunft erkennen läßt und das wahre Urbild des Dinges ist. <font color="purple">Das erste dieser Momente ist der Name, das zweite ist die sprachlich ausgedrückte Begriffsbestimmung, das dritte ist das durch die körperlichen Sinne wahrnehmbare Bild, das vierte ist die begriffliche Erkenntnis.</font>
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Wenn man nun das hier allgemein Gesagte deutlicher verstehen will, so fasse man es an einem besonderen Beispiel, und denke sich dann die Sache bei allen Dingen überhaupt. Kreis ist zum Beispiel ein sprachlich bezeichnetes Ding, das eben den Namen hat, welchen wir eben laut werden ließen. Das Zweite von jenem Dinge würde die sprachliche ausgedrückte Begriffsbestimmung sein, welche aus Nenn- und Aussagewörtern zusammengesetzt ist, zum Beispiel: ‚das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte’ wäre wohl die Erklärung von jenem Dinge, das den Namen Rund, Zirkel, Kreis hat. Das Dritte ist das in die äußeren Sinne fallende körperliche Bild davon, zum Beispiel vom Zeichner und vom Drechsler angefertigt, was sich wieder auslöschen und vernichten läßt, Zufälle welchen der Begriff des Kreises an sich, mit dem alle jene Meister sich beschäftigen, nicht unterworfen ist, weil er etwas Anderes und ganz davon Verschiedenes ist. Das Vierte ist das dies zusammenfassende Erkennen, das Begreifen durch den vernünftig denkenden Geist, die wahre Vorstellung von solchen Dingen, und diese ganze Tätigkeit muß man als eine zählen, da sie nicht in äußerlichen sprachlichen Lauten, nicht in den der körperlichen Wahrnehmung zugänglichen Gestalten, sondern innerhalb der Seele ist, und durch diese Innerlichkeit unterscheidet sich diese Erkenntnis erstlich von dem Urkreis an sich und zweitens auch von den drei vorhin genannten Erkenntnis-Momenten. Unter den Erkenntnis-Momenten aber ist das des zusammenfassenden Vermögens der Vernunft dem Fünften, dem Urkreis an sich an Verwandtschaft am nächsten, die andren aber stehen weit zurück.
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Das hier beispielsweise vom Kreise Gesagte gilt nun natürlich überhaupt ebenso gut von der gradlinigen Figur und Zeichnung wie von der zirkelrunden, vom Begriff Gut sowohl wie vom Schönen und Gerechten, von allem Körperlichen sei es Kunst- oder Natur-Produkt, von Feuer und Wasser und allen dergleichen Elementen, von jedem Geschöpfe der gesamten Tierwelt wie von jeder Individualität der menschlichen Seele, von allen Ursachen und Wirkungen. Denn wenn jemand nicht die vier ersten Erkenntnis-Momente der zu erkennenden Objekte auf irgend eine Weise inne hat, so kann er des fünften Momentes, der ideellen oder intelligiblen Realität oder Wesenheit, nicht vollständig teilhaftig werden.
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Außer den vorgenannten Aufschlüssen haben jene vier Momente folgenden Nachteil, sie suchen nämlich nicht minder die sinnliche Eigenschaft als das durch die Vernunft wahrnehmbare Wesen eines jeden Objektes zu zeigen, und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen Bezeichnungen. Aus diesem Grunde wird kein vernünftig gebildeter Mensch es je über sich gewinnen, die durch die reine Vernunft von ihm erfaßten Wahrheiten in jene unzulänglichen Sprach-Bezeichnungen zu versetzen, zumal da diese etwas ganz Unbeholfenes sind, ein Mißstand welcher bekanntlich bei den durch Buchstaben geschehenden Veröffentlichungen eintritt.  
  
PHAIDROS:  Was denn?
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Das hier allgemein Gesagte muß man sich wiederum an demselben Beispiele erläutern. Jeder Kreis, welcher unter Menschen-Händen gezeichnet oder gedrechselt wird, hat sehr Vieles vom Gegenteil dessen welches wir als das fünfte der Erkenntnis-Momente aufzählten, denn der sinnliche Kreis kommt überall in das Gebiet der Linien, dagegen der ideelle Urkreis, hat, denk' ich, schlechterdings nichts von der gegenteiligen Natur an sich. Ferner auch der Name jener einzelnen in die Sinne fallenden Dinge hat bei keinen festen Bestand an sich, und es hindert gar nichts die jetzt krumm genannten Dinge grad zu nennen und die graden krumm, und sie bleiben uns nach dieser Umänderung und entgegensetzten Benennung noch ebenso in festem Bestand. Dieselbe Betrachtung gilt vom sprachlichen Ausdrucke oder der Definition eines Dinges insofern sie aus der Zusammensetzung von Nenn- und Aussagewörtern besteht, so ist gar nichts vollkommen Festes daran. Und so läßt sich tausendfach von jedem der vier Erkenntnis-Momente nachweisen, daß es dabei kein deutlich Festes gibt.
  
