Die »Affaire du foulard« und liberale Toleranz

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Inhaltsverzeichnis

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Die folgende lange Geschichte begann im Oktober 1989 im französi­schen Creil, als drei französische Mädchen islamischen Glaubens die Schule mit der traditionellen islamischen Kopfbedeckung (dem hijab) betraten. Ihr Auftreten löste sofort eine Kontroverse aus: Die Schulleitung forderte die Mädchen auf, ihre Kopfbedeckungen abzulegen und sich wie alle anderen Schüler zu kleiden; die Mädchen, die von ihren Eltern und der islamischen Gemeinschaft unterstützt wurden, weigerten sich und wurden daraufhin der Schule verwiesen. Der Fall wurde publik und im ganzen Land wie auch jenseits der Grenzen ausführlich diskutiert. Bald ereignete sich ähnliches an anderen staatlichen Schulen. In diesem Stadium der Auseinandersetzung wandte sich der sozialistische Minister Lionel Jospin an den Conseil d' Etat (den Staatsrat), um klare Richtlinien für das gesamte Schulsystem festlegen zu können. Der Conseil nahm sich der Frage im November 1989 an und urteilte, daß französische Schüler das Recht hätten, ihren religiösen Glauben in öffentlichen Schulen auszudrücken, solange sie die Freiheiten ande­rer respektierten und solange ihre Bekundungen den normalen Unterricht nicht behinderten. Obgleich daraufhin die Mädchen mit ihren islamischen Schleiern wieder in die Schule aufgenommen wurden, sah die Rechtsent­scheidung für Toleranz eher nach einem de facto-Kompromiß aus als nach einer prinzipiengeleiteten Überlegung. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch eine (restriktive) Neuauslegung der Entscheidung des Conseil d' Etat, die der neue konservative Erziehungsminister Franwis Bayrou in einer of­fiziellen Weisung an alle Leiter öffentlicher Schulen vom September 1994 vornahm. Ohne die islamischen Schleier ausdrücklich zu erwähnen, beton­te der Minister, daß nur dezente und moderate religiöse Symbole an Schu­len geduldet werden könnten. Besonders auffällige und provokative Sym­bole seien verboten, da sie auf Versuche der Bekehrung und der Diskrimi­nierung unter den Schülern hindeuteten. Die naheliegende Lesart dieser Direktive war das Verbot des islamischen Schleiers, der ob seiner Sichtbar­keit als widerspenstig und provokativ erscheinen kann, während das ver­trautere christliche Kreuz und die moderate jüdische Kippa als dezentere Symbole in Schulen toleriert werden sollten. Inzwischen hielt die Kontro­verse über die Hinnahme des Schleiers in Frankreich an (begleitet von einer Duldung des hijab in vielen Schulen) und fand ihren Weg auch in andere europäische Länder, in denen ebenfalls die moslemische Minderheit anwächst und die gleichen Probleme aufkommen.

Meines Erachtens besteht der Hauptgrund dafür, daß dieser Fall sich als so sperrig erweist, nicht darin, wie einige liberale oder linke Intellek­tuelle behauptet haben, daß der islamische Schleier ein Zeichen des reli­giösen Fundamentalismus und der Unterdrückung von Frauen ist; und auch nicht darin, daß er westliche Vorurteile und französischen Chauvi­nismus gegenüber anderen Kulturen offenbart, wie einige radikale Post­modernisten zu glauben belieben. Das wahre Problem ist, daß sich die traditionellen liberalen Grundlagen der Toleranz als unzureichend erwei­sen, das Wesen und die Brisanz dieses Konfliktes zu erklären bzw. ihn beizulegen. Wenn Toleranz in liberalen Demokratien wie Frankreich ein grundlegendes Prinzip ist, das alle persönlichen Unterschiede und Beson­derheiten der Religion, der Ethik und der Lebensstile zuläßt, soweit keine dritten Personen geschädigt werden, dann scheint das Tragen von Kopf­tüchern selbstverständlich geduldet werden zu müssen. Warum aber haben Kopftücher an Schulen dann überhaupt ein Toleranzproblem aufgeworfen? In einem liberalen Deutungsrahmen läßt sich eine solch hart­näckige Auseinandersetzung allein mit dem Vorliegen einer fundamentalistischen Bedrohung, mit der Verteidigung der Frauenrechte oder mit einem anderen Anliegen erklären, das eine nichttolerante Haltung zu rechtfertigen vermag. Doch diese überkommenen Auffassungen von To­leranz und ihren notwendigen Begrenzungen sind zu revidieren, da sie Toleranz jeweils auf eine falsche Grundlage stellen. Was not tut, ist eine Rekonzeptualisierung liberaler Toleranz auf der Basis der richtigen Gründe. Dies will ich im folgenden Schritt für Schritt darlegen.