SOKRATES: Das, was wir eigentlich betrachten wollen, und was uns ja eben hierher geführt hat, daß wir nämlich sowohl über den dem Lysias gemachten Vorwurf wegen des Redenschreibens eine Prüfung anstellen wollten, als über die Reden selbst, welche wohl mit Kunst und ohne Kunst geschrieben würden. Und zwar scheint mir nun das, was kunstmäßig sei oder nicht, gebührend erklärt worden zu sein.
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Das Ärgste hierbei ist, was wir schon oben berührt haben, während nämlich die Seele von den zwei Seiten des Seins, das nicht sinnlich wahrnehmbare wesenhafte Sein und die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit eines Wesens, nicht nach der sinnlichen Beschaffenheit sondern nach dem wesenhaften Sein strebt, so hält jedes der vier Erkenntnis-Momente derselben Seele sowohl im Reiche des Gedankens wie in dem der Praxis zuvor das nicht Gesuchte, die sinnliche Beschaffenheit, vor und erfüllt dadurch jeden Menschen mit jeder Art von Zweifel und Unklarheit, weil alle Mal ein jedes der erwähnten vier Momente das durch sinnliche Worte oder Zeichen Ausdrückbare als etwas für leibliche Sinne leicht Faßliches dazwischen schiebt.  
  
PHAIDROS:  Wirklich schien es so. Indessen rufe mir's noch einmal ins Gedächtnis zurück, wie?
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...
  
SOKRATES: Bevor einer das Wahre der einzelnen Gegenstände, über die er spricht und schreibt, sich zum Bewußtsein gebracht, sodann sich in den Stand gesetzt hat, das Ganze begrifflich zu bestimmen, sofort, nachdem er es bestimmt hat, es wieder nach Arten bis zum Unteilbaren zu teilen versteht, ferner auf dieselbe Weise, die Natur der Seele durchschauend, die jeder Seele entsprechende Art auffindet und danach die Rede setzt und anordnet, also einer vielgestaltigen Seele vielgestaltige und tonreiche Reden darbietet, einer einfachen aber einfache, eher, sagten wir, werde er nicht imstande sein, mit Kunst, soweit es die Natur des Gegenstandes fordert, das Geschlecht der Reden zu handhaben, weder zum Zweck der Belehrung noch zu dem der Überredung, wie die ganze bisherige Rede uns dargetan hat.
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Ja der durch alle jene Erkenntnisstufen mit Anstrengung und oft wiederholte Gang erzeugt nur schwerlich eine Erkenntnis vom ursprünglich vollkommen Wesenhaften bei dem Denker, welcher mit den jenem Wesenhaften verwandten Eigenschaften geboren ist. Wer dagegen mit schlechten Eigenschaften geboren ward, wie der Seelen-Zustand der großen Masse des Volkes sowohl in Absicht auf theoretisches Studium als auch auf praktische Erwerbung der so genannten Sittlichkeit von Hause aus beschaffen und zum Teil auch verhunzt worden ist, solche Leute würde nicht einmal Lynkeus zur Anschauung des ewig wahren und Wesenhaften bringen können. Kurz und gut: Wer nicht innerlich mit der Philosophie verwandt ist, dem kann weder leichte Fassungsgabe noch ein gutes Gedächtnis diese Eigenschaft ersetzen, denn überhaupt kann sie bei widerstrebender Geistesrichtung nicht ins Leben treten. Daraus geht der Folgesatz hervor: Alle welche keine innere Empfindung und Verwandtschaft für Gerechtigkeit und alles andere Höhere bei vorwiegenden Fassungs- und Gedächtnisgaben besitzen, eben so die welche jene Verwandtschaft, aber in Verbindung mit schwerer Fassungsgabe und einem schlechten Gedächtnisse haben, alle diese werden niemals das wahre Wesen der Tugend und des Lasters begreifen. Denn zugleich muß man jene beide Gebiete studieren, sowohl das unwahre als auch das wahre des ganzen Seins mit allem Mühe- und Zeitaufwand, wie ich schon von Anfang bemerkte. <font color="purple">Und wenn erst durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf.</font>
  
PHAIDROS: Allerdings nun hat sich dieses ungefähr so herausgestellt.
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<font color="purple">Darum nun ist jeder ernste Mann, der kein Mietling der Wissenschaft ist, weit entfernt über ernste, hochwürdige Gegenstände seine Gedanken durch die Schrift unter der Menschheit zu veröffentlichen und dadurch sie der Schwatzsucht und Herabwürdigung des Pöbels preis zu geben.</font> Was aus diesen Betrachtungen zu entnehmen ist, das ist mit einem Worte Folgendes: wenn einer von Jemandem schriftliche Veröffentlichungen, sei es über Gesetze von einem Gesetzgeber oder seien es über andere Gegenstände sonst welche Schriften, in seine Hand bekommt, so muß er denken, daß dies die besten Gedanken bei dem noch nicht sind, sofern er selbst kein unwürdiger Mensch ist, sondern daß jene am schönsten Plätzchen seiner Habe aufbewahrt liegen. Sollten aber von jenem diese seine achtenswertesten Gedanken in Schriften profaniert worden sein, nun so mache man dann den Schluß, daß nicht Götter sondern sterbliche Menschen allein ihn aller Befindungs- und Überlegungskraft beraubt haben.
  
 
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[[Kategorie: mündlich, schriftlich, elektronisch]]
 
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Aktuelle Version vom 6. Mai 2011, 07:20 Uhr

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Ilias, Beginn

Ilias-start.jpg
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.
Stanley Lombardo <flashmp3>http://131.130.46.67/wiki_stuff/ilias-start.mp3</flashmp3> Ioannidis Nikolaos

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ILIAS m. Top 10

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Platon gegen die Dichter

Politeia 595 passim

Ja, antwortete ich, obwohl eine von Jugend auf an Homer mich fesselnde Liebe und Ehrfurcht mich abhält, zu äußern, was ich denke, es muß einmal heraus! Denn er ist offenbar von allen diesen feinen Theaterhelden der erste Lehrmeister und Anführer. Heraus muß es darum, was ich über ihn denke; denn eine menschliche Person darf nicht über die Wahrheit gestellt werden!
Nachahmende Darstellung überhaupt, kannst du mir einen allgemeinen Begriff dessen angeben, was sie eigentlich ist? Denn ich selbst finde es gar nicht recht zusammen, was sie eigentlich sein will.
Wollen wir also von folgendem Standpunkte aus nach unserer gewöhnlichen Methode die Betrachtung beginnen? Unser gewöhnlicher Standpunkt ist nämlich, daß wir eine begriffliche Einheit allemal bei jeder Art von Vielheiten annehmen, denen wir denselben Namen geben, oder begreifst du's nicht? ... So wollen wir denn auch jetzt, wenn's gefällt, einige beliebige Vielheiten annehmen, es gibt z.B. eine Vielheit von Stühlen und Tischen. ... Aber begriffliche Einheiten gibt es von diesen Gerätschaften nur zwei, eine vom Stuhl, eine vom Tisch. ... Nicht wahr, nach unserer Gewohnheit drücken wir uns aus, daß der Verfertiger jeder der beiden Gerätschaften im Hinblick auf die begriffliche Einheit schafft, der eine Stühle, der andere Tische zu unserem praktischen Gebrauche, denn die begriffliche Einheit davon verfertigt uns keiner der menschlichen Werkmeister, wie wäre es denn auch möglich?
Aber jetzt weiter, sieh dir einmal folgenden Meister an! Welchen Namen wirst du ihm geben? Der alle möglichen Dinge macht, die nur immer jeder einzelne der Künstler hervorbringt. ... Von einem außerordentlichen Manne sprichst du da, und von einem, der den Namen eines Wundermannes verdient! ... Noch gar nicht! Du wirst ihm gleich noch einen besseren und höheren Namen geben, denn derselbe Künstler kann nicht nur alle Gerätschaften bilden, sondern er bildet auch alle Erzeugnisse der Erde, bringt alle lebenden Wesen hervor, alles übrige sowohl als auch sich selbst, außerdem Erde, Himmel, Götter, alles am Himmel und im Hades unter der Erde, alles macht er!
Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen, sondern, um in dem Beispiel von vorhin fortzufahren, [601 St.] der Maler stellt einen Schuhmacher nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben und Umrissen gucken, nicht wahr?
Ja, allerdings.
Und ebenso dürfen wir natürlich auch von dem dramatisch darstellenden Dichter sagen, daß er gleichsam auch nur Farben von dieser und jener Kunst und Wissenschaft in Floskeln und Phrasen auftrage, ohne selbst davon etwas gründlich zu verstehen als eben das Nachahmen, so daß es dann anderen ebenso unverständigen Menschen, die nur den Glanz der Phrasen begaffen, eine ganz gediegene Darstellung zu sein scheint, mag es sich nun um Schuhmacherei oder Feldherrnkunst oder um jede beliebige andere Sache handeln, wenn es nur in Versen sowie in musikalischer Takt- und Tonart geschieht, so groß sei der Zauber, den eben diese musikalische Begleitung von Natur ausübe! Denn entblößt von dem Farbenglanz des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen Texte vorgetragen, weißt du, glaube ich, selbst, wie die Erzeugnisse der dramatisch darstellenden Dichter erscheinen, denn du hast es wohl beobachtet!"
vgl. Beispiel: Sitzmöbel