Dieses Problem "dürfte es gar nicht geben". Es verweist auf unausgesprochene Voraussetzungen des westlichen liberalen Konsensus. Das wird an der Unverhältnismäßigkeit der Begründungen für das Schleierverbot schnell sichtbar.

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Im Lichte der gebräuchlichsten Toleranzvorstellung, die ich als »naive liberale Sichtweise« bezeichnen möchte, erscheint die Kopftuchaffäre je­denfalls solange unerklärlich, wie man keine rassistischen und chauvinisti­schen Einstellungen auf seiten der Schulleitung unterstellt. Die naive libera­le Sichtweise, derzufolge ein jeder die Freiheit hat, seinen Idealen gemäß zu leben, sieht allein in der Schädigung anderer einen guten Grund zur Be­grenzung der Toleranz. Kopftücher, oder auch ein Tschador, schädigen kei­ne dritte Partei, und die Entscheidung, ein solches Tuch zu tragen, fällt ein­deutig in die Domäne der privaten Freiheit. Diese vereinfachende Deutung verschleiert jedoch den wahren Grund der Auseinandersetzung. Eine sol­che falsche Begründung der Toleranz läßt sich auf die religiösen und kultu­rellen Bedeutungsgehalte des islamischen Schleiers nicht ein und stellt diesen mit irgendwelchen extravaganten oder ungewöhnlichen Kleidungsstücken auf eine Stufe. Auf der Grundlage dieser Fehldeutung kann die Toleranz weder den Kritikern noch den drei Mädchen, ihren Familien und ihrer Ge­meinschaft als einleuchtende Lösung erscheinen. Da die symbolische Be­deutung der öffentlichen Anerkennung von Unterschieden bei der Wahl der toleranten Lösung keine Rolle gespielt hat, wurde dem Anspruch der Mädchen nicht wirklich entsprochen. Der Schulleitung ist sehr wohl be­wußt, daß das islamische Kopftuch etwas anderes ist als ein ulkiger Hut. Gleichzeitig wollten die islamischen Mädchen nicht als Clowns anerkannt werden, sondern als islamische Schülerinnen, d.h. als Schülerinnen mit ei­ner besonderen religiösen und kulturellen Identität. Der islamische Schleier ist das religiöse und kulturelle Symbol einer wachsenden Minderheit, die westliche Demokratien beunruhigt, und dies teilweise aufgrund von Vorurteilen und teilweise aus guten Gründen. Der Schleier wird gerade um seiner symbolischen Bedeutung willen getragen und bekämpft; als ulkige Kopfbe­deckung könnte er keine ernsten Kontroversen auslösen. Ein ulkiger Hut mag hingenommen oder verboten werden, je nachdem, wie weltoffen oder starr die Lehrer und Rektoren jeweils eingestellt sind. In jedem Fall würde die Angelegenheit nicht über die Schulmauern hinausdringen; allerhöch­stens gäbe sie Anlaß zu lokalem Klatsch und Tratsch.