Eric Havelock S. 42ff

In a preliterate society, how is this statement preserved? The answer inescapably is: in the living memories of successive living people who are young and then old and then die. Somehow, a collective social memory, tenacious and reliable,is an absolute social prerequisite for maintaining the apparatus of any civilisation. But how can the living memory retain such an elaborate linguistic statement without suffering it to change in transmissionfrom man to man and from generation to generation and so to lose all fixity and authority? One need only experiment today with the transmission of a single prosaic directive passed down by word of mouth from person to person in order to conclude that preservationin prose was impossible. The only possible verbal technology available to guarantee the preservation and fixity of transmission was that of the rhythmic word organised cunningly in verbal and metrical patterns which were unique enough to retain their shape. This is the historical genesis, the fons et origo, the moving cause of that phenomenon we still call 'poetry'. But when we consider how utterly the function of poetry has altered, how completely the cultural situation has changed, it becomes possible to understand that when Plato is talking about poetry he is not really talking about our kind of poetry.
The probable answers to two of our problems have now already been revealed. If Plato could deal with poetry as though it were a kind of reference library or as a vast tractate in ethics and politics and warfare and the like, he is reporting its immemorial function in an oral culture and testifying to the fact that this remained its function in Greek society down to his own day. It is first and last a didactic instrument for transmitting the tradition. And if secondly he treats it throughout the Republic as though it enjoyed in current practice a complete monopoly over training in citizenship he likewise is describing with faithfulness the educational mechanisms of such a culture. The linguistic content had to be poetic or else it was nothing.
And the answers to several of the puzzles become apparent if we consider precisely what in an oral culture the educational mechanisms amount to. They cannot be narrowly identified with schools and schoolmasters or with teachers,as though these represented a unique source of indoctrination, as they do in a literate society. All memorisation of the poetised tradition depends on constant and reiterated recitation. You could not refer to a book or memorise from a book. Hence poetry exists and is effective as an educational instrument only as it is performed. Performance by a harpist for the benefit of a pupil is only part of the story. The pupil will grow up and perhaps forget. His living memory must at every turn be reinforced by social pressure. This is brought to bear in the adult context, when in private performance the poetic tradition is repeated at mess table and banquet and family ritual, and in public performance in the theatre and market-place. The recital by parents and elders, the repetition by children and adolescents, add themselvesto the professional recitations given by poets, rhapsodists and actors. The community has to enter into an unconscious conspiracy with itself to keep the tradition a live, to reinforce it in the collective memory of a society where collective memory is only the sum of individuals' memories, and these have continually to be recharged at all age levels. Hence Plato's mimesis, when it confuses the poet's situation with the actor's, and both of these with the situation of the student in class and the adult in recreation,is faithful to the facts.
In short, Plato is describing a total technology ofthe preserved word which has since his day in Europe ceased to exist.

Eric Havelock S. 205ff

And what then, asks Plato,is the process, properly understood, that we name education? Not the implanting of new knowledge in the psyche. Rather there is a faculty (dynamis) in the psyche, an organ which every man uses in the learning process, and it is this innate faculty which,like a physical eye, must be converted towards new objects. Higher education is simply the technique of conversion of this organ. 'Thinking' is a 'function' (arete) of the psyche supreme above all others; it is indestructible , but it has to be converted and refocused in order to become serviceable. ...
And what is to be the mathema or object of study which shall produce this effect of conversion? As he seeks the answer to this question and proposes 'number and calculation', as the first item in his curriculum, Plato drops into a linguistic usage which reaffirms, over and over again, the conception of the psyche as the seat of free autonomous reflection and cogitation. It is the learning process associated with arithmetic which 'leads to thought processes'. Sense experience per se 'fails to challenge the thought process to undertake inquiry' and 'the psyche of most men is not compelled to put a question to the thought process'. Plato does not here mean that psyche and thought process are distinct, for a little later he speaks of 'the psyche, caught in a dilemma', asking questions of the senses, and again 'the psyche challellges calculation and thought process to undertake examination'. There are situations where sense impressions are contradictory. It is these which 'offer challenge to the intellect and stimlulate thought process 'so that' the psyche in its dilemma sets moving the thought process in itself'.

Wovon reden wir eigentlich?

Sokrates, Platon und die Struktur der Bildung (bpb)

Der Auftritt der Vernunft

Vielgestaltig und wahr: Verbindung zu Wittgenstein (BD)

Platon für Aufsteiger (BD)

Das Buch: Bedenken und Chance

Plato: Phaidros 274d - 277a

SOKRATES: Ich habe also vernommen, zu Naukratis in Ägypten sei einer der dortigen alten Götter gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja Ibis nennen, eignete, der Dämon selbst aber habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. Weiter aber, da damals über ganz Ägypten Thamus König war in der großen Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen Gott Ammon nennen, so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe? Indem er's nun auseinandersetzte, so wußte er, wie ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte, es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst in beiderlei Richtung frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde. Als er aber an den Buchstaben war, sagte der Theuth: "Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen, denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden." Thamus aber erwiderte: "O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die sie gebrauchen werden. [275 St.] So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel hören sind dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise."

PHAIDROS: O Sokrates, leicht erdichtest du ägyptische und dir beliebig wo immer heimische Reden!

...

SOKRATES: Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen, und wieder, wer sie annimmt, als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der möchte wohl großer Einfalt voll sein und in der Tat den Wahrspruch des Ammon nicht kennen, indem er glaubt, geschriebene Reden seien etwas mehr als eine Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt.

PHAIDROS: Sehr richtig!

SOKRATES: Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da, wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm. Geradeso auch die Reden, du könntest meinen, sie sprechen, als verständen sie etwas, wenn du aber in der Absicht, dich zu belehren, nach etwas von dem Gesprochenen fragst, zeigen sie immer nur eines und dasselbe an. Und wenn sie einmal geschrieben ist, so treibt sich jede Rede aller Orten umher gleicherweise bei den Verständigen wie nicht minder bei denen, für die sie gar nicht paßt, und weiß nicht, bei wem sie eigentlich reden und nicht reden soll, vernachlässigt aber und ungerecht geschmäht, hat sie immer ihren Vater als Helfer nötig, denn selbst vermag sie weder sich zu wehren noch sich zu helfen.

PHAIDROS: Auch dies ist sehr richtig von dir gesagt.

SOKRATES: Wie aber? Wollen wir etwa eine andere Rede ins Auge fassen, die leibliche Schwester von dieser, auf welche Weise sie entsteht und wieviel besser und wirksamer als jene sie in ihrem Wüchse ist?

PHAIDROS: Welche denn, und wie soll sie nach deiner Meinung entstehen?

SOKRATES: Jene, die mit Wissenschaft in die Seele des Lernenden geschrieben wird, und die sich nicht nur selbst zu wehren vermag, sondern auch zu reden und zu schweigen, weiß, gegen wen es sein soll.

PHAIDROS: Du redest von der lebendigen und beseelten Rede des Wissenden, von der die geschriebene mit Recht ein Abbild genannt werden mag.

SOKRATES: Nun freilich, allerdings! Sage mir denn dieses: Ein Landmann, der Verstand hat, wird er den Samen, an dem ihm gelegen ist und von dem er gerne Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer in Adonisgärtchen bauen und sich nun freuen, wenn er schaut, daß diese binnen acht Tagen schön stehen? Oder wird er dieses nicht des Spiels und des Festes wegen so machen, wenn er es überhaupt tut, den aber, mit dem es ihm Ernst ist, nach den Regeln der Kunst des Landbaus dahin, wohin es sich gehört, säen und vergnügt sein, wenn das, was er säete, im achten Monat seine Zeitigung erlangt?

PHAIDROS: Sicher, o Sokrates, dürfte er dieses im Ernst, jenes aber, wie du sagst, in ganz anderem Sinne tun.

SOKRATES: Wer aber die Wissenschaft des Gerechten und des Schönen und des Guten inne hat, wollen wir sagen, daß der weniger Verstand habe hinsichtlich seines Samens als der Landmann?

PHAIDROS: Keineswegs.

SOKRATES: Nicht also im Ernst wird er sie ins Wasser schreiben, wollte sagen, mit Tinte durch die Feder in Reden aussäen, die unvermögend sind, sich selber redend zu helfen, unvermögend auch, das Wahre genügend zu lehren.