  • zur Erinnerung: noch 1960 waren in Provinzgymnasien Hosen für Mädchen verboten
  • Punks, bauchfrei?
  • dem Anspruch entsprochen? Worin besteht der? In Frieden gelassen oder akzeptiert zu werden?
Zeichen besitzen eine logisch-soziale "Infrastruktur", vgl. zum Beispiel "18", "28", "88".

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Liberale Theorien der Toleranz sind indes anspruchsvoller, als die nai­ve Sichtweise suggeriert. Sowohl in ihrer perfektionistischen als auch in ihrer neutralistischen Spielart verbleibt die Wertschätzung liberaler Tole­ranz innerhalb bestimmter Grenzen, jenseits derer sie gefährlich, schäd­lich und selbstzerstörerisch wird; allerdings sind diese Grenzen in der Praxis schwer zu bestimmen und folglich stets umstritten. Demnach kann die Schleierdebatte im liberalen Bezugsrahmen als Auseinandersetzung um die gerechtfertigten Grenzen der Toleranz gedeutet werden. Diese Deutung nimmt den Schleier als religiöses und kulturelles Symbol ernst, anstatt ihn zu einem ulkigen Kopfschmuck herabzuwürdigen. Die Be­hauptung, daß Kopftücher im öffentlichen Raum die Grenzen der Tole­ranz überschritten, kann zweifellos erklären, warum eine Kopfbedeckung zu einer so heiß umstrittenen politischen Angelegenheit wurde. Ob diese Behauptung allerdings überzeugt, ist eine andere Frage.

Das perfektionistische Modell verankert den Wert der Toleranz in der Achtung vor der Autonomie anderer: Eine jede selbstbestimmte Entschei­dung verpflichtet uns zur Toleranz, egal, wie sehr wir diese Entscheidung ablehnen. Umgekehrt müssen nicht-autonome Entscheidungen – vorausgesetzt, wir können eine solche Differenzierung überhaupt vornehmen – unter diesem Vorzeichen nicht automatisch hingenommen werden. Diese Begründung von Toleranz schwankt in zweifacher Hinsicht. Erstens gilt der islamische Schleier, ob zu recht oder zu unrecht, als Symbol für die »Unsichtbarkeit« und Unterordnung der Frauen. Dieser Lesart zufolge ist die Wahl des Schleiers gleichbedeutend mit der Preisgabe der eigenen Freiheit. Selbst wenn es sich dabei um eine freie Entscheidung handelt, so beeinträchtigt sie doch die künftigen Möglichkeiten der Mädchen, frei zu entscheiden. In unserem Fall kommt zweitens hinzu, daß man den Man­gel an Autonomie in der Entscheidung der Mädchen auf familiären Druck zurückführen könnte; immerhin läßt sich behaupten, daß religiöse Ent­scheidungen in frühem Alter überhaupt nicht autonom erfolgen. Hätten wir es mit einer nichtautonomen Wahl zu tun, welche die künftige Unab­hängigkeit und Freiheit der Wählenden vereitelte, dann hätte der Staat gute Gründe für eine paternalistische Einmischung, um die schwache Par­tei – die minderjährigen Mädchen – vor elterlichem Zwang zu schützen. Immerhin verminderte ja dieser Zwang die bloße Möglichkeit der Mäd­chen, zu selbstbestimmten Bürgerinnen heranzuwachsen. So gesehen steht der wahre Grund der Auseinandersetzung außer Frage: Diese dreht sich um das Problem, ob ein fragwürdiges Verhalten von Minderjährigen hingenommen werden sollte oder nach staatlichem Eingreifen verlangt, um einer gravierenden Verschlechterung ihrer Lebensaussichten entge­genzuwirken.