PHAIDROS: Nicht wohl, wie sich denken läßt!

SOKRATES: Nein, sondern die Buchstabengärtchen wird er, wie mir scheint, des Spiels halber besäen und beschreiben, so zwar, daß er, wenn er schreibt, einen Schatz von Denkwürdigkeiten sammelt sowohl für sich selbst auf die Zeit, da er in das Alter des Vergessens kommt, als für jeden, der derselben Spur nachgeht, und wenn er sie in ihrem zarten Wüchse schaut, wird er seine Lust daran haben; wenn aber andere andere Spiele treiben, bei Gastmahlen sich labend, oder was sonst damit verwandt ist, wird er statt dessen, wie mir scheint, an dem, wovon ich rede, seinen spielenden Zeitvertreib haben.

PHAIDROS: Ein gar schönes Spiel nennst du da neben einem unbedeutenden, o Sokrates, das Tun desjenigen, der in Reden zu spielen vermag, indem er in mythischer Dichtung redet von der Gerechtigkeit und anderem, wovon du sprichst.

SOKRATES: Und es ist so, mein lieber Phaidros. Viel schöner aber, glaube ich, ist das ernstliche Bemühen um diese Dinge, wenn einer, die dialektische Kunst anwendend, eine geeignete Seele nimmt und mit wissenschaftlichen Reden bepflanzt und besät, [277 St.] die sich selbst und dem Pflanzenden zu helfen geschickt und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen enthalten, aus dem in andersgearteten Gemütern wieder andere Reden erwachsen, die geschickt sind, denselben für immer unsterblich zu erhalten und den, der ihn inne hat, so glücklich zu machen, als es einem Menschen nur irgend möglich ist.

PHAIDROS: Noch weit schöner ist das, was du da sagst.

Keine Schrift

Plato 7. Brief, 341a - 342a

In diesem Sinne wurde denn auch der Vortrag bei Dionys begonnen. Alle Teile meiner Lehre stellte ich ihm natürlich unter diesen Umständen nicht dar, und Dionys verlangte auch nicht darnach. Er selbst hatte ja, wie er sich den Anschein gab, schon Wissen genug, und zwar in den größten Geheimnissen, und war bereits ganz fertig in Folge der von Andren aufgefangenen Weisheit. Später aber, wie ich von Hörensagen weiß, soll er über die damals von mir gehörten Gedanken geschrieben haben, als wenn es sein eigenes System wäre, und nichts von eben dem was er hörte, ich kenn' aber nichts von dem.

Von Andren zwar weiß ich daß sie über eben dieselben Materien geschrieben haben, dagegen gibt es auch gewisse Andre welche nicht ein Mal selbst wissen, daß sie geschrieben haben. Über alle Schriftsteller hierüber, sowohl über die jetzigen wie über die künftigen, welche versichern über die Hauptmaterien meines Studiums Etwas zu wissen, sei es aus meinem eigenen Munde oder aus dem Anderer oder durch eigne Auffindung, habe ich hier den Satz auszusprechen, jene Schreiber verstehen, nach meinem philosophischen Glaubensbekenntnisse wenigstens, über die Philosophie gar nichts.

Es gibt ja von mir einmal über jene Materien keine Schrift und wird auch keine geben. Denn in bestimmten sprachlichen Schul-Ausdrücken darf man sich darüber wie über andre Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn. Und soviel wenigstens weiß ich in dieser Beziehung, daß schriftliche oder mündliche Äußerungen hierüber doch am besten von mir geschehen würden, und da muß es mich denn sehr arg schmerzen, daß meine Gedanken entstellt in die Welt hinausgeschrieben worden sind. Wenn es mir vernünftig geschienen hätte, daß jene Gedanken durch Schrift und durch Wort unverschleiert unter dem Volke verbreitet werden dürften, was für eine schönere Lebensaufgabe würde ich da gehabt haben als der Menschheit großes Heil zu bescheren und dabei das Wesenhafteste des Universums aller Welt an's Tageslicht zu bringen! Aber weder die Veröffentlichung jener Geheimnisse noch die populäre Behandlung jener Materien halte ich für Menschen für ein Glück, mit Ausnahme von wenigen Auserwählten, von allen jenen nämlich welche im Stande sind auf einen ganz kleinen Wink selbst zu finden. Von dem übrigen Publikum muß sie natürlich Einigen auf unverantwortliche Weise eine ganz dumme Verachtung einflößen, Andren dagegen eine Überspanntheit und Aufgeblasenheit in Folge des Wahnes als wenn sie jetzt alle Weisheit mit Löffeln genossen hätten.

Hier taucht mir der Gedanke auf, mich noch etwas ausführlicher über jenes Thema von der Profanierung der höheren Wahrheiten durch Schriften zu verbreiten, denn es dürfte jener hier in Rede stehende Satz dadurch noch klarer einleuchten.

342a - 344d

Bei einem jeden der Dinge gibt es drei Momente, durch welche nach ewiger Weltordnung die vollständige geistige Erkenntnis Schritt für Schritt zu Stande kommt, das vierte ist das Erkennen selbst, als das fünfte ist dasjenige zu setzen, was eben erst sich durch Vertiefung in der Vernunft erkennen läßt und das wahre Urbild des Dinges ist. Das erste dieser Momente ist der Name, das zweite ist die sprachlich ausgedrückte Begriffsbestimmung, das dritte ist das durch die körperlichen Sinne wahrnehmbare Bild, das vierte ist die begriffliche Erkenntnis.

Wenn man nun das hier allgemein Gesagte deutlicher verstehen will, so fasse man es an einem besonderen Beispiel, und denke sich dann die Sache bei allen Dingen überhaupt. Kreis ist zum Beispiel ein sprachlich bezeichnetes Ding, das eben den Namen hat, welchen wir eben laut werden ließen. Das Zweite von jenem Dinge würde die sprachliche ausgedrückte Begriffsbestimmung sein, welche aus Nenn- und Aussagewörtern zusammengesetzt ist, zum Beispiel: ‚das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte’ wäre wohl die Erklärung von jenem Dinge, das den Namen Rund, Zirkel, Kreis hat. Das Dritte ist das in die äußeren Sinne fallende körperliche Bild davon, zum Beispiel vom Zeichner und vom Drechsler angefertigt, was sich wieder auslöschen und vernichten läßt, Zufälle welchen der Begriff des Kreises an sich, mit dem alle jene Meister sich beschäftigen, nicht unterworfen ist, weil er etwas Anderes und ganz davon Verschiedenes ist. Das Vierte ist das dies zusammenfassende Erkennen, das Begreifen durch den vernünftig denkenden Geist, die wahre Vorstellung von solchen Dingen, und diese ganze Tätigkeit muß man als eine zählen, da sie nicht in äußerlichen sprachlichen Lauten, nicht in den der körperlichen Wahrnehmung zugänglichen Gestalten, sondern innerhalb der Seele ist, und durch diese Innerlichkeit unterscheidet sich diese Erkenntnis erstlich von dem Urkreis an sich und zweitens auch von den drei vorhin genannten Erkenntnis-Momenten. Unter den Erkenntnis-Momenten aber ist das des zusammenfassenden Vermögens der Vernunft dem Fünften, dem Urkreis an sich an Verwandtschaft am nächsten, die andren aber stehen weit zurück.

Das hier beispielsweise vom Kreise Gesagte gilt nun natürlich überhaupt ebenso gut von der gradlinigen Figur und Zeichnung wie von der zirkelrunden, vom Begriff Gut sowohl wie vom Schönen und Gerechten, von allem Körperlichen sei es Kunst- oder Natur-Produkt, von Feuer und Wasser und allen dergleichen Elementen, von jedem Geschöpfe der gesamten Tierwelt wie von jeder Individualität der menschlichen Seele, von allen Ursachen und Wirkungen. Denn wenn jemand nicht die vier ersten Erkenntnis-Momente der zu erkennenden Objekte auf irgend eine Weise inne hat, so kann er des fünften Momentes, der ideellen oder intelligiblen Realität oder Wesenheit, nicht vollständig teilhaftig werden.

Außer den vorgenannten Aufschlüssen haben jene vier Momente folgenden Nachteil, sie suchen nämlich nicht minder die sinnliche Eigenschaft als das durch die Vernunft wahrnehmbare Wesen eines jeden Objektes zu zeigen, und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen Bezeichnungen. Aus diesem Grunde wird kein vernünftig gebildeter Mensch es je über sich gewinnen, die durch die reine Vernunft von ihm erfaßten Wahrheiten in jene unzulänglichen Sprach-Bezeichnungen zu versetzen, zumal da diese etwas ganz Unbeholfenes sind, ein Mißstand welcher bekanntlich bei den durch Buchstaben geschehenden Veröffentlichungen eintritt.