Eben diese zweite Position wurde im Grundsatz von Elisabeth Badinter vertreten, einer feministischen Autorin und Ehefrau des Justizmini­sters unter Mitterand. Sie war aus den folgenden Gründen gegen eine Tolerierung des Schleiers. Der Schleier sei ein besonderes kulturelles Sym­bol, nicht anders als der Punk-Stil, der auf eine besondere Jugendkultur verweise. Doch während dieser zweite Stil einen Aufstand gegen elterli­che Konventionen und Konformismus anzeige, impliziere der erste die Unterordnung unter eine Familienkultur. Folglich gebe der Punk eine gewisse Unabhängigkeit und Autonomie zu erkennen, während das Anle­gen des Schleiers schlicht für blinden Gehorsam stehe; für einen Gehor­sam zudem, der den eigenen Aussichten auf Befreiung zuwiderlaufe. Aus diesen Gründen, so Badinter, sollte der Schleier verboten und der Punk zugelassen werden. Dieses Argument ist jedoch nicht akzeptabel. Es setzt das Recht des Staates voraus, symbolische Kleiderordnungen sowohl zu bewerten als auch gegebenenfalls gegen sie vorzugehen, obwohl sich sol­che Ordnungen der Eingriffsbefugnis eines liberalen Staates prinzipiell entziehen. Auf einem liberalen Standpunkt verfügen wir nicht über öf­fentlich einsehbare Gründe, warum die eine Kleiderordnung zulässig und die andere unzulässig sein sollte; unter der Voraussetzung, daß Toleranz die allgemeine Regel für den Umgang mit kulturellen, religiösen oder non­konformistischen Kleiderordnungen ist, benötigen wir außerordentliche Gründe für eine Begrenzung der Toleranz in besonderen Fällen.

Allgemein gesagt: Die paternalistische Argumentationslinie gegen das Kopftuch an Schulen ist zutiefst fragwürdig. Minderjährige unterliegen per definitionem der Entscheidungsbefugnis ihrer Familien in Fragen der Sozialisation, der Kultur und der Erziehung. Der liberaldemokratische Staat darf seinen eigenen Regeln zufolge nur dann eingreifen, wenn eine klare Evidenz für die Schädigung einer anderen Person oder der Gesell­schaft im ganzen gegeben ist. Es ist jedoch alles andere als evident, daß durch das Tragen des hijab mehr Schaden verursacht wird als etwa durch die Entscheidung, einen zehnjährigen Jungen auf ein katholisches Semi­nar zu schicken. Immerhin spricht vieles für die Vermutung, daß eine gro­ße Zahl von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen in der Lage wa­ren, sowohl katholischen Seminaren als auch den Regeln des hijab-Tra­gens nach eigenem Willen den Rücken zu kehren. In dieser Hinsicht mutet das Argument, das auf die Unterdrückung der Frauen abhebt, ziemlich schwächlich an. Nicht anders als religiöse Überzeugungen sollten auch Autonomie und Befreiung nicht erzwungen werden, und dies sowohl aus prinzipiellen Gründen als auch aus Gründen der Unwirksamkeit des Zwanges in bezug auf solche Zwecke. Schlußendlich würde die Rechtfer­tigung eines paternalistischen Vorgehens gegen den hijab den Weg für ein sehr viel breiteres Spektrum an staatlichen Eingriffen öffnen, als wir hinzunehmen bereit sind.

Fassen wir diese Argumente zusammen, so zeigt sich, daß ein Verbot des Schleiers zur Verteidigung der künftigen Autonomie der Mädchen, die von kulturellem Zwang in ihren Familien bedroht sind, aus einer Reihe von Gründen ungerechtfertigt ist. Erstens sind solche Maßnahmen unfair, denn die paternalistischen Eingriffe richten sich nicht gegen vergleichbare fami­liäre Entscheidungen zur religiösen und kulturellen Erziehung, wenn diese von Angehörigen der Mehrheit getroffen werden. Zweitens sind sie unan­gemessen, denn wir haben keinen Grund zu glauben, daß solche Eingriffe dem erklärten Zweck der Befreiung von einer unterdrückerischen Kultur zugute kommen. Und schließlich sprechen pragmatische Gründe gegen sie, denn sie würden die Reichweite möglicher Regierungseingriffe über jede in liberalen Demokratien akzeptable Schwelle hinaus vergrößern.

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