Das hier allgemein Gesagte muß man sich wiederum an demselben Beispiele erläutern. Jeder Kreis, welcher unter Menschen-Händen gezeichnet oder gedrechselt wird, hat sehr Vieles vom Gegenteil dessen welches wir als das fünfte der Erkenntnis-Momente aufzählten, denn der sinnliche Kreis kommt überall in das Gebiet der Linien, dagegen der ideelle Urkreis, hat, denk' ich, schlechterdings nichts von der gegenteiligen Natur an sich. Ferner auch der Name jener einzelnen in die Sinne fallenden Dinge hat bei keinen festen Bestand an sich, und es hindert gar nichts die jetzt krumm genannten Dinge grad zu nennen und die graden krumm, und sie bleiben uns nach dieser Umänderung und entgegensetzten Benennung noch ebenso in festem Bestand. Dieselbe Betrachtung gilt vom sprachlichen Ausdrucke oder der Definition eines Dinges insofern sie aus der Zusammensetzung von Nenn- und Aussagewörtern besteht, so ist gar nichts vollkommen Festes daran. Und so läßt sich tausendfach von jedem der vier Erkenntnis-Momente nachweisen, daß es dabei kein deutlich Festes gibt.

Das Ärgste hierbei ist, was wir schon oben berührt haben, während nämlich die Seele von den zwei Seiten des Seins, das nicht sinnlich wahrnehmbare wesenhafte Sein und die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit eines Wesens, nicht nach der sinnlichen Beschaffenheit sondern nach dem wesenhaften Sein strebt, so hält jedes der vier Erkenntnis-Momente derselben Seele sowohl im Reiche des Gedankens wie in dem der Praxis zuvor das nicht Gesuchte, die sinnliche Beschaffenheit, vor und erfüllt dadurch jeden Menschen mit jeder Art von Zweifel und Unklarheit, weil alle Mal ein jedes der erwähnten vier Momente das durch sinnliche Worte oder Zeichen Ausdrückbare als etwas für leibliche Sinne leicht Faßliches dazwischen schiebt.

...

Ja der durch alle jene Erkenntnisstufen mit Anstrengung und oft wiederholte Gang erzeugt nur schwerlich eine Erkenntnis vom ursprünglich vollkommen Wesenhaften bei dem Denker, welcher mit den jenem Wesenhaften verwandten Eigenschaften geboren ist. Wer dagegen mit schlechten Eigenschaften geboren ward, wie der Seelen-Zustand der großen Masse des Volkes sowohl in Absicht auf theoretisches Studium als auch auf praktische Erwerbung der so genannten Sittlichkeit von Hause aus beschaffen und zum Teil auch verhunzt worden ist, solche Leute würde nicht einmal Lynkeus zur Anschauung des ewig wahren und Wesenhaften bringen können. Kurz und gut: Wer nicht innerlich mit der Philosophie verwandt ist, dem kann weder leichte Fassungsgabe noch ein gutes Gedächtnis diese Eigenschaft ersetzen, denn überhaupt kann sie bei widerstrebender Geistesrichtung nicht ins Leben treten. Daraus geht der Folgesatz hervor: Alle welche keine innere Empfindung und Verwandtschaft für Gerechtigkeit und alles andere Höhere bei vorwiegenden Fassungs- und Gedächtnisgaben besitzen, eben so die welche jene Verwandtschaft, aber in Verbindung mit schwerer Fassungsgabe und einem schlechten Gedächtnisse haben, alle diese werden niemals das wahre Wesen der Tugend und des Lasters begreifen. Denn zugleich muß man jene beide Gebiete studieren, sowohl das unwahre als auch das wahre des ganzen Seins mit allem Mühe- und Zeitaufwand, wie ich schon von Anfang bemerkte. Und wenn erst durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf.

Darum nun ist jeder ernste Mann, der kein Mietling der Wissenschaft ist, weit entfernt über ernste, hochwürdige Gegenstände seine Gedanken durch die Schrift unter der Menschheit zu veröffentlichen und dadurch sie der Schwatzsucht und Herabwürdigung des Pöbels preis zu geben. Was aus diesen Betrachtungen zu entnehmen ist, das ist mit einem Worte Folgendes: wenn einer von Jemandem schriftliche Veröffentlichungen, sei es über Gesetze von einem Gesetzgeber oder seien es über andere Gegenstände sonst welche Schriften, in seine Hand bekommt, so muß er denken, daß dies die besten Gedanken bei dem noch nicht sind, sofern er selbst kein unwürdiger Mensch ist, sondern daß jene am schönsten Plätzchen seiner Habe aufbewahrt liegen. Sollten aber von jenem diese seine achtenswertesten Gedanken in Schriften profaniert worden sein, nun so mache man dann den Schluß, daß nicht Götter sondern sterbliche Menschen allein ihn aller Befindungs- und Überlegungskraft beraubt haben.